Achtundsiebzigstes Kapitel

Vladimir Darq war ein Mann, der glaubte, vom Glück gesegnet zu sein. Er war in Titesti geboren, einem kleinen Dorf am Fuße der transsilvanischen Berge an dem wunderschönen Fluss Mures, bei freundlichen und liebevollen Eltern. Aber irgendetwas hatte die Familie Darescu schon immer vom Rest des Dorfs unterschieden. Es ging das Gerücht, dass sie von einer alten Linie nachtaktiver Geschöpfe abstammten, die verehrt, gefürchtet und vor allem respektiert worden waren. Tatsächlich litten die männlichen Abkommen der Darescu-Linie seit Generationen unter einer starken Lichtempfindlichkeit, und ihre von Natur aus länglichen Eckzähne verliehen den Gerüchten zusätzliche Glaubwürdigkeit. Dennoch begegnete die Gemeinde der geheimnisvollen Familie mit fürsorglicher Herzlichkeit, und Vladimir senior wollte mehr als ein Leben in den Minen für seinen Sohn, der ein erstaunliches künstlerisches Talent an den Tag legte und seiner Mutter, einer Näherin, gern zur Hand ging. Leider erlebten seine Eltern nicht mehr, wie ihr Sohn mit seinen erstaunlichen Kreationen und seinem geheimnisvollen Vampir-Gehabe an die Spitze der Modewelt aufstieg.

Die Leute in dem Dorf in Yorkshire, in dem er jetzt lebte, waren freundlich, offenherzig und aufrichtig – die englische Version der rumänischen Dorfbewohner, mit denen er aufgewachsen war. Sie entwickelten allmählich sogar einen gewissen Stolz auf ihn, je mehr sie über ihn und seine Leistungen erfuhren. Er besaß Häuser in Italien, Paris und London. Aber sein eigentliches Zuhause war das Darq House.

Vladimir war der dunkle Liebling der Designer. Die Paparazzi himmelten ihn an, Reporter bemühten sich um ihn, Models versuchten, ihn ins Bett zu kriegen, und der junge Vladimir war so manches Mal mit einer wunderschönen Frau an seiner Seite aufgewacht. Von außen betrachtet, hatte Vladimir Darq alles. Fast alles. Denn im Grunde seines Herzens war er noch immer der einfache Junge aus Rumänien, der sich nach der Liebe und Wärme einer Familie sehnte, die in seiner dynamischen Karriere leider noch immer fehlte.

Als er an jenem Abend Anna am Bahnhof gesehen hatte, hatte das irgendetwas in ihm entfacht. Er konnte sich nicht erklären, wieso der Anblick dieser traurigen Frau mit den langen, kastanienbraunen Haaren eine solche Wirkung auf ihn gehabt hatte. Er hatte ihr Potenzial als das Model für sein geplantes Projekt gesehen. Aber es war mehr als das für ihn gewesen. Irgendetwas tief in seinem Inneren hatte eine verwandte Seele erkannt. Ein anderes menschliches Wesen, das sich danach sehnte, zu lieben und geliebt zu werden. Ihre Verletzlichkeit hatte sein Herz gerührt.

Woche um Woche hatte er zugesehen, wie Anna aufblühte, und der Geruch ihrer samtigen Haut brachte ihn fast um den Verstand vor Lust. Er musste seine ganze Kraft aufbieten, um seine Lippen nicht auf diese Haut zu pressen.

Und auf dem Vollmondball hatte er sich gewünscht, die Party möge sich früh auflösen, damit er mit Anna allein sein könnte. Er hatte vorgehabt, sie hinaus auf seinen Balkon zu führen und im Mondlicht mit ihr zu tanzen. Er hatte ihr einen schönen und romantischen Abend bereiten wollen. Er hatte ihr sagen wollen, dass er sich in sie verliebt hatte, während sie unter den Sternen Walzer tanzten. Und er hatte sich gewünscht, dasselbe von ihr zu hören.

Er war zu ihrem Haus geeilt, als er bemerkte, dass sie gegangen war. Er hätte diesen Kuss ebenso wenig aufhalten können wie den Fluss Mures, als er eines Sommers, als er noch ein Kind war, über die Ufer getreten war. Aber war es für sie nur ein Kuss gewesen?

Er war ein Nervenbündel, als er am nächsten Morgen in seinen Wagen stieg, um sie abzuholen, wie er es versprochen hatte.

Die Generalprobe für die Hochzeit fand am Sonntag nach dem Morgengottesdienst statt. Es gab eine kleine Verzögerung, als sich die beiden Brautjungfern auf dem Friedhof übergaben und der Trauzeuge des Bräutigams aus dem nahe gelegenen Laden erst noch etwas Paracetamol und Red Bull besorgen musste. Der Bräutigam hatte nur noch eine Augenbraue. Die andere war ihm abrasiert worden, als er im Zentrum von Wakefield nackt an einen Laternenpfahl gebunden worden war. Er war ungewöhnlich still, benahm sich sehr anständig während der Generalprobe und erlaubte sich keinen Scherz, als sich die Gelegenheit bot, sich über das Lispeln des Pfarrers lustig zu machen, wie es sein Trauzeuge gern gewollt hätte.

