12

 

„Was ist los? Bist du krank oder so was?“

„Wieso?“, fragte ich und folgte Leos Blick. Er tat, als habe er noch nie einen Single in Jogginghosen gesehen.

„Hast du schon mal auf die Uhr geguckt? Es ist halb acht, die anderen warten auf dich.“

Ich überlegte. „Helge?“

„Ganz genau. Bist’n pfiffiges Kerlchen. Also, was ist jetzt?“

„Ich hab’s total verpennt“, sagte ich, „sorry.“

„Von wegen sorry. Zieh dich an, und dann los!“

„Sag ihm doch einfach, ich hätte ne Grippe oder so. Ich hab nicht mal ein Geschenk und bis ich jetzt umgezogen bin...“

„Ich geb dir drei Minuten, dann bist du fertig.“

Ich kannte ihn, er konnte unerbittlich sein. Draußen hupte ein Auto.

„Zwei Minuten“, verbesserte er sich. „Mach hin, du kannst dich an unserem Geschenk beteiligen!“

Es hatte keinen Sinn. Ich fügte mich und sprang in die Klamotten vom Vorabend, die ich zum Lüften auf den Balkon gehängt hatte. Sie waren frostkalt und rochen noch immer nach Rauch, aber auf Helges Geburtstagsparty würden sie sich schnell heimisch fühlen.

In dem Auto saßen bereits einige Mädchen, die ich nicht kannte. Da sie sich offensichtlich selbst genügten und kaum Notiz von mir nahmen, machte ich mir erst gar nicht die Mühe, mir ihre Namen zu merken. Die ganze Fahrt über schwatzten sie munter hin und her, ich bereute bereits, mitgekommen zu sein.

„Bleib locker, Mann“, meinte Leo, der mich im Rückspiegel musterte.

Ich hatte einen beschissenen Tag hinter mir. Irgendwie hatte ich bereits eine Vorahnung gehabt, jedenfalls war ich nach einer allzu kurzen Nacht extra eine halbe Stunde früher aufgestanden, um pünktlich im Laden zu erscheinen. Dennoch war ich erst kurz vor neun da, meinem offiziellen Arbeitsbeginn.

Erwartungsgemäß war mein Chef nach der Aktion mit dem Gebietsleiter vom Vortag äußert mies gelaunt und ließ seinen Frust darüber an mir aus. Es war einer dieser Rutsch-mir-sonst-wo-runter-Tage, an denen man lediglich den Befehlsempfänger geben kann, wenn einem der Job was wert ist. Zum x-ten Mal nahm ich mir vor, am Wochenende über Alternativen nachzudenken.

Den ganzen Vormittag über spazierten alle möglichen Leute im Laden herum und hielten mich von der Arbeit ab. Ich kannte das schon, akute Kaufunlust. Ein typisches Samstagvormittagphänomen, bei dem Leute, die nichts Besseres vorhatten, anderen Leuten, die arbeiten mussten, auf die Nerven gingen. Kurz vor Torschluss hatte mich noch meine zickigste Kundin heimgesucht. Sie drangsalierte mich so lange mit Rahmenwünschen für ihre muffigen Gobelins, bis ich sie regelrecht aus dem Laden kehrte.

Die anderen waren schon fast alle da, als wir eintrafen. Die Bude war gerammelt voll, eine dieser Altbauwohnungen mit irre hohen Stuckdecken, die man normalerweise für WGs nutzt, weil sie für einen alleine zu teuer sind.

„Hallo, wie geht’s?“ Helge strahlte uns an und drückte mich, der ich voran ging, an seine Brust.

„Super“, sagte ich müde und sah mich um. „Ne schöne Wohnung hast du da.“

„Danke, aber hier drin darfst du nichts verlieren, nicht mal deine Freundin. Könnte sonst sein, dass du sie erst in ein paar Monaten wiederfindest. Ich verlauf mich heute noch.“

„Schon mal mit Brotkrumen versucht?“, versuchte ich einen Scherz, aber er ging in dem allgemeinen Begrüßungsprozedere der anderen unter. Ich verzog mich unauffällig in den nächsten Raum.

