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Ein paar Tage später flog Chris zurück in die Staaten. Uns hatte das WG-Leben wieder, wobei mir durchaus auffiel, dass seit jenem Wochenende ein neuer Wind bei uns wehte. Nicht, dass wir öfter miteinander stritten als früher, das nicht. Aber jeder Handlung schien nun eine besondere, nicht mehr umkehrbare Bedeutung zuzukommen, und das machte das Zusammenleben nicht einfacher.
Carolin zog mit ihren letzten Sachen zu ihrem neuen Freund. Einmal brachte sie ihn mit, aber wir hatten uns nichts zu sagen, und da mir der Typ im Ganzen unsympathisch war, machte ich mir gar nicht erst die Mühe, mir seinen Namen zu merken. Marie war im Umgang mit ihm etwas diplomatischer, aber auch sie mochte ihn nicht besonders, und so blieb es bei diesem einen Besuch.
Armin hatte ich schon eine Ewigkeit nicht mehr zu Gesicht bekommen, aber er fehlte mir auch nicht unbedingt. Es gehe ihm nicht besonders gut, meinte ein gemeinsamer Bekannter, den ich in der Mensa traf.
Auch Marie zog sich an manchen Tagen von mir zurück. In winzigen Bewegungen schien sie mich abzustreifen wie einen alten Mantel. Nach wie vor unternahmen wir viel zusammen, die Tage verliefen ohne besondere Krisen, an den meisten wurde gelacht. Und doch nagten inzwischen Zweifel an mir. Ich kam mir manchmal vor wie ein Todgeweihter, dem man eine letzte Gunst gewährt, weil man weiß, dass er sowieso bald sterben wird.
Caro meinte am Telefon, ich bilde mir das nur ein und solle mich nicht in irgendwelche Ideen verrennen. Und überhaupt, wenn Marie nicht mehr mit mir zusammen sein wollte, wäre sie längst abgehauen. Vielleicht hatte sie ja Recht. Ich nahm mir vor, die Dinge nicht so negativ zu sehen.
Eines Abends hatten wir im Rahmen einer längeren Diskussion über Jochen geredet, und es stellte sich heraus, dass Marie ihn seit Wochen nicht mehr gesehen hatte. Dies und die Tatsache, dass sie den Scherz mit dem Abführmittel lustig gefunden hatte, versöhnten mich wieder mit der Welt und suggerierten mir, dass am Ende alles gut würde.
Der Verlag hatte sich bereit erklärt, mir bei der Wohnungssuche behilflich zu sein. Am Wochenende fuhren Marie und ich nach Dortmund und trafen uns mit einem der Zeichner, der mir den Kleinanzeigenteil in die Hand drückte.
„Carlos“, stellte er sich vor, „wie der Kater. Ich hab schon die Termine für euch ausgemacht, ihr müsst euch die Wohnungen nur noch angucken.“
„Kommst du nicht mit?“
„Sorry, keine Zeit. Aber ich hab euch nen Stadtplan beigelegt, ist alles eingezeichnet.“
Er hatte uns ein ziemlich strammes Programm gesteckt, auf dem Rand der Zeitung standen mindestens ein Dutzend Adressen. Das ganze Wochenende über besichtigten wir Wohnungen, unterhielten uns zwischen Umzugskisten und in Schlafzimmern mit den Mietern, ließen uns von Vermietern die jeweilige Hausphilosophie erklären und uns belehren, dass Parken auf dem Bürgersteig asozial sei. Einer wollte anscheinend nur zölibatär lebende Singles, ein anderer nur Ehepaare als Mieter, das Übliche halt.
Ein weiteres Wochenende und sechs Ortstermine später entschied ich mich für eine erstaunlich günstige, nagelneu hergerichtete Vierzimmerwohnung unterm Dach. Die vielen Schrägen seien der Grund dafür, dass sie noch frei und die Miete so gering sei, meinte der Vermieter, heutzutage bräuchten ja alle Leute Platz für ihre Schrankwände.
Marie war diesmal nicht mitgekommen, und ich fühlte mich unkomplett. Bevor ich wieder zurückfuhr, traf ich mich auf einen Kaffee mit Carlos, der gleich um die Ecke wohnte und mir anbot, beim Umzug zu helfen.
