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Heiligabend war der trostloseste Tag des Jahres. Der ganze Rummel drumrum war zwar nicht mein Ding, aber da alle anderen zu ihren Familien fuhren, saß ich alleine in der Stadt fest. Natürlich hatte Helene mich eingeladen, aber das wäre denn doch zuviel des Guten gewesen.
Die letzte gemeinsame Zeit mit Sonja war bescheiden gelaufen, das hatte ich nicht vergessen, aber nun, wo alles vorbei war und Marie und ich nicht richtig in die Gänge kamen, tauchten mehr und mehr Bilder aus glücklichen Zeiten auf.
Ich musste dann an solche Dinge wie unsere Kanutour letztes Jahr denken, als wir das Kunststück fertigbrachten, auf dem ruhigsten Bach weit und breit zu kentern. Während unsere Klamotten im Ufergras trockneten, hatte sich Sonja widerstrebend von mir ins Gebüsch ziehen lassen. Ob sie solche Ausflüge auch mit Richard unternahm, jetzt, wo ich für sie nicht mehr existierte?
Überall in den Kneipen und Bistros saßen havarierte Typen herum wie ausgesetzte Hunde, ich brachte es nicht fertig, hinzugehen und ihnen in die Augen zu sehen. Stattdessen entstaubte ich meine Videokassetten und schlug die Zeit tot. Die Bänder quietschten in meinem uralten Recorder und die meisten Filme hatten inzwischen einen Rotstich, aber ich sah eine ganze Reihe alter Bekannter endlich mal wieder: Brando und Belushi, Matthau und Mitchum, Cagney und Chaplin. Alle tot, ich war der Letzte von uns. Der Gedanke war nicht einfach zu ertragen.
Irgendwann brannten mir die Augen. Seit über neun Stunden sah ich nun fern, und ich schwöre, das war reine Notwehr. Sobald ich die Kassette wechselte, ertönten Schalmeien aus der Kiste, das ganze Land ein Kirchenchor. Ich stellte sie ab und legte ein paar Platten auf, die ich seit hundert Jahren nicht mehr gehört hatte. Draußen hatte es geschneit, den glücklichen Seufzer der Gemeinde konnte man bis in mein Wohnzimmer hören. Ich drehte den Ton lauter und machte mich selbst froh.
Marie war über Weihnachten mit Jochen und dessen Familie ins Gebirge gefahren, weiß der Teufel, warum. Angeblich tat sie es um alter Zeiten willen, aber wir wussten beide, dass sie log. Ich wertete es als Rückschlag für uns, dass sie nicht bei mir blieb, aber vielleicht verlangte ich ja einfach zuviel.
Carolin und Armin pendelten zwischen ihren Eltern. Die Ärmsten waren über Weihnachten komplett eingespannt und spielten das glückliche Paar. Carolin hatte mir das Versprechen abgenötigt, wenigstens am zweiten Feiertag zum Kaffee vorbeizukommen, aber ich war bereits entschlossen, die Angelegenheit zu vergessen. Mir war nicht nach Gesellschaft.
Anfangs war ich noch davon ausgegangen, dass dieses seltsame Gefühl mit der Zeit verblassen würde, aber nun packten mich all die schönen Erinnerungen schon wieder am Kragen, das hing wohl an dieser kitschigen Jahreszeit. Ich lief Kreise in den Fußboden, blätterte in einem Buch, machte mir Kaffee, löschte alle Lichter und legte mich in die Wanne.
Von nebenan drang eine schräge Blockflötenversion von Ihr Kinderlein kommet durch die Wand. Die Tochter des Hauses übte für ihren großen Auftritt nach der Messe, wenn die ganze Familie zur Bescherung unterm Tannenbaum zusammenkam. Gedankenverloren spielte ich mit der Unterwasserkamera, die ich Sonja mal zu Weihnachten geschenkt hatte und die wir in der Badewanne ausprobiert hatten. Den Abzügen hatte ein Zettel des Entwicklungslabors beigelegen, auf dem man sich für die schlechte Qualität der Bilder entschuldigte, offenbar wussten sie unsere blanken Hinterteile nicht einzuordnen.