Dass Helge ganz alleine in diesem Palast wohnte, machte ihn in meinen Augen nicht zu einem schlechten Menschen, obwohl einige der Anwesenden sicherlich anders darüber dachten. Er verdiente bloß unmäßig in einer dieser Medienagenturen, die wie Pilze aus dem Boden schossen und deren Angestellte einem nie so recht erklären konnten, worin ihre Arbeit eigentlich bestand. Ich mochte ihn, sympathischerweise bedeuteten ihm weder die Arbeit noch die Kohle allzu viel, und wenn mir eines dieser hauchdünnen Designer-Gläser in der Hand zersprungen wäre, die fein säuberlich aufgereiht auf dem Gabentisch standen, hätte er kein Wort darüber verloren.

Dennoch waren wir eher flüchtige Bekannte und sahen uns nur gelegentlich. So nett er auch war, so unwohl fühlte ich mich zwischen all den Hornbrillenträgern aus seiner Agentur. Die Frauen waren Spitze, hingen aber gerade alle am Arm oder den Lippen von irgendeinem Typen. Ich hielt mich da lieber an das üppige Büffet, da wusste ich wenigstens, wo ich dran war.

Leo und die Mädchen hatte ich inzwischen aus den Augen verloren. Ich behielt mir die Möglichkeit vor, später irgendeinen von den Gästen um eine Fahrgelegenheit anzuhauen. Früher hatte ich solche Partys immer frühzeitig verlassen, aber mittlerweile wusste ich, dass es sich lohnen konnte, ihnen eine zweite Chance zu geben. Ich beschloss also, erstmal abzuwarten, stapelte eine Handvoll Häppchen auf meinem Teller und setzte mich mit einer Flasche exzellenten Weißweins in die hinterste Ecke der Küche.

„Wo geht’s denn hier zum Klo?“ Ich musterte den Kerl, der vor mir stand, ganz offensichtlich einer aus Helges Agentur. Er sah bis ins Detail seines Cordjäckchens schwer nach siebziger Jahre aus, Retro-Look nannte man das wohl.

„Ins Treppenhaus raus, zweite links“, sagte ich, um ihn loszuwerden. Wortlos machte er kehrt und steuerte den Hausflur an. Sollte er doch selbst rausfinden, ob’s überhaupt irgendwelche Türen im Treppenhaus gab, ich war schließlich auch zum ersten Mal hier. Da machten diese Typen ein Wahnsinns-Tamtam um irgendwelche schlauen Sprüche, aber nach Feierabend leiteten Sie Gespräche mit „Wo geht’s denn hier zum Klo?“ ein.

Allmählich füllte sich die Küche mit Gästen. So ging’s mir immer, wenn ich mal ein nettes, ruhiges Plätzchen gefunden hatte, war der Typ, der einem auf die Eier gehen wollte, garantiert nicht weit. Ich war schon daran gewöhnt, meine Sandburg immer wieder aufs Neue zertrampelt zu bekommen, und wusste, dass es sinnlos war, dagegen anzugehen. Also schnappte ich mir mein Glas und nahm den Rest der Wohnung in Augenschein.

Dort hatten sich die Reihen deutlich gelichtet, man konnte endlich mal was von den Möbeln sehen. Das Wohnzimmer fand ich etwas klein dimensioniert, bis ich dahinterkam, dass Helge sich ein eigenes Lesezimmer leistete und sich das eigentliche Wohngemach dahinter befand. Fünf Typen saßen dort auf den Sofas herum und ödeten sich an. Ich gebe zu, es muss nicht unbedingt von Vorteil sein, wenn man auf solchen Partys jemanden kennt.

Auf der anderen Seite des Ganges lagen zwei verschlossene Türen ohne Aufschrift, messerscharf folgerte ich, dass sich dort das Badezimmer befinden musste. Ich öffnete die erste und stand in Helges Schlafzimmer. Auf dem Futonbett türmten sich die Mäntel der Gäste, ansonsten waren da ne Menge teuer aussehender Schränke und ein Flickenteppich von Ikea. Ich schloss die Tür wieder und versuchte es mit der nächsten.

Es war abgeschlossen. Da ich schon mal da war, schnorrte ich mir von einem der Vorbeikommenden eine Zigarette und wartete. Es gab ne Menge Wände zum Dekorieren, Helge hatte sein Bestes gegeben und dutzendweise Plakate von Musicals und Filmen, Ausstellungen moderner Kunst und so weiter aufgehängt, aber trotzdem klafften überall dazwischen riesige Lücken.

Leo kämpfte sich zu mir durch.

„Na, amüsierst du dich auch schön?“, wollte er wissen.