„Wo hast du deine Freundin gelassen?“
Ich zuckte die Achseln. „Sag mal, wie lange bist du eigentlich schon beim Verlag?“
„Weiß nicht. Vier, fünf Jahre ungefähr.“
„Und wie sind die Leute dort? Gibt’s ne Hackordnung oder so was?“
Er zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich im Stuhl zurück. „Ich wäre vorsichtig mit Daumenhauer, der trägt seinen Namen nicht zu Unrecht. Der Rest ist in Ordnung. Wird dir gefallen, sind eigentlich alle gut drauf.“
Seine Freundin schälte im Hintergrund Kartoffeln und nahm kaum Notiz von uns. Ich dachte zuerst, sie sei vielleicht taubstumm oder so, bis sie uns in schroffem Ton bat, uns zum Rauchen doch wenigstens ans Fenster zu setzen. Sie war noch sehr jung, aber ihr Auge schien schon das ganze Leid dieser Welt gesehen zu haben. Irgendwie fühlte ich mich an das Foto einer Trümmerfrau erinnert, das ich vor Jahren in einer Ausstellung über die Nachkriegszeit gesehen hatte.
Ich wollte mir eins der verschrumpelten Äpfelchen nehmen, die in einem Korb auf dem Küchentisch lagen, aber in dem Moment hob sie den Kopf und sah mich mit einer Strenge an, die meinen Hunger in schlechtes Gewissen verwandelte. Sie brauchte den Apfel sicher nötiger, also legte ich ihn zurück und verabschiedete mich lieber.
An einer Straßenbude aß ich eine Currywurst und dachte über Marie nach. Ein Schmetterling landete genau auf meiner Schulter, es war ein Zitronenfalter. Er klimperte unschuldig mit den Flügeln, und ich flirtete zurück. Ich hätte ihn gerne Marie gezeigt, aber an den klebrigen Plastiktischen standen nur die üblichen Imbisstypen herum. Irgendwas lief schief in meiner Welt, und ich hatte keinen Schimmer, was ich dagegen tun konnte.
Carlos und seine Trümmerfrau kamen mir in den Sinn, doch das tröstete mich kein bisschen. Vielleicht waren beide ja glücklicher miteinander, als es den Anschein hatte, vielleicht hatte sie auch nur einen schlechten Tag. Ihre Laune konnte eine Million Gründe haben: Migräne, ihre Tage, ein eingerissener Fingernagel, Verdacht auf Zellulitis, was weiß ich, schließlich war sie eine Frau. Wie auch immer, das alles brachte mich bei Marie auch nicht weiter.
Noch am selben Abend war Schluss. Dabei hatte ich mir vorgenommen, in die Offensive zu gehen und sie doch noch irgendwie dazu zu überreden, mit mir zu kommen. Also kaufte ich unterwegs ein paar Blumen, Antipasti und eine irre teure Flasche Burgunder.
Marie war noch nicht zu Hause, was mir Gelegenheit bot, die Wohnung mit Hilfe einer Hundertschaft Teelichter in ein Flammenmeer zu verwandeln. Wie alle Mädchen mochte sie es romantisch, nur den Stehgeiger sparte ich mir, ich wollte schließlich allein sein mit ihr.
Ich war eingeschlafen und schreckte hoch, als sie die Tür aufschloss. Ein großer Teil der Teelichter war bereits heruntergebrannt, der Radiowecker neben meinem Bett zeigte 23:44 an. Marie kam ins Bild, auf Zehenspitzen. Ihr Blick wanderte von den Kerzen zu mir herüber.
„Hi“, sagte ich und rieb mir die Augen.
„Hi. – Was ist das?“ Sie wies auf den Wein.
„Ein romantischer Abend. Ich hab uns auch was zu essen mitgebracht.“
„Fein, ich sterbe vor Hunger – wenn ich nicht vorher am Kohlenmonoxyd ersticke.“
Die Luft im Zimmer war in der Tat zum Schneiden. Sie öffnete das Fenster und ließ den Kerzenrauch raus, ehe sie sich zu mir legte.
„Wo zum Geier hast du gesteckt?“, fragte ich sie, während wir uns gegenseitig mit Antipasti fütterten.
