Sechsundsiebzigstes Kapitel
Der Wagen kam, und als Anna in die Nacht hinaustrat, sah sie, dass der sonst meist gleichgültige Chauffeur sie mit einem zweiten und dritten Blick musterte, während er ihr die Wagentür öffnete. Sie grinste still vor sich hin, stolz, dass sie vielleicht sogar Mr. Undurchdringlich geknackt hatte. Sie sah außerdem, wie er im Rückspiegel immer wieder verstohlen einen Blick auf sie warf. Aber er schenkte ihr natürlich kein Lächeln. Das wäre dann doch ein bisschen zu unheimlich gewesen.
Ihr neu gewonnenes Selbstbewusstsein sackte erst einmal schmerzhaft in sich zusammen, als sie in die Auffahrt des Darq House einbogen, denn da, genau vor ihnen, stand eine Reihe eleganter Wagen – Rolls Royces, Porsches, Bentleys, Stretchlimousinen … Sie erwartete halb, gleich einen Hubschrauber landen zu sehen.
Als der Mercedes den vorgesehenen Haltepunkt zum Absetzen der Gäste erreichte, sah Anna die ganzen spindeldürren Frauen, die in ihren feinen Kleidern aus den Wagen stiegen. Sie verschwanden fast vollständig, wenn sie sich zur Seite drehten. Aber sie trugen absolut hinreißende, wunderschöne Kleider, auch wenn Anna die Designer niemals an einem Knopf erkannt hätte, wie es die Leute im Fernsehen immer taten. Ein kleiner Teil von ihr wollte den Chauffeur fast bitten, einfach weiterzufahren und sie wieder nachhause zu bringen. Auf einmal erschien ihr das alles sehr ernst. Dann sah sie Vladimir in einem äußerst eleganten schwarzen Anzug und einem mondweißen Hemd mit einer extravagant gebundenen weißen Krawatte um den Hals. Er trug das Haar offen, eine herrliche Mitternachtsmähne, mit der er noch vampirhafter, ungezähmter und romantischer aussah denn je. Wartete er auf sie? Sie konnte es nicht sagen. Aber dann war klar, dass er es tat, denn er kam auf sie zu, um ihr die Wagentür zu öffnen, und streckte ihr die Hand entgegen. Sie stellte sich diese Hand auf ihrer Brust vor, über ihrem Herzen.
»Anna«, sagte er, »guten Abend. Sie sehen … wunderschön aus.«
Wirklich?, wollte sie eben schon sagen, bevor eine strenge Stimme verhinderte, dass ihr die Worte über die Lippen kamen. O ja – das tust du. Beleidige den Mann nicht, indem du andeutest, du könntest in seiner Kreation weniger als fantastisch aussehen. »Ich fühle mich einfach wundervoll«, sagte sie. »Es passt alles wie angegossen.«
»Natürlich«, sagte er halb von oben herab, halb verblüfft. »Was haben Sie denn von mir erwartet? Wie ich sehe, haben Sie eine Handtasche gefunden.«
»Und Schuhe«, sagte Anna. »Ich hatte fast schon aufgegeben, aber dann habe ich doch noch welche gefunden.«
»Sie waren es sich wert, welche zu suchen«, nickte er. Ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen. »Ich hatte es gehofft.«
Er führte sie ins Haus, als sei er ein Kronprinz und sie seine auserwählte Braut. Sie spürte, dass sie beobachtet wurde, dass man sie anstarrte und über sie redete, und sie versuchte, nicht noch mehr zu erröten, damit ihre Grundierungscreme nicht zerfloss. Und dann, als sie eintrat, begriff sie, weshalb sie so viel Aufmerksamkeit auf sich zog, denn sie wurde nicht nur von Vladimir Darq selbst begleitet, sondern sah auch – von der Galerie herabhängend – ein riesiges Poster von sich in einer körnigen, film-noir-artigen Aufnahme. Es war schwarz-weiß, das Korsett rot hervorgehoben, und darunter standen die Worte: Jede Frau hat eine Darq-Seite. Es war umwerfend.
»Was halten Sie davon?«, fragte Vladimir.
»Es … äh … es überwältigt mich«, sagte Anna leise.
»Das ist, weil es überwältigend ist«, sagte er. Er wandte sich zu ihr um, seine golden gesprenkelten Augen auf sie gerichtet wie Eine-Million-Watt-Birnen. »Essti ametitoare! Sie sind überwältigend, Anna.«
Leonid kam mit zwei Gläsern Champagner angerauscht und küsste Anna auf beide Wangen.
»Esti o regina! Mein Gott, Sie sind eine Königin!«, sagte er, was aus seinem Mund irgendwie witzig klang.
Irgendjemand zog Vladimirs Aufmerksamkeit auf sich, und er schlug auf militärische Art die Hacken zusammen, um sich zu entschuldigen.
»Und, gefällt Ihnen das Poster?«, fragte Leonid.
»Ich finde, es ist … es ist …« Anna rang um das richtige Wort. Wäre es zu anmaßend, das erstbeste Wort zu sagen, das ihr durch den Kopf schoss? Scheiß drauf, sagte sie sich. Sie sprach es aus: »Es ist hinreißend, Leonid.«
»Vladimir – er will Sie vorführen. Wie Pygmalion.«
»Na ja, aber das hat er doch sehr gut gemacht.«
Anna sah sich um. Da stand eine Frau in einem goldenen Kleid, die weniger auf die Waage bringen musste als Annas linkes Ohrläppchen. Alle sahen fabelhaft und wunderschön aus. Und Anna wunderte sich, dass sie sich wie eine von ihnen fühlte.