„Ich hätte mir hinten reingebissen, wenn ich heute Abend nicht hätte hier sein können.“

„Siehste, verdankst du alles mir!“ Er lachte.

„Hast du deine Mädchen verloren?“

„Keine Ahnung, wo die sind. Wahrscheinlich haben sie sich irgendwo festgequatscht. - Haste ne Zigarette für mich?“

„Hab selbst geschnorrt.“ Ich hielt ihm meine Kippe hin, und wir rauchten sie gemeinsam weiter. „Ich glaub, ich werd nicht alt hier.“

„Zu viele Hornbrillen?“, fragte er.

Tja.“

„Ich werd mal mit den Mädels reden, vielleicht fahren wir ja auch bald.“ Leo wandte sich zum Gehen.

„Wart mal, was kriegste eigentlich von mir?“

„Wegen dem Geschenk? Gib mir nen Zehner, dann sind wir quitt.“

„Was hab ich Helge eigentlich geschenkt?“, fragte ich.

„Nen Milchaufschäumer.“

„Mit fünf Mann? Ist das nicht ein bisschen mickrig als Geschenk?“

„Jetzt beschwer dich nicht, wir haben im Gegensatz zu dir immerhin ein Geschenk besorgt! Außerdem ist das Ding aus Edelstahl und hat irgendeinen Designpreis gewonnen.“

„Wir hätten ihm ein Playboy-Abo kaufen sollen. Die Wohnung könnte ein paar Poster vertragen.“

Beim nächsten Mal vielleicht.“ Er verschwand mit meiner Zigarette.

Hinter der Tür regte sich immer noch nichts. Ich legte mein Ohr ans Türblatt und lauschte, aber drinnen war es totenstill. Womöglich wartete ich darauf, dass die Besenkammer frei wurde.

„Hallo?“, rief ich und klopfte an die Tür.

„Einen Moment!“, kam als Antwort. Ich trank in Ruhe mein Glas aus, dann wurde innen der Schlüssel umgedreht, und ein blass aussehendes Mädchen erschien im Türrahmen. Irgendwas mit ihrer Frisur schien nicht zu stimmen, ihre rostroten Haare standen in alle Richtungen.

„Tschuldigung“, sagte sie schüchtern und huschte davon. Ich betrat das Badezimmer, verriegelte die Tür und sah mich nach Spuren von Drogen um. Ich hoffte nur, die Kleine hatte sich hier keinen Schuss gesetzt, Spritzen konnte ich auf den Tod nicht ausstehen. Vielleicht war sie ja auch magersüchtig und hatte sich mal eben den Finger in den Hals gesteckt, wer kannte sich da heutzutage noch aus?

Die Tatsache, dass ich nicht fündig wurde, beruhigte mich etwas. Ich setzte mich zum Pinkeln aufs Klo und bewunderte die Badewanne, die aussah, als stamme sie aus Napoleons Nachlass. Es handelte sich um eines dieser freistehenden Modelle mit Messingfüßen und Porzellanarmaturen, ein echtes Schmuckstück. Ich mochte zwar nicht wissen, wie es sich darin duschen ließ und welche Überschwemmungen der Wohnung man damit in Kauf nahm, aber rein optisch war das allererste Sahne, das musste man Helge schon lassen.

Ich nahm probehalber darin Platz. Das Ding stand auf einem Podest in einer Art Erker, ringsum waren Fenster. Aber da die Wohnung im dritten Stock lag und auf einen Garten hinausging, konnte einem keiner was von gegenüber abgucken wie in meinem eigenen Bad.

Im Wohnzimmer traf ich auf Helge und machte ihm ein paar Komplimente wegen des Palastes, aber eigentlich entsprang das eher meiner Verlegenheit, nicht recht zu wissen, worüber man sich mit ihm eigentlich unterhalten konnte. Unsere Interessen lagen ziemlich weit auseinander, und bei den vorangegangenen Gelegenheiten war es mir nicht gelungen, mehr über ihn herauszufinden, als dass er ein netter Kerl war.

Wir plauderten also eine Weile, bis ihn eine ziemlich gut aussehende Frau beiseite zog. Ich gesellte mich zu einer Gruppe von Leuten, die sich lebhaft über eine Fernsehserie unterhielten.

„Aber als dann rauskam, dass Angel auch schon mal was mit diesem Typen hatte...“, sagte einer.