Ich hielt es nicht mehr aus und stieg wieder aus dem Wasser. Nass wie ich war, kramte ich in den Regalen und hielt nach kurzer Suche den Karton in Händen, der unter anderem vier Jahre gemeinsamen Lebens mit Sonja dokumentierte. Die letzten Fotos stammten aus der Zeit der Trennung, ich versuchte zurückzurechnen, wann uns die ganz großen Gefühle füreinander abhanden gekommen waren. Ich musste daran denken, dass sie jetzt wahrscheinlich gerade mit ihrem Richard auf der Couch ihrer Eltern saß und das Abendessen abwartete, das ihre Mutter in der Küche zubereitete.
In einem Anfall von Sentimentalität war ich versucht, bei Helene und Ludwig auf die Möglichkeit hin anzurufen, Sonja an die Strippe zu kriegen. Stattdessen wählte ich auf gut Glück Maries Nummer, vielleicht war sie ja doch aus irgendwelchen Gründen zu Hause geblieben. Es klingelte ewig, dann schaltete sich das Band ein. Ich legte wieder auf und packte den Karton ins Regal. Mein Badewasser war kalt, ich zog mich an und drehte eine Runde um den Block.
Obwohl ich versuchte, nicht an Marie zu denken, bekam ich sie nicht aus meinem Kopf raus. Das war etwas anderes als die Erinnerungen an Sonja, bei Marie war noch alles drin für mich. Klar, ich hatte guten Grund, sie wegen der Gebirgstour und allem zu verfluchen, aber ich hätte sie nicht weniger gewollt, wenn ich gewusst hätte, dass sie mit einer ganzen Kompanie schlief.
Ich versuchte mir einzureden, dass die Umstände bei ihr nicht zählten. Der ganze Ballast, den wir alle mit uns herumschleppten, Zukunft, Kindheit, Gegenwart, Ex-Partner, Alltag. Ich war an ihrem inneren Kern interessiert, ich wollte, dass sie sich für mich so weit entblößte wie für keinen anderen Mann. Die ganze Zeit über hatte ich geglaubt, diese Phantasie beruhe auf Sex, doch das hier war mehr als das. Und es schien mehr als das zu sein, was Sonja und mich vier Jahre lang zusammengehalten hatte. Liebe oder so, ich war mir da noch nicht sicher.
Den Fünfundzwanzigsten verbrachte ich komplett im Bett, ich stand nur auf, wenn ich pinkeln musste. Carolin kam spätabends von einem Besuch bei Armins Familie und ihrer Tante zurück, am nächsten Tag waren ihre eigenen Eltern an der Reihe. Ich musste ihr noch einmal versprechen, später vorbeizuschauen, und obwohl mir allein beim Gedanken an Konversation mit ihren Eltern gruselte, war ich nach dem Videomarathon froh für jede Abwechslung.
Caros Mutter zog gnadenlos das ganze Programm durch und drückte mir sogar ein Geschenk in die Hand. Es war ein Nasenhaartrimmer mit dem Namen ihrer Krankenkasse auf der Seite, wahrscheinlich ein Werbegeschenk. Wenn ich sie nicht besser gekannt hätte, wäre mir der Gedanke an einen Scherz gekommen.
„Jaa – danke schön, das kann ich gut gebrauchen“, sagte ich und klemmte mir das Teil spaßeshalber unter die Achsel.
„Aber nein“, meinte sie vorwurfsvoll, „das ist für die Nase!“
Wir aßen fette Sahnetorte, während die Wohnung um uns herum in bunten Lichtern blinkte. Ich verteilte zahlreiche Komplimente und verabschiedete mich rechtzeitig vor dem Abendessen, Carolin und Armin mussten notgedrungen dableiben.
Von diesem Horst war nie mehr die Rede gewesen, was mich etwas beruhigte. Dafür sprach Caro in letzter Zeit wieder häufiger von Oliver, mit dem sie sich gelegentlich traf. Die momentanen Verhältnisse machten ihr zu schaffen, sie schien nicht zu wissen, wo sie hin gehörte. Ich dafür um so mehr, meine Couch nahm mich mit offenen Armen auf.
Die Tage zwischen den Jahren zogen sich zäh hin wie ein einziger Totensonntag. In der Stadt herrschte verhaltenes Gemurmel, die Menschen schlichen vorsichtig durch die Straßen und schienen darauf bedacht, im alten Jahr auf den letzten Drücker nichts mehr falsch zu machen.