»Anna Brightside«, begann Leonid in einem warmen, sanften Ton, den sie bei ihm noch nie gehört hatte. »Sie erfüllen mich mit so viel Stolz. Sie sind eine echte Frau. Eine Dame. Vladimir wird den Erfolg des Darqone nur Ihnen zu verdanken haben.«
»Ich hoffe für ihn, dass er Erfolg damit haben wird«, lächelte Anna. »Aber den Erfolg wird er nur seinem Design zu verdanken haben. Das ist ein wahres Wunder.«
»Ja, seine Auftragsbücher sind prall gefüllt. Ich denke, da muss er sich keine Sorgen machen. Aber Sie spielen Ihre Rolle herunter.«
Annas Aufmerksamkeit wurde von dem Rücken einer Frau abgelenkt, deren Schulterblätter weiter hervorragten als ihr Gesäß. Sie lehnte das Tablett mit Kanapees, das ihr angeboten wurde, mit einer Handbewegung ab. Eine einzige winzige Bruschetta enthielt vermutlich ihre Kalorienration für die ganze Woche. Tony mochte diese superdünnen Frauen nicht. Er sagte, echte Männer hätten in Zeitschriften vielleicht Lust auf sie, aber was hätte man denn davon, Brüste anzufassen, die flacher waren als die eigenen? Tony. In weniger als drei Stunden würde er vor ihrer Haustür sitzen und darauf warten, dass sie ihn hereinließ. Und sie würde dieses Kleid ausziehen und ihr Make-up entfernen, und ihre Wolke sieben würde sie wieder auf der Erde absetzen, wo sie ihr Bestes tun würde, um wieder in ein normales Leben zu passen. Auch wenn sie das Gefühl hatte, dass ihr neues normales Leben vielleicht etwas anders als ihr altes sein würde – egal, ob mit oder ohne Tony.
Eine spindeldürre Frau in den höchsten Stöckelschuhen, die Anna je gesehen hatte, rauschte auf Leonid zu und küsste ihn links, rechts und dann wieder links auf die Wange. Anna erkannte sie auf Anhieb aus Zeitschriften, auch wenn sie keinen Namen mit ihr verbinden konnte.
»Leonid, ich freue mich ja so wahnsinnig, dich zu sehen«, sagte das Klappergestell und lächelte dabei mit einer Reihe weißer Zähne, bei deren Anblick ein Krokodil vor Neid erblasst wäre.
»Das ist Oona Quince«, stellte Leonid sie vor.
»Ja, ich weiß«, sagte Anna. »Wow!«
Das Supermodel nickte, als sei es für sie ganz normal, solch schmeichelhafte Ausrufe auf sich gemünzt zu hören. Was es vermutlich auch war. Anna fühlte sich verpflichtet, ihr zu sagen, wie schön sie aussehe, was für sie offenbar ebenfalls selbstverständlich war.
»Entschuldigt mich bitte«, sagte Leonid in dem Augenblick, winkte jemandem zu und verschwand in der Menge. Anna sah, wie er auf einen Mann in einem silbernen Smoking zuging, der die Leute sehr überschwänglich begrüßte. Als sie sich wieder zu Oona umwandte, sah sie eine weitaus kältere Frau als die, die noch vor zwei Minuten um Leonids Hals gehangen hatte.
»Du bist also Vlads kleines Lieblingsprojekt«, sagte Oona spitz und nahm einen kräftigen Schluck aus ihrem Champagnerglas. Offenbar nicht ihr erstes an diesem Abend.
»Wie bitte?«, sagte Anna, noch immer höflich lächelnd. Sie war sich nicht sicher, ob Oona sich nur unbeholfen ausgedrückt hatte oder ein echtes Biest war. Vermutlich Ersteres, entschied sie zu Oonas Gunsten. Aber die Großzügigkeit hätte sie sich sparen können. Muh.
»Du bist Vlads aktuelle Fixierung. Sein plat du jour.«
»Ach ja?«, gab Anna zurück. Sie versuchte, nicht auf den Köder anzubeißen. Wenn Oona weiter gegen sie sticheln sollte, dann würde sie ihr einfach einen kräftigen Schubs geben, und schon würde diese Zicke aus ihren Stöckelschuhen kippen. Komisch, auf Fotos sah sie immer so umwerfend aus. Von Nahem betrachtet hatte ihr Gesicht unter diesem ganzen Make-up mehr Pickel als ein jugendlicher Dalmatiner.
»Na, dann genieß es, solange du es noch kannst«, sagte Oona mit boshaft funkelnden Augen. »Er wird dich aussaugen und dann wegwerfen wie eine benutzte Windel. Du wirst in null Komma nichts wieder bei deinem Putzjob landen.«
Und mit diesen Worten wandte sich Oona gekonnt auf ihren Killerabsätzen um, setzte ihr charmantes Barrakuda-Lächeln auf und stolzierte davon, um irgendjemandem auf der anderen Seite des Raums ein »Darling« entgegenzuschmettern.