„Oh Gott, war das peinlich!“, meinte eine Frau, die auf dem Sofa saß. „Und wie die beiden dann seine Geräusche beim Sex nachmachten…“

„Ich find ja, die Serie dreht sich viel zu viel um Sex“, bemerkte ein anderer, „man hat doch das Gefühl, die können nicht mal einen Passanten nach dem Weg fragen, ohne mit ihm ins Bett zu gehen. Ich finde das krank.“

„Aber darum geht’s doch im Leben“, mischte sich ein Mädchen ein, das auf dem Schoß seines Freundes hockte. „Normalerweise geben die Männer im Bett den Ton an. Und diese Frauen zeigen den Kerlen mal so richtig, wo’s lang geht.“

„Indem sie mit ihnen ins Bett steigen?“, fragte jemand mit zweifelndem Unterton.

„Nein, indem sie die Initiative übernehmen. Sie nehmen die Dinge in die Hand und entscheiden selbst, wann sie mit wem ins Bett gehen und wann nicht.“

„Na, komm“, meinte ihr Freund, „als ob ich dich jemals gezwungen hätte! Wie hört sich das denn an?“ Alle lachten.

Das ist ja auch gar nicht die Frage. Diese Frauen verkörpern die Emanzipation im 21. Jahrhundert, nur dass sie sich eben nicht verklemmt geben wie früher, sondern aufgeschlossen und sexy.“

„Aber das Ergebnis bleibt doch das gleiche, oder?“, fragte der Zweifler.

„Was meinst du?“

„Na, die Männer kriegen sie doch trotzdem ins Bett, egal, von wem nun die Initiative ausgegangen ist. Oder?“

Ich zog es vor, die traute Runde an dieser Stelle zu verlassen und mein Glas in der Küche mit dem guten Weißen zu füllen, den ich sicherheitshalber im Vorratsschrank deponiert hatte. Allmählich näherte ich mich dem Level, ab dem mir das ganze Drumherum egal wurde. Mit Verlaub, so etwas musste auch mal gestattet sein, wenn man einen einsamen Typen wie mich mit seinen Gedanken alleine ließ.

„Hey, lach doch mal!“, hörte ich neben mir Helge sagen, und im nächsten Moment lag seine Pranke auf meiner Schulter. In der Tat, er hatte unverhältnismäßig große Hände, so was fiel mir nur auf, wenn ich getrunken hatte. Dabei hätte er damit ganze Bürotürme zum Einsturz bringen können, statt sich darin einsperren zu lassen. Eine Verschwendung war das.

„Ha, ha“, meinte ich und prostete ihm zu.

„Langweilst du dich?“, fragte er.

„Nein, nein, ich mach nur mal ne Pause.“

„Oh, dann will ich dich mal nicht stören. Ich hatte eben nur vergessen zu sagen, dass heut Abend mein-“

Ein ernst blickender Typ trat an ihn heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

„Ist gut, ich komme“, sagte Helge zu ihm. „Hör mal, Alex, ich muss dir nachher unbedingt noch meinen Agenturchef vorstellen. Du bleibst doch noch?“

„Ja, mal sehen.“

Er verschwand wieder in der Menge, und ich überlegte, was ich tun sollte. Die Leute hier interessierten mich nicht die Bohne. Ich hatte meine Pflicht erfüllt und mich blicken lassen, und ich fühlte mich zu schlapp, um weiter zu trinken oder mich mit Agenturchefs zu unterhalten. Das Beste war, Leo zu suchen und mich heimfahren zu lassen.

Im Flur lief mir der Typ mit dem Cordjäckchen über den Weg. „Das Klo ist gar nicht im Treppenhaus“, meinte er und hielt sich am Türrahmen fest, „‘s is hier drüben.“

„Danke für den Tipp“, antwortete ich und machte, dass ich Land gewann. Der Kerl war ziemlich bleich um die Nase und sah aus, als ob er jeden Moment kollabieren würde.

Endlich fand ich Leo. „Ich will ja nicht drängeln, aber wie sieht’s denn aus, fahrt ihr bald?“

„Du, ich hab die Mädels noch nicht gefragt, aber sieh dich doch mal um, ob du sie findest.“

„Ist gut.“ Das war es natürlich nicht. Ich konnte mir schon denken, was die mir erzählen würden. Wahrscheinlich unterhielten sie sich wunderbar und dachten überhaupt nicht daran, mir zuliebe die Heimfahrt anzutreten.

