10

 

Am Morgen musste ich früh raus. Der Gebietsleiter wollte vorbeischauen, und mein Chef hatte vor, den Laden auf die Schnelle in dessen Sinne aufzupeppen. Carolin schlief noch, und ich ließ das Bild dieses Mädchens in meinem Bett ein wenig auf mich wirken. Jaja, das kommt in schwachen Momenten schon vor, dass man den Voyeur in sich von der Leine lässt.

Ich ging hinüber in die Küche, um mir einen Kaffee aufzubrühen und ihr einen Zettel mit den nötigsten Instruktionen für den Tag zu hinterlassen. Vielleicht erbarmte sie sich ja meines leeren Kühlschranks und kaufte was ein.

In meinem Laden herrschte schon helle Aufruhr. Der Hauptkassierer, mein Chef, der Filialleiter, kurzum: alle Arschlöcher rannten hin und her und gaben den Kassiererinnen Anweisungen, was wohin geräumt werden solle. Emsig wie Ameisen wischten sie Staub, rückten Bilder gerade, bauschten die Deko auf und so weiter, wahrscheinlich waren sie schon seit Stunden zu Gange.

„Guten Morgen“, sagte ich und gähnte, um meinen Widerwillen darüber kundzutun, dass man mich um diese Zeit antanzen ließ. Keiner antwortete mir, hie und da bekam ich einen schiefen Blick zugeworfen, der zu besagen schien: „Mach deine Arbeit das nächste Mal alleine!“ Unnötig zu erwähnen, wo genau mir die Angelegenheit vorbeiging. Im Grunde waren es bedauernswerte Geschöpfe. Dafür, wie sehr sie an ihrem Job hingen, bezahlte man sie viel zu schlecht.

Gemeinsam mit dem Hauptkassierer hievte ich eine dieser potthässlichen, mobilen Bilderwände zur Seite, die einem bei der Arbeit immer im Weg rumstanden. Das Ding war ziemlich schwer, und da der Typ außer seinem Hemd, dem Schlips und diesem unsäglichen Pullunder nichts auf den Rippen hatte, brach er sich bei der Aktion beinahe einen ab. Am anderen Ende der Wand sah ich ihn Grimassen schneiden, als klemmte ihm einer die Finger im Schraubstock ein.

Als die Bilderwand endlich in ihrer Ecke stand, befand der Filialchef, die vorherige Position sei doch die bessere gewesen. Anscheinend dachte er, er könne mich damit auf die Palme bringen, aber der Einzige, der murrte, war der Hauptkassierer. Ich selbst hatte nichts gegen körperliche Arbeit. Als man uns die neue Kreissäge hingestellt hatte, war ich fast ein wenig enttäuscht gewesen, weil man sie mit einem Finger betätigen konnte. Diese Ingenieure hätten vermutlich am liebsten noch nen Airbag eingebaut.

Beim dritten Umstellen stolperte der Kassierer über seine eigenen Füße und geriet ins Straucheln. Die Bilderwand riss er gleich mit sich, dadurch rutschte sie mir aus den Händen und begrub ihn unter ihrem Gewicht. Zu dritt zogen wir sie von ihm herunter. Mühsam rappelte er sich wieder auf und tastete vorsichtig seine Leistengegend ab.

Viertel vor neun zogen alle ab, der Filialleiter verwies auf die Häppchen in der Kantine und versprach jedem, der Kaffee ginge auf ihn. Die Kassiererinnen waren offenbar heilfroh, ihn mal bei guter Laune zu erleben, sie seufzten regelrecht vor Glück, als sie zum Markt hinüberschlurften. Ich hatte mit ein paar Worten seitens meiner Chefs gerechnet, aber auch sie wollten das Frühstück wohl nicht länger warten lassen, und ich blieb alleine zurück - was mir nur recht war.

Da der Laden nun blitzblank sauber war, beschloss ich, die Arbeit erstmal auf die lange Bank zu schieben. Spätestens mit dem Eintreffen des Gebietsleiters würden die Bänder ohnehin stillstehen, dann galt es einzig und allein, seine Ideen zur Absatzförderung genial zu finden und an den richtigen Stellen zu lachen.

Ich nahm mein Frühstück normalerweise immer am Schneidetisch stehend ein, weil der über viele Ablagefächer für Kartonagen, Bilderglas, Passepartouts und Butterbrote verfügte und ich Letztere stets mit einem Handgriff verschwinden lassen konnte, wenn Kundschaft oder Entscheidungsträger auf der Bildfläche erschienen. Heute aber verunzierte kein Kartonstreifen die Tischplatte, kein Sägemehl, nicht das kleinste Glassplitterchen war zu sehen, also machte ich’s mir auf dem Tisch bequem und erquickte mich an dem Gedanken, nicht mit der ganzen Bagage frühstücken zu müssen.