Anna machte ihren sperrangelweit offenen Mund zu und begann zu kichern. Wow, offenbar sorgte ihr Anblick wirklich dafür, dass ein paar Leute die Nasen ein bisschen höher trugen. Das musste man sich mal vorstellen – Oona Quince stichelte gegen sie! War das nicht einmalig? Anna nahm noch einen kleinen Schluck von ihrem Champagner. Sie durfte ihn nicht zu schnell trinken. Sie nahm an, dass es auf dieser Party bald jede Menge Betrunkene geben würde, und sie war es Vladimir schuldig, nüchtern und würdevoll zu bleiben. Außerdem konnte sie so das Geschehen viel besser beobachten. Das hier war auf jeden Fall der Ort, um zu sehen und gesehen zu werden.
Aus dem Raum neben dem großen, offenen Empfangssaal dröhnte Discomusik. Eine Liveband spielte mit ungefähr elf Millionen Dezibel. Leonid war ins Gespräch mit dem Silberjackett-Mann vertieft, und Vladimir plauderte fröhlich mit irgendwelchen Leuten. Sie bemerkte, wie er zu ihr hinübersah und winkte. Er machte eine winzige Geste, und sie verstand, was sie bedeutete: Alles okay mit Ihnen? Sie nickte entschieden zurück, schnappte sich ein Kanapee, um ihre Hände zu beschäftigen, aß und sah sich um. Sie entdeckte ein paar Promis – ein paar kannte sie dem Namen nach, andere nicht. Sie sah jede Menge großer, umwerfender Frauen, die aussahen, als seien sie soeben von den Titelseiten irgendwelcher Hochglanzmagazine gestiegen, und Männer mit gestrafften Botox-Gesichtern und Haaren, die für ihren Teint zu dunkel gefärbt waren. Dann sah sie noch ein paar Leute, die so orange im Gesicht waren, dass Malcolm neben ihnen wie ein Albino ausgesehen hätte. Und sie sah viele unverschämt gut aussehende Typen mit klassischer Adlernase und Kirk-Douglas-Kinn. Aber bei keinem von ihnen bekam Anna so weiche Knie wie bei Vladimir Darq, wenn sie ihn in der Menge entdeckte. Es fiel ihr so schwer, nicht nach ihm Ausschau zu halten, dass sie sich fragte, ob er sie vielleicht in seinen Bann geschlagen hatte.
Oona hatte sich noch eine Champagnerflöte geschnappt und hing jetzt in Vladimirs Nähe herum, bemüht, nicht zu schwanken. Offenbar versuchte sie, seine ganze Aufmerksamkeit für sich zu bekommen, was er gekonnt verhinderte. Sie zog einen beleidigten Schmollmund, sodass ihre Unterlippe ungefähr zehn Zentimeter unter ihrem Dekolletee hing, da er ganz offensichtlich nicht zu der »Ist Oona nicht umwerfend?«-Truppe gehörte. Das erklärte so einiges, dachte Anna mit einem ironischen Lächeln.
Als Dawn in ihrem »Letzte Chance mich zu vögeln, ich bin die Braut«-T-Shirt, das sie auf Drängen der anderen über ihrem neuen Kleid tragen musste, in Blegthorpe aus dem Minibus stieg, war sie die einzige der dreizehn Frauen, die noch nüchtern war. Demi, Denise und ihre ganzen Freundinnen waren alle in unterschiedlichen Stadien zwischen halb beschwipst und sternhagelvoll. Morgen Mittag um ein Uhr würde die Generalprobe für die Hochzeit stattfinden. Ihr graute davor, in welchem Zustand ihre künftigen Schwägerinnen dann sein würden.
Demis beste Freundin, Sherideen, war bis jetzt am weitesten hinüber und hatte sich bereits auf ihr »Kleines Huhn sucht großen Hahn«-T-Shirt übergeben. Zum Glück gab es im Bus noch ein paar Ersatz-T-Shirts, die Demi mitgebracht hatte, für den Fall, dass sich irgendjemand auf seines übergeben sollte – wie gut, dass sie ihre Leute kannte. Sherideen erklärte Dawn lallend, sie habe auf nüchternen Magen getrunken, und stolperte gleich vom Bus zur nächstbesten Frittenbude, um eine Grundlage in den Magen zu bekommen, bevor sie weiter in die Bars von Blegthorpe zogen. Dawn warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Vor die Wahl zwischen diesem Abend und einer Wurzelkanalbehandlung ohne Betäubung durch einen blinden Zahnarzt gestellt, hätte sie sich ohne Zögern für Letzteres entschieden.
Sie waren nicht die Einzigen, die hier ihren Junggesellinnenabschied feierten. Die Stadt wimmelte von Frauengruppen, die »Vorsicht, Fahranfänger«-Schilder oder Schleier trugen, die offenbar aus Netzvorhängen gemacht waren. Dawn versuchte, eine fröhliche Miene aufzusetzen, nur damit Denise oder Demi ihr nicht wieder vorwerfen konnten, ein Trauerkloß zu sein, aber sie konnte sich Lustigeres vorstellen, als einen riesigen, aufblasbaren Pimmel durch eine Stadt zu schleppen, in der sie nicht sein wollte, mit Leuten, die sie nicht kannte.