Vom Apparat im Schlafzimmer aus rief ich mir ein Taxi und suchte in dem Kleiderberg auf dem Bett nach meiner Sommerjacke. Im Wohnungsflur herrschte Tumult. Die Tür zum Badezimmer stand offen, und während ich mich zur Haustür durchkämpfte, konnte ich einen Blick auf den Hintern des Cordjacken-Typs werfen, der vor Helges Napoleon-Wanne kniete und sich die Seele aus dem Leib kotzte.

 

Die Temperatur draußen war erstaunlich mild, fast frühlingshaft, und die frische Luft tat mir gut. Ich sog sie tief ein und setzte mich auf die unterste Treppenstufe, um auf mein Taxi zu warten. Schade, dass ich das Rauchen mal wieder aufzugeben versuchte. Eine Zigarette hätte perfekt zu diesem Augenblick gepasst. Aber ich hatte dieser Tage meine letzten verschenkt und keine Lust, noch einmal reinzugehen und eine weitere zu schnorren.

Trotz der geschlossenen Fenster drangen die Musik und das Stimmengewirr an mein Ohr, aber da war noch etwas, ein Ton, der nicht von drinnen kam. Ich stand auf und ging um das Haus herum. Hinter der nächsten Ecke hockte ein Mädchen auf der Schwelle zum Seiteneingang und weinte.

„Hallo?“ Ich kam ein paar Schritte näher. Das Mädchen hob den Kopf, ich erkannte sie an ihren roten Haaren und dem blassen Gesicht. Es war dieselbe, die eben vor mir aus der Toilette gekommen war.

„Wer bist du?“, fragte sie und schniefte. In ihrer Hand hielt sie ein Riesenknäuel zerdrückter Taschentücher, ich kramte ein frisches hervor und hielt es ihr hin.

„Ich bin Alex, ich war auch auf der Party“, erklärte ich, während sie sich die Nase putzte. Sie nickte nur, und ich stand neben ihr, unschlüssig, was ich tun sollte.

„Du kannst Mario sagen, dass ich nicht zurückkomme“, meinte sie leise, ohne aufzusehen.

„Wer ist Mario?“

„Hat er dich nicht geschickt?“

„Ich kenne ihn überhaupt nicht“, sagte ich.

„Was machst du dann hier?“

„Ich warte auf mein Taxi.“

Mehr wollte sie nicht wissen, ich setzte mich zu ihr. Sie zitterte am ganzen Leib.

„Ist dir kalt?“, fragte ich.

„Ein bisschen.“

„Wie lange sitzt du denn schon hier draußen?“

„Keine Ahnung“, meinte sie, „eine ganze Weile jedenfalls.“

„Willst du meine Jacke?“ Marie kam mir in den Sinn, für den Bruchteil einer Sekunde nur, und ich schwor mir, diesmal besser Acht zu geben.

„Danke.“

„Stell dich nicht so an, du holst dir sonst den Tod.“ Ich zog meine Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern. Ihr Widerstand hielt sich in Grenzen.

„Danke“, wiederholte sie und lächelte. Dann schwiegen wir wieder, was mir nur recht war. Ich horchte in die Dunkelheit hinein, aber außer dem Partylärm drang kein Laut an mein Ohr, wir waren ganz allein hier draußen. Irgendwann bemerkte ich, dass das Mädchen neben mir schon wieder zitterte und nach Taschentüchern kramte.

Ich weiß nicht wieso, aber ich verspürte plötzlich einen Drang, sie allein zu lassen auf ihrem Treppenabsatz. Vielleicht wäre das sogar rücksichtsvoll gewesen, aber ich wusste, dass dieser Wunsch eigentlich ganz egoistischer Natur war. Ich hatte einfach keine Lust auf noch mehr Probleme.

Dass ich trotzdem blieb, hing damit zusammen, dass ich in dieser Situation ein Gefühl der Solidarität für dieses blasse Mädchen empfand. Außerdem machten mich ihre roten Haare an, im Licht der Straßenlaterne sah sie aus wie eine traurige Medusa.

Ist Mario dein Freund?“, fragte ich, als sie sich wieder beruhigt hatte. Sie sah kurz zu mir rüber und nickte, während sie das Taschentuch in klitzekleine Fetzen riss.