Gegen zwei war der Gebietsleiter endlich mit dem Baumarkt durch und sah sich zum Abschluss sein Steckenpferd an, wie er es nannte: meinen Laden. Er wurde flankiert vom Filialleiter, der sich in großen Gesten übte, während der Hauptkassierer und mein Chef sich ziemlich kleinlaut gaben. Sie schienen ihr Fett für heute schon weg zu haben. Der Kassierer hielt sich beim Gehen immer noch die Leiste.

Der Gebietsleiter, der Heller hieß und den ich in den fünf Monaten, seit ich die Stelle hatte, erst zwei Mal zu Gesicht bekommen hatte, begrüßte mich überschwänglich, als seien wir alte Freunde. Er sah sich im ganzen Laden gründlich um und hatte im Handumdrehen meinem Chef ein Dutzend Verbesserungen in den Notizblock diktiert.

„An der richtigen Positionierung der Bilderwand habe ich lange gefeilt“, sagte mein Chef stolz und wies auf das elende Trumm, „auf die Art und Weise kommen die ausgestellten Bilder am besten zur Geltung.“

„Mag ja sein, aber dieses Ding stört die Harmonie des Ganzen“, meinte Heller kühl, „also weg damit!“

„Wie, ganz?“

„Natürlich ganz! Schmeißen Sie’s meinetwegen auf den Sperrmüll, es stört hier nur.“

Widerwillig notierte mein Chef „Bilderwand entfernen“ auf einer neuen Seite seines Blocks. So ging es noch eine halbe Stunde weiter, Heller gestaltete im Geiste den ganzen Laden um, das Baumarkt-Triumvirat übte sich im Beipflichten, und am Ende tranken wir ein Gläschen Sekt zusammen.

Natürlich wusste ich nur zu gut, dass sich durch seine Stippvisite nichts ändern würde, weder im Laden noch am Verhältnis zwischen den Baumarktärschen und mir. Morgen würde Heller die Filiale einer anderen Stadt umdekorieren und spätestens übermorgen die Bilderwand und alles weitere vergessen haben, ich kannte das von früheren Besuchen her. Doch begegnet uns Gerechtigkeit ohnehin immer in viel zu kleinen Dosen, da sollte man wenigstens die paar Gelegenheiten zu schätzen wissen, die uns mit dem Leben versöhnen.

 

Durch den Besuch meines Gebietsleiters hatte ich es mal wieder nicht geschafft, eine Mittagspause zu machen und ein paar Sachen fürs Wochenende einzukaufen. Da ich nicht sicher war, ob Carolin das für mich übernommen hatte, besorgte ich an der Tankstelle noch schnell ein trockenes Baguette und ein paar Bier, um wenigstens unsere leibliche Grundversorgung zu gewährleisten.

Caro war nicht mehr da, nur mein Zettel vom Morgen lag auf dem Tisch. „Danke fürs Obdach. Hab leider keine Zeit zum Einkaufen.“, stand auf der Rückseite und „Holst du mich heute Abend ab?“ Ich hatte gehofft, sie hätte das mit der Disco vergessen und käme einfach so zum Plaudern vorbei, aber in manchen Dingen konnte sie sehr gewissenhaft sein.

Mir blieb noch etwa eine Stunde Zeit. Bei Fernsehen und Bier holte ich das Letzte aus der Packung Frischkäse heraus, die Carolin mir übrig gelassen hatte. Den Rest des Baguettes schmiss ich in den Müll. Es war so trocken, dass ich es beim besten Willen nicht ohne Belag runterbekam.

Auf einem der Privatsender lief „Bullitt“, der meiner Ansicht nach seinerzeit nur wegen seiner berühmten Verfolgungsjagd gedreht geworden war. Die eigentliche Geschichte drumherum war eher dürftig, es ging um Korruption und ein missglücktes Zeugenschutzprojekt, aber wegen der Autoszenen guckte ich mir den Streifen immer wieder an.

Das Vorgeplänkel mit dem erschossenen Zeugen war schon vorüber, jetzt ging’s wortlos und mit nem Affenzahn durch San Francisco und hinaus in die Vororte. Nachdem Steve McQueen seinen Mustang in den Graben gesetzt hatte, flaute der Film wieder ab. Ich zappte mich durch verschiedene Soaps und gelangte schließlich bei einer Reportage über Darmkrebs an. Letztlich war das mit der Disco doch gar nicht so schlimm.

Ich schaltete die Kiste aus, räumte das Geschirr beiseite und zog mich um. Draußen war es bereits seit Stunden stockdunkel. Mit einem Mal war ich sehr müde, und als ich einen Moment lang inne hielt, spürte ich wieder dieses Gefühl aufkommen, das mich seit Sonjas Auszug schon häufiger heimgesucht hatte: Angst. Sie überkam mich immer dann, wenn ich den Gedanken um mich herum Gelegenheit gab, mich einzuholen. Da halfen auch Alkohol, Zigaretten und Ablenkung wenig. Die Drogen funktionierten nicht und machten das Ganze nur schlimmer, es war wie in dem Lied von The Verve. Ich fühlte mich einsam wie nie.