Bette und Muriel trugen weit geschnittene Sommerkleider, die ihre schwabbeligen Oberarme möglichst gut zur Geltung brachten. Empty Head hatte offenbar keine T-Shirts, die groß genug für sie waren. Dawn wollte sich lieber nicht vorstellen, wie Bette in einem weißen T-Shirt aussehen würde. Es würde Lawinenwarnungen geben, wenn sie den Hügel hinunter zu den Pubs ging. Bette konnte sich mit ihrer üppigen Figur nicht lange auf den Beinen halten, daher suchten sie und Muriel sich eine stille Ecke, in die sie sich mit ihren Gläsern mit Lager und Limes zurückzogen. Zum Glück waren die meisten aus ihrer Truppe bereits zu weit hinüber, um sich an Dawns Existenz auch nur zu erinnern – wenigstens etwas, wofür sie dankbar war. Dawn hielt sich im Hintergrund, während sie zusah, wie die Frauen auf den Tischen tanzten und mit irgendwelchen Typen flirteten. Sie presste ihren Fingernagel hart in den aufblasbaren Penis, bis sie hörte, wie die Luft seufzend aus ihm entwich. Dann wurde neben ihr auf einmal Jubel laut, und als sie sich umwandte, sah sie, dass Demi ihr T-Shirt ausgezogen hatte und mit nackten, wippenden Brüsten auf und ab sprang. Der Türsteher kam herüber und forderte sie auf, ihr Top wieder anzuziehen, aber dafür, dass er so ein riesiger, schwabbeliger Kerl war, bewegte er sich sehr langsam durch das Gedränge.
Zwei der Frauen waren um halb drei Uhr morgens praktisch bewusstlos, und Denise fragte Dawn, ob sie etwas dagegen hätte, den Busfahrer anzurufen, damit er sie schon jetzt und nicht erst um fünf abholte. Dawn hatte nichts dagegen; im Gegenteil, sie war überglücklich, aber sie warf zum Schein trotzdem immer wieder ein »Och, wie schade« ein, um es sich nicht anmerken zu lassen. Sie kletterte mit allen anderen in den Bus, erklärte überzeugend, was für einen fantastischen Abend sie gehabt habe, und tat, als sei sie ebenfalls ordentlich beschwipst. Selbst Bette und Muriel waren zu betrunken, um zu merken, dass Dawn stocknüchtern war und alles nur vortäuschte, so gut sie konnte.
Demi schlief über ihrem Kebab im Bus ein. Das Fleisch hing ihr noch von den Lippen, sodass sie aussah, als hätte sie es eben erst aus dem Rücken eines Tiers gerissen. Dawn hatte ehrlich gesagt Angst vor Demi. Sie dachte an die kommenden Jahre, in denen sie sie immer mit Samthandschuhen anfassen müssen würde, um sie ja nicht bei Familienfeiern aus der Fassung zu bringen. Dann schossen ihr auf einmal wieder Al Holly und sein Antrag durch den Kopf. Aber wie könnte sie einfach aufstehen und gehen und ihr ganzes Leben hier zurücklassen, nur um einen Traum zu verfolgen? Was, wenn das alles nicht klappte? Dann könnte sie nie wieder nachhause zurückkehren, da sie immer Angst haben müsste, hinter ihrem Rücken könnte eine der unheimlichen Crooke-Schwestern lauern. Nein, das war etwas, was sie für immer in dem Schatzkästchen in ihrem Kopf bewahren würde; Leute wie sie machten sich nicht einfach auf über den Atlantik, nur mit einer Gitarre und ein bisschen frischer Unterwäsche und einem Mann, den sie kaum kannten, mit dem sie nur ein paarmal über Gibsons und Stratocasters geplaudert hatten. Sie hatten Jobs von neun bis fünf und heirateten Männer, die ihre Schmutzwäsche nie in den Wäschekorb warfen, machten sich Sorgen um die Rechnungen und ließen sich samstagabends der Form halber vögeln, während sie von einem Leben träumten, zu dem sie einfach nicht den Mut hatten.
Dawn wünschte, sie hätte sich doch betrunken. Sinnlos und völlig betrunken, um mit einem Kater alle Gedanken an Gitarren und Hochzeiten und Kleider und halluzinierende alte Damen aus ihrem Kopf zu vertreiben. Sie war so müde, so entsetzlich, schrecklich müde.
Anna war ebenfalls stocknüchtern. Ein paarmal hatte sie gesehen, wie Vladimir offenbar zu ihr herüberkommen wollte, aber dann wurde er immer im letzten Augenblick von irgendjemandem aufgehalten. Er war ein Opfer seines eigenen Erfolgs, heute Abend mehr denn je. Wenigstens hatte sie seinen großen Hund, Luno, zur Gesellschaft. Er war zu ihr herübergeschlendert, als sie ihn mit einem winzigen Yorkshirepudding-Kanapee gelockt hatte. Zu ihrer Verblüffung war er noch länger bei ihr geblieben, nachdem er es gefressen hatte, hatte es sich bei ihr gemütlich gemacht und seinen großen Kopf auf seine zotteligen Pfoten gelegt.
Annas Porträt schien Aufmerksamkeit zu erregen, aber sie selbst war offenbar völlig überflüssig. Sie war nur ein Anhängsel von Vladimir, und der Mann war selbst anwesend, warum sollte also irgendjemand etwas von ihr – dem Kleiderständer – wollen?
»Sie sind doch das Mädchen auf dem Poster, oder?«, dröhnte auf einmal eine heisere Stimme in ihr Ohr. Als sie sich umwandte, sah sie einen Moderator der Frühstückssendung Morning Coffee. Einen, den sie als Ersatz nahmen, wenn Drusilla Durham und ihr Mann Gerald Mandelton irgendwo auf Achse waren. Wie zum Teufel hieß er gleich wieder?