„Ich würd dir ja gerne Mut machen, aber ich fürchte, dazu fehlt mir im Moment selbst der rechte Schwung.“

Sie schenkte mir einen schrägen Blick. „Du nimmst mich auf den Arm.“

„Nein, wirklich nicht. Warum sollte ich?“

„Jedenfalls ist das der blödeste Spruch seit langem.“

„Jaja, schon gut“, meinte ich, „so etwas krieg ich ständig zu hören, ich bin halt nicht so wahnsinnig originell.“

„Das stimmt.“ Sie wischte sich die Augen mit dem Saum meiner Jacke trocken.

Dann sind wir uns ja einig. Hast du einen Namen?“

Silvia.“

Alex“, sagte ich und gab ihr die Hand. „Was willst du jetzt machen? Gehst du wieder rein?“

Sie schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall. Ich werd mir auch ein Taxi rufen.“

„Meins müsste gleich kommen. Ich kann dich mitnehmen, wenn du willst.“

„Nein, lass mal.

Ist schon in Ordnung.“

„Wirklich?“, fragte sie.

„Ich würd’s dir sonst nicht vorschlagen. Außerdem haben sie mir am Telefon gesagt, sie seien wegen Sting total überlastet und ich solle froh sein, überhaupt ein Taxi zu kriegen.“

Sting?“

„Ja. Er gibt heut Abend ein Konzert in der Stadt.“ Ich wusste das, weil Christian gerne mit mir hingegangen wäre, Sting fehlte ihm noch in seiner Autogrammsammlung. Wegen einer Terminverschiebung würde Chris aber erst in einigen Wochen wieder nach Deutschland kommen. Ich war darüber nicht unglücklich gewesen. Stings aktueller Minnegesang war nicht so mein Ding, obwohl ich seine älteren Sachen durchaus mochte.

Wir verbrachten fünf weitere Minuten auf der Schwelle des Seiteneingangs. Irgendwann begann sie erneut zu weinen, und als sie sich gegen mich lehnte, wehrte ich mich nicht.

Das Taxi kam, um ein Haar hätten es uns ein paar Typen aus Helges Agentur weggeschnappt, die gerade die Party verließen.

„Was ist mit deiner Jacke?“, fragte ich Silvia. „Ich meine, du brauchst doch sicher deine Schlüssel, deine Tasche und so was?“

„Ich hab keine Tasche. Außerdem geh ich da nicht rein“, sagte sie vom Rücksitz aus mit einer Bestimmtheit, die keinen Zweifel übrig ließ.

„Was ist nun?“, meinte der Typ hinterm Steuer. „Die Uhr läuft.“

„Okay, ich hol deine Jacke. - Und Sie bleiben hier stehen, bis ich wieder da bin!“

„Ist ja Ihr Geld “, brummte er. Ich ließ mir von Silvia die Jacke beschreiben und läutete bei Helge.

„Hey, dich kenn ich doch!“, rief er, als er die Tür öffnete.

„Hab was vergessen“, sagte ich und zwängte mich an ihm vorbei.

„Wie sieht’s aus, trinkst du ein letztes Bier mit mir?“

„Nee, draußen wartet mein Taxi. Ich muss nur schnell ne Jacke finden.“

„Ich helf dir“, meinte Helge. „Wie sieht sie denn aus, deine Jacke?“

„Dunkelbraun mit nem Federkragen. - Ah, ich glaub, ich hab sie!“

„Gewagtes Design.“

„Man muss halt mit der Mode gehen“, sagte ich.

„Was ist mit meinem Chef?“, rief er mir nach.

„Keine Zeit mehr. Ein andermal.“

Draußen dieselte das Taxi vor sich hin und stieß Nebelwölkchen in die sternklare Nacht hinaus. Silvia hatte offenbar wieder geweint. Ich ließ sie in Ruhe und legte die Jacke zwischen uns auf die Rückbank.

„Wohin soll’s gehen?“, fragte der Fahrer.

Ich gab Silvia ein Zeichen, und sie nannte ihm ihre Adresse. Zum Glück gehörte der Typ zu den Schweigsamen, nur die Funksprüche aus der Leitzentrale nervten ein bisschen auf unserer Fahrt durch die verwaiste Stadt. Der Taxifahrer summte leise eine Melodie vor sich hin, ich betrachtete mir das Armaturenbrett, auf dem ein gerahmtes Familienfoto und daneben ein vergilbter Herr-der-Ringe-Sticker klebten.

