Vierzehntes Kapitel
In jener Freitagnacht hatte Anna einen absolut realistischen Traum, in dem Tony zu ihr zurückgekommen und eben ins Bad gegangen war. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, wartete sie darauf, dass er wieder zu ihr ins Bett steigen würde. Dann entwirrte ihr Gehirn das Chaos und trennte die Fakten brutal von der Fiktion. Die Realität ihrer Situation traf sie härter als je zuvor, und der Schmerz in ihrem Herzen war echt und lähmend. Sie machte sich ein Mittagessen, das sie nicht aß, und dann erlag sie der Versuchung, bei dem Friseursalon vorbeizuschauen. Und dort, vom Fenster umrahmt, sah sie Tony, ihren Tony, der seelenruhig Haare schnitt, als sei alles in bester Ordnung. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Etwa, dass er über seiner Schere weinte? Dass er blass und hager aussah, wie ein Mann, der den größten Fehler seines Lebens begangen hatte? Und sie sah nicht nur Tony – und sein Haar sah zugegebenermaßen dunkler und nicht mehr so grau aus, und er trug ein sehr farbenfrohes Hemd –, sondern sie sah auch Lynette Bottom, in einem nabelfreien Top und Jeans, die nicht nur irgendein Tattoo über ihrer Pospalte entblößten, sondern auch die feinen Spitzen eines schwarzen Stringtangas.
Anna schaltete den Fernseher ein, um sich mit dem Grand National auf andere Gedanken zu bringen, aber sie konnte den Bildschirm kaum sehen vor all den Tränen, die in ihren Augen brannten und einfach immer weiter flossen.
Dawn ließ den Fernseher mit dem großen Rennen im Hintergrund laufen, während sie die Broschüre mit den Hochzeitspralinen studierte, die aufgeschlagen auf ihren Knien lag. Zuckermandeln sahen immer sehr hübsch aus, aber sie schmeckten abscheulich. Allein schon bei dem Gedanken an den Geschmack klapperte sie mit den Zähnen. Sie überlegte, ob sie einfach für jeden Gast eine einzelne Praline einwickeln sollte. Das war doch viel hübscher und weitaus appetitlicher als diese grässlichen in Zucker gewälzten Nüsse – und verdammt viel billiger. Sie musste bei dieser Hochzeit unbedingt irgendwo Kosten einsparen. Sie hatte schon jetzt fast ihre ganzen Ersparnisse ausgegeben, und dabei hatte sie über Blumen oder die Torte oder die Hochzeitsreise noch nicht einmal nachgedacht!
Die Pferde nahmen ihre Positionen ein. Sie klappte die Broschüre zu, um das Rennen genau zu verfolgen. Sie schnappte den Namen eines Pferdes auf: June Wedding. Sie wünschte, sie hätte gewusst, dass dieses Pferd lief; dann hätte sie auf jeden Fall darauf gesetzt. Aber jetzt war es natürlich zu spät. Auf einmal schossen sie los. Dawn sah sich normalerweise keine Pferderennen an; ihr graute davor, mit ansehen zu müssen, wie eines von ihnen stürzte und sich verletzte und erschossen werden musste. Gott, diese Hindernisse waren aber auch hoch. Ein Pferd stürzte gleich beim allerersten. Es waren insgesamt dreißig Hindernisse. Als die Pferde The Chair, das fünfzehnte Hindernis erreichten, hatte sich Dawn vorgebeugt und feuerte sie lauthals an. Die Broschüre war ihr längst von den Knien gerutscht, und alle Gedanken an Mandeln oder Thorntons in den Hintergrund gerückt. Elvis Smith hatte sich gleich zu Beginn an die Spitze gesetzt. Er lag noch immer in Führung, als sie – zum zweiten Mal – am offenen Graben und am Bechers vorbeikamen, aber dann, am Canal Turn, musste er die Führung an Chocolate Soldier abgeben. Er fiel hinter Mayfly auf den dritten Platz zurück, aber dann verweigerte Chocolate Soldier am Valentine’s. Royal Jelly legte sich auf der Innenbahn mächtig ins Zeug, und die Begeisterung des Kommentators jagte jetzt auch Dawns Adrenalinspiegel nach oben. Sie hatte keine Ahnung, wo June Wedding war. Es war wirklich ein Jammer, dass sie nicht auf dieses Pferd gesetzt hatte; der Jockey war auch noch pfirsichfarben gekleidet gewesen, die Themenfarbe für ihre eigene Hochzeit. Die Pferde näherten sich jetzt der Biegung. Elvis Smith lag wieder in Führung, nach einem atemberaubenden Sprint. Auf einmal schoss The Sun Rose auf der Innenbahn los und überholte alle bis auf das vorderste Pferd. Der Kommentator schrie sich am neunundzwanzigsten Hindernis fast die Seele aus dem Leib, als der Abstand zwischen Elvis Smith und The Sun Rose gleich null zu sein schien.
»Komm schon, Junge«, schrie Dawn den Bildschirm an. »Komm schon, du grauer Dummkopf! Ich könnte einen kleinen Gewinn gut gebrauchen!«
»Elvis Smith wird das Rennen machen«, rief der Kommentator. Aber dann schoss The Sun Rose in der letzten Nanosekunde an ihm vorbei und überquerte die Ziellinie mit einem kleinen, aber klaren Vorsprung.
»O mein Gott!«, sagte Dawn. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so aufgeregt gewesen war. Ihr Herz galoppierte, als sei sie das Rennen eben selbst gelaufen. Aber sie war nicht mehr geritten, seit sie siebzehn war. Allein schon der Gedanke, wieder auf ein Pferd zu steigen und ohne ihre Eltern durch die Landschaft von Yorkshire zu galoppieren, war zu schmerzlich für sie. Ihr Dad war immer so witzig gewesen, hatte so getan, als seien sie alle in Oklahoma, und gejauchzt wie ein verrückter Cowboy. Vielleicht würde sie, wenn sie die Hochzeit hinter sich hatten, einmal zu der Reitschule in Maltstone fahren und morgens einen kleinen sonnigen Ausritt unternehmen. Vielleicht war es an der Zeit, wieder auf ein Pferd zu steigen und sich ein paar glücklichen Erinnerungen hinzugeben.
Der kleine irische Jockey auf dem edlen Schimmel reckte triumphierend eine Faust in die Luft. Er sprach mit einem schnellen, schrillen irischen Akzent in die Kamera, bei dem niemand auch nur ein Wort verstand, nicht dass es wichtig gewesen wäre. Er hatte einen absoluten Außenseiter gleich bei seinem ersten Grand National zum Sieg geführt. Das letzte Mal habe ein Schimmel 1961 gewonnen, sagte der Kommentator. Niemand interessierte sich für die anderen Pferde, obwohl jetzt auch deren Namen über den Bildschirm flackerten. Dawn hatte keine Ahnung, wie viel Geld ihre Wettgemeinschaft auf der Arbeit damit gewonnen hatte, aber sie unterdrückte ihren ersten Impuls, Calum davon zu erzählen. Wenn er erfuhr, welche Summen sie hier einsteckte, würde er nur noch weniger zur Hochzeitskasse beisteuern. Daher hielt sie den Mund und bemittleidete ihn nur, als er vom Pub nachhause kam, wo er sein Geld auf Mayfly gesetzt hatte. Sie griff nach ihrer Broschüre und befasste sich schweigend wieder mit dem Problem Zuckermandeln oder Schokoladentrüffel.
Am nächsten Morgen erfuhr sie aus der Zeitung, dass June Wedding das Pferd war, das beim ersten Hindernis gestürzt war.