»Tony Barrett«, sagte er wie aufs Stichwort und hielt ihr eine große, fleischige Hand hin. Natürlich: Tony. Wie hatte sie das vergessen können? »Ich musste herüberkommen. Ich finde, Sie sehen einfach fantastisch aus.«
»Oh, vielen Dank«, sagte Anna, erleichtert, mit jemandem reden zu können, wenn auch nur für ein paar Minuten.
»Und in Fleisch und Blut sind Sie sogar noch besser!«
Er zog ständig die Nase hoch. Und seine Augen sahen glasig aus, fiel ihr bei genauerer Betrachtung auf.
»Ich glaube, Vlad hätte keine bessere Frau finden können«, sagte Tony, während er sich ein bisschen zu nah zu Anna vorbeugte und dabei in ihr Top schielte. Offenbar hatte er dieselbe Anmachtechnik wie der andere Tony. Vermutlich würde er gleich zur Sache kommen und sie im nächsten Atemzug fragen, ob sie nicht mit ihm vögeln wollte.
»Na ja, das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Anna, während sie ein Stück zurückwich, um ein bisschen Privatsphäre zu haben.
»Ich hätte Sie gern in meiner Sendung. Was halten Sie davon?«
»Klingt gut!«, lächelte Anna, während er nach vorn und gegen sie taumelte, sodass er ihr den Rest ihres Getränks über ihr Kleid schüttete. Zum Glück war nicht mehr viel in ihrem Glas, und es war Champagner, der keine Flecken hinterließ, aber es gab Tony die Ausrede, die er brauchte, um mit seiner Hand entschuldigend über ihren Körper zu streichen. Er begrapschte sie ganz plump. Anna wich höflich einen Schritt von seiner Hand zurück.
»Schon gut«, sagte sie. »Das macht doch nichts.«
»Tanzen Sie mit mir«, sagte Tony und packte sie beim Arm.
»Später vielleicht«, sagte Anna, jetzt etwas verkniffener lächelnd.
»Nein, kommen Sie schon, wir können über die Sendung reden. Ich habe viel Einfluss, wissen Sie. Ich kann Sie da sehr gut einschieben.« Sie mochte nicht, wie er »einschieben« sagte – mit diesem sexuellen Unterton.
»Anna, kommen Sie, ich brauche Sie«, sagte eine willkommene Stimme an ihrer Seite. Leonid. »Tony, verschwinden Sie. Sie hat keine Zeit zum Tanzen, sie muss mit mir mitkommen.«
Tony zuckte die Schultern und entfernte sich, wobei er gegen die Dame mit dem Kanapee-Tablett stieß, sodass ein paar Mini-Quiches in Lunos Richtung flogen.
»Er hat irgendwelchen Stoff geschnüffelt«, sagte Leonid. »Ich musste Sie retten. Er ist ein grässlicher Mann. Er versucht, alles ins Bett zu kriegen.«
»Sehr schmeichelhaft!«, sagte Anna kopfschüttelnd.
»Vladimir hat mich geschickt, um Ihnen zu sagen, wie leid es ihm tut, dass Sie so viel allein sind. Sie sind ein Riesenerfolg.«
»Nein, er ist der Erfolg«, sagte Anna. »Ich bin nur die Schaufensterpuppe.«
»Er wird gleich bei Ihnen sein«, sagte Leonid. Er konnte kaum glauben, wie sie sich selbst heruntermachte, und gab ihr einen sanften Klaps auf den Po. »Gehen Sie nicht weg.«
Er ersetzte das leere Glas in ihrer Hand durch ein volles, das er geschickt von dem Tablett eines vorbeikommenden Kellners nahm, und entfernte sich.
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war elf Uhr. In einer Stunde würde Tony vor ihrer Tür stehen. Sie dachte daran, wie sehr sie ihn sich zurückgewünscht hatte, aber jetzt spürte sie bei der Aussicht auf seine Rückkehr gar nichts. War sie von dem Schock, dass es endlich dazu kommen würde, vielleicht einfach wie betäubt?
Sie sah hinüber zu Vladimir in seinem hinreißenden Anzug und dem gestärkten weißen Hemd, und irgendetwas regte sich in ihrem Herzen, das sich dort nicht regen sollte. Es schien von Wärme und Lächeln und Seufzern durchströmt zu werden. Vladimir war mit einer rundlichen älteren Schauspielerin aus Emmerdale ins Gespräch vertieft. Er ging so charmant und locker mit seinen Gästen um. Aber das hier war schließlich seine Welt, nicht ihre. Er war Glanz und Glamour und Mercedes mit Chauffeur. Sie war eine Frau aus Barnsley, deren Vorstellung von aufregender Mode, bevor sie Vladimir Darq kennen gelernt hatte, ein Schlussverkauf bei Dorothy Perkins gewesen war. Sie war sein fait accompli. Die Worte dieser spindeldürren Oona-Frau schossen ihr wieder durch den Kopf. Zickig, aber wahr. Ja, Vladimir hatte ihr das Gefühl gegeben, schön zu sein, wie er es geschworen hatte. Er hatte ihr ein mit winzigen Perlen besetztes Korsett geschickt, und ihr Körper war so stolz darauf, es für ihn zu tragen. Sie, Anna Brightside, vierzig Jahre alt, aus der Courtyard Lane, war die Mühe wert, die Zeit wert, den Aufwand wert. Und Frauen weltweit würden bald ihre eigene Darq-Seite entdecken, weil dieser inspirierende Mann der Ansicht war, sie sollten mindestens ebenso hoch, wenn nicht noch höher geschätzt werden als seine Promi-Kundinnen.