In dieser Ecke der Stadt war ich noch nicht sehr oft gewesen. Ich kannte hier keinen Menschen, außerdem bestand das ganze Viertel aus Einbahnstraßen und Sackgassen, ein echter Horror für jeden freiheitsliebenden Menschen. Sogar Kopfsteinpflaster gab es noch und alte Straßenbahnschienen, man hätte meinen können, die hätten das alles für einen Film aufgebaut.

Wir hielten vor einem freundlich aussehenden Altbau, Silvia schien sich nicht sicher zu sein, ob sie aussteigen solle.

„Alles klar mit dir?“, fragte ich.

Sie nickte und förderte etwas Kleingeld aus ihrer Hosentasche zu Tage. „Was macht das?“

„Elfzwanzig“, sagte der Fahrer. Ich schnappte mir ihre Jacke und stieg mit ihr aus.

„Wollen wir tauschen?“

„Schade“, meinte sie, „die hier ist gerade angewärmt.“

Lass sie an, ich bring dich noch zur Tür.“ Ehe ich den Satz ausgesprochen hatte, fuhr das Taxi hinter mir an.

„Hey!“ Ich machte auf dem Absatz kehrt und lief ihm hinterher, aber schon bog es um die Ecke und verschwand wieder in Richtung Innenstadt.

ARSCHLOCH!“, rief ich ihm hinterher. In den Häusern rechts und links wurden Lichter eingeschaltet. Silvia stand noch immer vor dem Gittertürchen, das den winzigen Vorgarten von der Straße abtrennte.

„Kann ich noch auf einen Kaffee und nen Anruf bei der Taxizentrale mit reinkommen?“

Schätze, das bin ich dir schuldig“, lachte sie. Immerhin, ihre Laune begann sich zu bessern.

Die Wohnung lag direkt unter dem Dach, aber das machte mir gar nichts aus. Alle meine Bekannten bewohnten grundsätzlich die obersten Stockwerke, das gehörte zu meinem täglichen Fitnessprogramm.

Allerdings hatte man in Silvias Reich das Gefühl, dass sich der Weg kaum lohnte. Es gab einen kleinen Korridor, ein Wohnzimmer, das von einem hölzernen Stützpfeiler durchkreuzt wurde, eine verwinkelte Küche mit mehreren Dachschrägen, ein winziges Bad und ein weiteres Zimmerchen, dessen Tür jedoch geschlossen war.

„Setz dich, ich mach uns den Kaffee“, sagte Silvia und verschwand in Richtung Küche. Ich hangelte mich um den Stützpfeiler herum und nahm auf der Zweisitzercouch im Wohnzimmer Platz, neben der es noch einen Holzstuhl, einen tragbaren Fernseher und ein Bücherregal gab. Mich überkam ein Anflug von Klaustrophobie.

Als ich mich umdrehte und eines der Bücher aus dem Regal zog, stieß ich mit dem Ellbogen gegen etwas, das auf der Fensterbank gestanden hatte und zu Boden fiel. Es war ein Foto von Silvia und einem jungen Burschen, vermutlich diesem Mario. Sie hatten beide Skimützen auf und sahen glücklich aus. Ich stellte das Foto wieder an seinen Platz zurück, eckte am Regal an und fluchte.

„Alles klar bei dir da drin?“, rief Silvia aus der Küche heraus.

Super“, antwortete ich. „Deine Wohnung erinnert mich irgendwie an die Puppenstube meiner Cousine.“

„Wie alt ist deine Cousine?“

„Sechsunddreißig.“

Sie streckte den Kopf ins Zimmer. „Sechsunddreißig?“

„Das mit der Puppenstube war früher“, erklärte ich.

„Ach so.“ Weg war sie wieder. Aus der Küche kam das röchelnde Geräusch einer Cafetièra. Eigentlich trinke ich so spät keinen Kaffee, aber nach all dem Wein konnte er vielleicht nicht schaden. Ich unternahm einen weiteren Versuch mit dem Regal und blätterte in einem Buch mit dem Titel Die Weisheit der alten Kulturen. Gleich daneben stand ein Werk ähnlichen Kalibers, Sei eins mit dir. Zu jedem Kapitel gab’s ein ziemlich kitschiges Ruhemotiv, einen Bergsee, ein Einhorn, einen Kieselstein. Ich klappte das Ding zu und stellte es wieder an seinen Platz zurück.

Da sie nicht mehr zurückkam, ging ich zu ihr hinüber in die Küche. Sie stand vor dem Herd mit der Kaffeekanne und starrte die Wand an.