Während er seine künftige Braut an seiner Seite ansah, begriff Calum Crooke, was für ein gutes Mädchen er mit Dawn hatte. Er war an diesem Morgen neben Mandy Clamp aufgewacht – seinem letzten Seitensprung, von Killer und Empty Head arrangiert. Aber jetzt kam er sich wie ein Mann auf Diät vor, der soeben eine ganze Schwarzwälder Kirschtorte vertilgt hat – beschämt, reumütig, mit einem flauen Gefühl im Magen und in dem Bewusstsein, dass die Vorfreude auf ein solches Vergnügen die Realität bei weitem übertraf. Mandy Clamp war eine echte Schlampe, für die es sich nicht lohnte, Dawn aufs Spiel zu setzen. Diese Erkenntnis war ihm heute Morgen gekommen, als Mandy eindeutig klargestellt hatte, dass ein Ehering keinen Unterschied für sie machte und dass er gern mehr von ihr bekommen könnte, wann immer – und wo immer – er wollte. Er war schon immer mit Schlampen gegangen, die ihre eigenen Grenzen nicht kannten, und auch wenn Dawn keine war und ihm niemals angetan hätte, was er ihr letzte Nacht angetan hatte, hatte er sie doch ebenso respektlos behandelt wie all die anderen Mandy Clamps dieser Welt. Er sah Dawn an, elegant in ihrem Sommerkleid, das lange, rote Haar hinten zusammengebunden, das Gesicht hübsch zurechtgemacht, und verglich sie mit seinen Schwestern, die weiß wie Zombies waren und in Jeans und billigen Designertops schwankten. Seine Mutter, in ihren allgegenwärtigen Flipflops, schubste die beiden auf ihre Plätze und schnauzte sie an, flüsternd, wie sie glaubte, obwohl sie alles andere als leise war, und er dachte, kein Wunder, dass er immer bei Frauen wie Mandy Clamp gelandet war, denn das war das Einzige, was er je gekannt hatte, bevor Dawn in sein Leben getreten war. Demi und Denise hatten über jede Frau hergezogen, mit der er je zusammen gewesen war, hinter ihrem Rücken natürlich, was eine Frechheit war, denn sie waren selbst mindestens genauso schlimm, vor allem Demi, denn seine ganzen Kumpels hatten sie gehabt. Aber in letzter Zeit hatte er sich, wenn sie Dawn auslachten, weil sie gern farblich passende Schleifen auf ihren kleinen Pralinen haben wollte, insgeheim geärgert. Wenn sie sich das nächste Mal über sie lustig machten, würde er etwas sagen und ihnen den Mund verbieten. Sie hatte sich solche Mühe gegeben, und er hatte es ihr alles andere als leicht gemacht. Er hatte sich Tante Charlottes Geld von ihr geborgt – ohne die Absicht, es je zurückzuzahlen oder ihre Hochzeitsreise damit zu finanzieren. Und während er nun dort in der Kirche stand, schämte er sich auf einmal aufrichtig dafür, dass er die Art Mann war, der sich für besonders toll hielt, wenn er sie betrog. Wenn sie verheiratet wären, würde er sich alle Mühe geben, seine Hose zuzulassen.

Vladimir blickte sehr ernst und grimmig, als er vor ihrem Haus vorfuhr, und Anna erwartete halb, dass er ihr sagen würde, er sei gestern Abend ein bisschen betrunken gewesen und hätte sie eigentlich gar nicht küssen wollen. Na ja, wenn er das vorhatte, dann konnte er sich gleich wieder verpissen. Sie hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden schon einem erbärmlichen Weichei den Laufpass gegeben, und sie würde es auch noch einmal tun, wenn es sein musste. Sie drückte ihr Rückgrat durch, bereit für eine Konfrontation, und dann stieg Vladimir aus seinem Wagen, nahm sie schwungvoll in seine Arme und drückte ihr einen solchen Kuss auf die Lippen, dass sie glaubte, wenn er jetzt seine Fangzähne in ihren Hals schlagen sollte, dann würde sie gern vor den Nachbarn hier verbluten.

»Es ist helllichter Tag«, sagte sie, während sie nach dem bisschen Luft schnappte, das er ihr nicht abgedrückt hatte. »Wirst du nicht zu Staub zerfallen?«

»Gott schütze uns vor den Romanschriftstellern«, sagte Vladimir. »Steig schon ein.«

Sie tat gern, was er ihr sagte, und wurde zum Darq House gefahren, wo ein Heer von Reinigungskräften dem Haus seinen herrlichen gotischen Glanz zurückgegeben hatte. Er führte Anna durch sein Zuhause, seine Welt. Er zeigte ihr den überdimensionalen Kühlschrank, in dem eine Hackfleischpastete von Marks & Spencer und ein Glas Hellman’s-Majonäse neben einer Flasche Cristal-Champagner und italienischen weißen Trüffeln standen. Er führte sie in das höhlenartige Wohnzimmer mit dem wuchtigen Fernseher, den eintausend DVDs und CDs, die die Regale an der Wand säumten, und dem größten und weichsten Sofa aller Zeiten. Er zeigte ihr die Bäder, sein Arbeitszimmer, einen Lagerraum voller Hundefutter und Zimmer, in denen sich Stoffe und Nähmaschinen türmten. Es gab keine Särge, keine Flaschen mit Jungfrauenblut, keine Altäre für schwarze Messen.

Und dann führte Vladimir Darq Anna Brightside hoch in sein kunstvoll geschnitztes gotisches Schlafzimmer, wo er sie auf sein Himmelbett warf, sie wie an einem Kruzifix ausstreckte und alle möglichen unheiligen Dinge mit ihr anstellte.

Ein Kerl macht noch keinen Sommer
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