Ihre Arbeit hier war erledigt. Sie gehörte in die gewöhnliche Welt, und sie sollte besser früher als später dorthin zurückkehren, denn die Komplikationen kündigten sich schon jetzt an. Sie lief höchste Gefahr, sich in seine zärtliche Wesensart und seine Verehrung für sie zu verlieben, und dabei konnte sie nur verletzt werden. Ja, er hatte ihre innere Sirene zum Leben erweckt. Das Problem war nur, diese Sirene wollte ihn. Er hatte sie auf ein so hohes Podest gestellt, dass sie sich nicht sicher war, ob ein normales Leben für sie überhaupt noch möglich war.
Es war an der Zeit, nachhause zu fahren und sich mit Tony zu befassen. Sie würde sich anhören, was er zu sagen hatte, und dann entscheiden, was sie wollte. Was sie wollte.
Sie warf einen letzten Blick in den herrlichen Saal, der mit riesigen Monden und Sternen vor schwarzen Samtvorhängen geschmückt und voller Musik und Geplauder und beeindruckender Leute war. Sie erhob ihr Glas in Vladimir Darqs Richtung und nahm einen kräftigen Schluck Champagner.
Viel Glück, Vladimir. Ich wünsche dir alles, was dich glücklich macht.
Anna strich Luno über seinen großen Kopf, und dann schlüpfte sie zur Haustür hinaus, wo die kostenlosen Taxis für die Gäste warteten. Sie glaubte, unbemerkt entkommen zu sein.
Der Taxifahrer nahm eine falsche Abzweigung. Er tippte wie wild in sein Navigationssystem, während er zur Entschuldigung erklärte, er habe den Job erst seit einer Woche. Er fuhr keinen großen Umweg, aber als sie um die Ecke in die Courtyard Lane einbogen, sah Anna, dass Vladimir Darq bereits vor ihrer Haustür stand, im Mondschein so blass, dass er wie ein Besucher aus einer anderen Welt aussah.
»Wie … wie sind Sie denn so schnell hierhergekommen?«, waren ihre ersten atemlosen Worte an ihn, nachdem sie aus dem Taxi gestiegen war und sich mit einem Wink von dem Fahrer verabschiedet hatte. »Und warum haben Sie einen blauen Stöckelschuh in der Hand?«
Er hielt ihr den Schuh hin.
»Den haben Sie verloren, als Sie von meinem Ball davongelaufen sind, Cinderella. Oder etwa nicht?«
Anna hob ihr Kleid an, sodass Vladimir ihre Füße sehen konnte. Beide steckten in Schuhen.
»Nein, habe ich nicht«, sagte sie.
»O Gott«, sagte er und rieb sich die Stirn. »Ich habe ihn draußen bei den Wagen gefunden. Ich dachte … na, dann wird bald irgendjemand sehr wütend auf mich sein.«
»Stinksauer«, sagte Anna lächelnd. »Außerdem ist der Schuh riesig!«
Er hätte gut in die Norfolk Broads gepasst.
»Warum sind Sie geflüchtet, Anna?« Wie immer sprach er ihren Namen eher wie Ah-na als wie Anna aus. Wie einen Seufzer.
»O Vladimir, was glauben Sie denn?« Anna seufzte nun selbst tief. »Sehen Sie mich doch an. Sehen Sie, wo ich lebe!« Sie deutete hinter sich auf das kleine Haus. »In einem Reihenhaus mitten in Barnsley. Ich arbeite in einem Büro. Ich jette nicht nach Mailand. Ich habe keine Freunde, die Popstars sind. Sie haben mir das Gefühl gegeben, wundervoll zu sein. Und jetzt muss ich in meiner eigenen Welt wundervoll sein.« Falls ich das überhaupt noch kann, nachdem Sie meine Welt so auf den Kopf gestellt haben, dass ich nicht mehr weiß, wohin zum Teufel ich gehöre, Sie Vampir-Monster.
»Sie könnten nach Mailand fliegen und sich unter die Popstars mischen.«
»Ja, na klar, ich könn… Mw!«
Sie hatte keine Chance, ihren Satz zu beenden, denn Vladimir Darq überbrückte die Distanz zwischen ihnen in einer Nanosekunde, nahm Anna unsanft in seine Arme und erstickte ihre Worte mit seinen Lippen.
Großer Gott, sagte ihr Gehirn anstelle ihres Mundes, der anderweitig beschäftigt war. Vladimir hatte ihr einen Arm um die Taille gelegt, und mit dem anderen strich er ihr das Haar nach hinten und drückte ihren Hals an sich. Sie sahen aus wie das Umschlagbild eines schnulzigen Liebesromans. Mit dem Titel Verschlinge mich.
O Gott, er wird mich umbringen, dachte sie. Und gleich darauf: Und es ist mir egal! Seine Lippen liebkosten ihre Halsschlagader, schossen schlummernde Feuerwerksraketen an ihren Nervenenden ab. Diese riesigen Feuerwerksraketen mit den vielen Köpfen, die unentwegt in den Himmel schossen, sodass ganze Städte »Wow!« riefen.