Silvia?“

Sie reagierte nicht. Ich trat neben sie, und zu meiner Überraschung schlang sie ihre Arme um mich und heulte lautlos an meiner Brust. Da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, strich ich ihr einfach nur übers Haar und wartete ab, bis sie sich wieder beruhigte. Sie fühlte sich gut und leicht an in meinem Arm, und ich ertappte mich dabei, dass ich ihre Lippen fixierte, als sie aufsah.

„Würdest du noch ein bisschen hierbleiben?“, fragte sie.

„Wie?“ Ich traute meinen Ohren nicht.

„Ich wäre bloß nicht gerne alleine jetzt, verstehst du?“

Natürlich verstand ich nicht, aber was machte das schon? Ich habe immer den Standpunkt vertreten, dass man die Dinge manchmal einfach laufen lassen sollte. Die Nacht war noch jung, das Mädchen an meiner Seite hübsch und ich in meinem Zustand zu allem bereit.

Wir machten es uns auf dem Sofa bequem. Irgendwann stand eine Flasche Wein auf dem Tisch, und ich massierte ihr die Striemen aus den Füßen, die von diesen wahnsinnigen Schuhen herrührten. Stück für Stück verschwamm die Welt um uns herum, ich fühlte mich wie in Watte gepackt. In manchen Momenten zeigt einem das Leben alle Möglichkeiten auf.

Das Telefon läutete. Es musste mitten in der Nacht sein, Silvia beachtete es nicht. Stattdessen redete sie wie ein Wasserfall über sich, ihren Freund, frühere Gemeinsamkeiten und über eine Reihe unschöner Dinge, die seit dieser Zeit vorgefallen waren.

Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, im Grunde genommen ging mich das nichts an. Dafür genoss ich das Gefühl, nach all den Wochen wieder mit einer Frau alleine zu sein, die nicht Carolin war. Bei alledem verfolgte ich kein bestimmtes Ziel, wenn man mal von meiner Hoffnung absah, später mit Silvia im Bett zu landen. Sie musste das gespürt haben, denn irgendwann brach ihr Redeschwall ab, und sie entzog mir ihre Beine.

„So“, meinte sie, „ich mach uns jetzt endlich mal den versprochenen Kaffee. Der von heute Nacht dürfte inzwischen kalt sein.“

Schwerfällig schälte ich mich aus den Polstern und folgte ihr in die Küche. Draußen wurde es schon hell, auf dem Anrufbeantworter leuchtete eine rote Eins. Silvia zuckte leicht zusammen, als ich hinter sie trat. Noch ehe ich mich ihrem Hals nähern konnte, drehte sie sich um und gab mir einen Kuss auf die Wange.

„Danke für heute Nacht.“

Natürlich wusste ich, dass dies eine Abfuhr war, aber die Art und Weise, wie sie sie verpackte, war reines Aspirin und hinterließ keine Kopfschmerzen bei mir.

„Es war mir ein Fest“, sagte ich und meinte das gar nicht mal unehrlich. Ich hatte schon Schlimmeres erlebt, und außerdem zähle ich zu den Typen, denen eine solche Nacht etwas bedeutet, auch wenn sie nicht ablief wie erhofft. Es gibt Momente reiner Zufriedenheit, die durch nichts zu toppen sind, nicht mal durch Sex. Bei Silvia war es der, in dem ich sie zum ersten Mal lachen sah, dafür hatte sich die Sache allemal gelohnt.

Wir tranken unseren Kaffee im Stehen. Sie druckste ein bisschen herum, offenbar war sie alles losgeworden und hatte nun keine Wörter mehr übrig. Seltsamerweise empfand ich diese Minuten in der Küche als die intimsten zwischen uns, als ich später in der Straßenbahn nach Hause saß und die Bilder der letzten Stunden im Kopf sortierte. Nachdem nichts mehr zu sagen war, wurde Silvia wohl bewusst, dass wir uns kaum kannten und welche Richtungen diese Nacht hätte einschlagen können.

Ich hatte mich rasch verabschiedet und ihr meine Nummer aufgeschrieben für den Fall, dass sie wieder mal Hilfe bräuchte. Ich war mir natürlich im Klaren darüber, dass sie nicht anrufen würde, aber andererseits konnte es nicht schaden, dem Zufall gelegentlich ein wenig auf die Sprünge zu helfen.