„Hab mich mit ein paar Leuten von der Uni getroffen, anschließend waren wir noch was trinken. Danach musste ich ins Studio, dann hab ich Jochen Hallo gesagt und war noch bei Caro.“
„Du warst bei Jochen?“
„Ja.“
„Aha.“ Mir war nicht wohl bei dem Gedanken. „Und, was macht sein Bein?“
„Letzte Woche haben sie den Gips entfernt. Alles wieder in Ordnung.“
„Alles?“, versuchte ich sie aufzuziehen. Sie schaute mich beim Kauen mit ausdruckslosem Gesicht an, sagte aber nichts.
„Und was war bei Caro?“
„Nichts Neues“, sagte Marie. „Sie arrangiert sich.“
„Klingt toll. War ihr Freund auch da?“
„Nee, er hatte Schicht. Die beiden haben sich ein neues Sofa gekauft.“ Sie trank ihr Glas aus. Der Burgunder schien ihr zu schmecken, die Flasche war fast leer.
„Was für ein Sofa?“
Sie seufzte und streckte sich auf dem Bett aus. „Alex, ich bin hundemüde. Können wir nicht morgen darüber reden?“
„Wir müssen ja nicht über Caros Sofa reden.“ Ich ließ meine Hand über ihren Bauch wandern. „Ehrlich gesagt, fallen mir da auf Anhieb tausend anregendere Dinge ein.“
„Au!“, rief sie und schob meine Hand weg, „nicht auf den Bauch drücken! Ich hab mich total überfressen.“
„Ich wüsste ein gutes Gegenmittel, um zu verhindern, das die Kalorien ansetzen“, sagte ich, während meine Finger ihren Rock hochschoben.
„Alex!“ Sie versuchte meine Hand abzuschütteln.
„Hm?“ Ich erreichte gerade ihr Dreieck und wollte weiter vordringen, aber sie kniff die Beine zusammen.
„Ich hab keine Lust.“
Ganz langsam sickerte die Erkenntnis in mein Hirn, dass etwas ganz gehörig nicht stimmte. Nicht, dass sie nicht wollte, das wäre okay für mich gewesen. Den Knutschfleck auf ihrem Oberschenkel hatte ich in dem Kerzenlicht nur eine Sekunde gesehen, aber ihre Schamhaare fühlten sich an wie Draht, und das, was daran klebte, stammte eindeutig nicht von ihr.
Ich bekam kein Wort raus und hielt ihr stattdessen die Hand in der Hoffnung hin, sie habe irgendeine Alternative zur einzig möglichen Erklärung auf Lager, und sei sie auch noch so abgefahren. Doch sie schlug nur die Augen nieder. Bei Jochen ist alles wieder in Ordnung, ging mir durch den Kopf.
„Ach, Scheiße!“, schrie sie und stieß mich von sich. Ihr Blick war vorwurfsvoll. „Ich hab ja gesagt, dass es nicht klappt mit uns!“
„Das ist alles…?“ …was du dazu zu sagen hast, wollte ich ergänzen, doch ich brachte nur noch ein Krächzen zustande. Ein hysterisches Lachen kroch meine Kehle hoch, aber ich kämpfte dagegen an. Das musste einer dieser Momente sein, in dem Menschen auf einen Schlag weiße Haare kriegten.
Alles Weitere wurde mir erst am nächsten Morgen bewusst, als sei ich nicht dabei gewesen und hätte die Geschichte erzählt bekommen. Vermutlich begann ich mit der Ohrfeige, vielleicht kam sie auch erst später. Ich erinnere mich daran, dass ich Marie an den Schultern packte und versuchte, diesen Scheiß-Jochen aus ihr herauszuschütteln, und dass sie schrie wie am Spieß. Dass ihr Knie mir einen fiesen Tritt in den Magen verpasste und ich beim Versuch, sie einzuholen, auf einem der Teller ausrutschte.
Dann war sie aus der Tür raus, und alles, was ich noch weiß, ist, dass ich im Slip auf der Straße stand, bekleckert mit Olivenöl, und meine Nachbarin, die ihren Hund Gassi führte, mir aus Verlegenheit einen guten Abend wünschte.