Sie konnte seine schwarzen Haare sehen, ihn an ihren Lippen schmecken, das wundervolle Alphamännchen-Aftershave riechen, das er aufgelegt hatte, ihn atmen hören, seinen kräftigen Körper spüren, der sich an ihren presste … Sie wünschte nur, sie hätte noch mehr Sinne gehabt, um ihn wahrzunehmen, denn fünf schienen ihr nicht genug. In der Vergangenheit hatte sie sich – öfter, als sie zugeben wollte – gefragt, wie es wohl sein würde, ihn zu küssen, aber nicht einmal in ihren kühnsten Träumen hatte sie sich ausgemalt, dass es so schön sein würde. Es war eine Erfahrung, die nur noch von seiner Stimme übertrumpft wurde, die an ihrem Nacken bebte und flüsterte: »Anna, du hast mich in den Wahnsinn getrieben, als ich dich das erste Mal sah, und jetzt treibst du mich aus ganz anderen Gründen in den Wahnsinn. Ich will dich so sehr. Du gehörst in meine Welt. Du gehörst zu mir.«
Natürlich, das konnte nicht wahr sein. Sie hatte zu viel Champagner getrunken und halluzinierte. Aber konnte man nach zwei Gläsern denn halluzinieren? Vielleicht hatte ihr jemand irgendwelchen »Stoff« ins Glas gekippt? In Wirklichkeit war Vladimir im Darq House und baggerte diese langbeinige, magere Zicke an, und sie war hier allein im Mondlicht und träumte den schönsten Tagtraum ihres Lebens. Aber sie halluzinierte nicht, es geschah tatsächlich. Vladimir sagte diese Dinge, und sie atmete schwer, da sich sein Mund über ihrem Hals bewegte, als würde er auf einer Harmonika einen langsamen Blues spielen.
Dann richtete er sie auf und stellte sie vor sich hin und sah ihr tief in die Augen.
»Ich habe Gäste, ich muss zurück. Morgen Früh um elf werde ich dich abholen. Ich werde dir die wahre Welt des Vladimir Darq zeigen.« Er nahm ihre Hand und küsste sie, und dann drückte er ihr noch einen langen, sinnlichen Kuss auf die Lippen. Er zog sich quälend langsam von ihr zurück und ließ Anna in seinem Nachbeben zurück, voller Angst davor, die Augen aufzuschlagen und ihn gehen zu sehen.
Als sie sie wieder öffnete, war er verschwunden. Sie fühlte sich, als hätte sie soeben zehn Runden mit einem liebestollen Rocky Marciano gekämpft. Ihr war so schwindelig, dass sie glaubte, sie würde wie ein Heliumballon zu diesem großen Vollmond aufsteigen, wenn sie ihre schwere Handtasche losließ.
Sie lehnte sich gegen die Tür, um nicht den Halt zu verlieren, reckte den Hals und hielt ihn einem imaginären Vladimir hin, um noch mehr von ihm zu bekommen. Was meinte er mit »seine wahre Welt«?, fragte sie sich. Würde er ihr seinen und ihren Sarg im Keller zeigen? Die Flaschen mit Jungfrauenblut? Der Mond strahlte ein weiches, silbriges Licht auf sie hinunter. Sterne funkelten am Himmel. Sie waren wie winzige Perlen, die auf ein Samttuch genäht waren.
Sie stand da, seufzte wie in einem Hollywood-Musical und dachte, sie würde in dieser Nacht niemals einschlafen können, nicht in einer Million Jahren, als sie auf einmal das leise Tuckern eines sich nähernden Wagens hörte, der im nächsten Augenblick in ihre Straße einbog. Tony. Sie hatte ihn ganz vergessen. Sie hatte ihn allen Ernstes vergessen. Noch vor einer halben Stunde war sie bereit gewesen, sich seine Entschuldigungen anzuhören, aber nach diesem Kuss war das ein Ding der Unmöglichkeit. Er grinste selbstgefällig, während er vorfuhr, dann zog er verwirrt die Stirn in Falten, und dann lächelte er wieder, breiter als je zuvor.
»Anna! Wow! Ich habe dich im ersten Augenblick gar nicht erkannt. Ich dachte, das muss jemand anders sein. Du siehst hinreißend aus – wie ein Model. Bist das wirklich du? Wow!«
Er sprang aus dem Wagen, und sie sah sofort die Koffer auf der Rückbank.
»Ich bin früh dran, Schatz«, sagte er. »Und du auch. Du konntest es nicht erwarten, was? Ich auch nicht. Dieses Kleid steht dir fantastisch. Ich kann es kaum noch erwarten, es auf dem Schlafzimmerboden liegen zu sehen. Komm her, ich habe dich so vermisst.« Er trat auf sie zu, die Arme weit ausgebreitet, um sie zu umarmen, aber sie hielt ihn mit einer Hand auf und sagte entschieden seinen Namen.
»Tony.« Sie wusste nicht, was sie sonst noch sagen sollte außer: »Nein.«
Er blieb wie angewurzelt stehen, die Arme noch immer ausgebreitet. »Nein?«, fragte er schließlich. »Was soll das heißen – nein?«
»Ich habe nachgedacht. Ich will dich nicht wiederhaben.«
»Ach, komm schon«, sagte er, noch immer mit diesem breiten Grinsen im Gesicht. »Du weißt doch, dass du es willst. Deswegen hast du mir doch gesagt, ich soll um Mitternacht wiederkommen.«
»Das habe ich nicht gesagt. Das hast du gesagt«, stellte Anna richtig.
»Ist doch dasselbe.«
»Tony, das vorhin … du hast mich da überrumpelt. Ich war völlig durcheinander. Aber jetzt bin ich es nicht mehr.«
»Du nimmst mich auf den Arm«, sagte er. Er lächelte noch immer, jetzt offenbar entzückt. »Ah – verstehe. Du willst mich noch ein bisschen zappeln lassen!«
»Nein, das will ich nicht. Du wirst zurück zu Lynette gehen müssen.«
»Das kann ich nicht«, sagte er. »Ich meine, das will ich nicht. Ich will dich, nicht sie.«
»Tony, ich will dich nicht.«
»Doch, das willst du. Wie oft bist du denn an meinem Salon vorbeigefahren, um mich zu sehen?«
So eine Frechheit, dachte Anna. Er hatte sie gesehen. Und zweifellos hatte es ihm einen Kick gegeben, hatte ihn glauben lassen, ihre Tür würde für ihn offen sein, sobald er sich dazu herabließ, zu ihr zurückzukehren.
»Gehen wir ins Haus und reden wir darüber«, sagte er.
»Nein«, sagte Anna und hob wieder die Hand. »Ich will nicht, dass du ins Haus kommst. Ich will dich nicht, Tony. Es ist aus.«
Er lächelte noch immer, als würde er ihr nicht glauben. Bis einen Augenblick später die quietschenden Reifen eines zweiten Wagens die Nachtluft durchschnitten und ein rostiger rosa Fiat Punto keinen halben Meter hinter Tonys Stoßstange zum Stehen kam. Dann schwand sein Lächeln schlagartig.
»Hab ich doch gewusst, dass du hier steckst, du treuloser Schuft«, schrie eine sehr aufgebrachte, knallrot angelaufene Lynette Bottom und sprang auf den Gehsteig. Ein Vorhang zuckte im oberen Schlafzimmer der Katzendiebin. Dann sah Lynette die glamouröse Frau in blauem Samt, und ihr Gesicht verzog sich vor Verwirrung und Verlegenheit. Als sie noch einmal genauer hinsah, erkannte sie, dass es tatsächlich Tonys Exfreundin war. Gott! Sie wickelte ihre Strickjacke fester um sich und kam sich auf einmal sehr schäbig und abgerissen vor.
»Na ja, du kannst ihn gern haben«, sagte Lynette zwischen heißen Tränen der Wut. »Er ist zu nichts zu gebrauchen, wofür man keine Schere und keinen Kamm braucht. Zum Beispiel … im Bett!«
»Hey«, sagte Tony.
»Er hat die Wörter ›Qualität‹ und ›Quantität‹ ein bisschen verwechselt!«, fuhr Lynette bissig fort. »Er glaubt, wenn er es dreimal bringt, kriegt man nicht mit, wie beschissen er ist!«
»Lynette …«
»Hat er dir eigentlich erzählt, dass ich letzten Monat dachte, ich sei schwanger?«
Tony hielt sich eine Hand vor die Augen. Vielleicht tat er genau das, was kleine Kinder taten, die dachten, wenn sie die Augen zukniffen, könnte auch niemand sie sehen.
Anna stockte der Atem. »Nein, das hat er nicht.«
»Aber du bist nicht schwanger«, sagte Tony, zwischen seinen Fingern hindurchschielend.
»Nein, aber ich dachte es, und ich habe dir gesagt, ich könnte es sein«, sagte Lynette und schnellte zu ihm herum. »Und wo warst du, während ich beim Arzt saß? Hast dich wieder hier herumgetrieben, stimmt’s, du … du … du Arschloch.« Sie zeigte mit einem spitzen Finger auf Anna, doch dann ließ sie ihn wieder sinken, denn neben dieser Frau in dem langen Kleid kam sie sich ein bisschen gewöhnlich vor. »Na ja, du kannst ihn gern haben. Der Dreckskerl hat mir eine Nachricht dagelassen, auf der stand: ›Ich brauche ein bisschen Abstand.‹ und ›Es gibt keine andere.‹, und dann hat er sich einfach davongestohlen und gedacht, ich würde es gar nicht mitkriegen. Aber ich habe gesehen, wie er seine Koffer ins Auto gepackt hat, denn seine Art sich zu verabschieden ist genauso beschissen wie sein Vorspiel. Und ich wusste einfach, dass er wieder hier zu Kreuze kriechen würde! Nimm ihn ruhig, er gehört dir!«
»Danke für dein großzügiges Angebot, Lynette, aber ich muss es leider ausschlagen«, sagte Anna. Sie war beherrschter, als sie es selbst für möglich gehalten hätte. »Ich wünsche euch beiden noch einen schönen Abend. Tony, wir sprechen uns noch wegen der Aufteilung der Vermögenswerte.« Obwohl sie – nach dem Schrei zu urteilen, den sie hörte, als sie die Tür aufgesperrt und hinter sich wieder geschlossen hatte – vermutete, dass Lynette vielleicht schon angefangen hatte, Tonys Vermögenswerte aufzuteilen.
Wenig später hörte Anna erst den einen Wagen mit quietschenden Reifen abfahren und dann den anderen, weitaus langsamer, als hätte Tony den Schwanz eingezogen. Sie wusste nicht, ob beide in dieselbe Richtung fuhren. Und es war ihr, wie sie mit einer gewissen Befriedigung feststellte, auch egal.
Sie hörte ein empörtes Aufkreischen zu ihren Füßen, als sie in die dunkle Küche ging, um Wasser aufzusetzen, und auf etwas Weiches trat. Offenbar hatte auch Butterfly sich diesen Abend ausgesucht, um nachhause zu kommen. Auf eine typisch männliche Art, mit eingezogenem Schwanz.