Sechsundzwanzigstes Kapitel
Ich kann gar nicht glauben, dass Dad dir das angetan hat!«, sagte Paul wütend durchs Telefon, während er von seinem Büro aus mit Grace sprach. »Was bildet er sich eigentlich ein, dich irgendwohin zu schleppen, wo du gar nicht sein willst! Ich sage dir, Mum, mit dem Alter wird er immer schlimmer. Er ist ein Kontrollfreak!«
»Ich bin nur froh, dass du meine Nachricht noch rechtzeitig bekommen hast«, sagte Grace, das Handy ans Ohr geklemmt. Sie saß in ihrer Mittagspause auf einer Parkbank und aß ein Sandwich. »Mein Akku war auf einmal leer, als ich dir diese SMS geschrieben habe. Und ich hatte mich schon so darauf gefreut, dich und Charles zu sehen.«
Grace war eine grauenhafte Lügnerin, und sie wusste, dass Paul nicht wirklich überzeugt von ihrer SMS gewesen sein konnte, sie und Gordon hätten sich zu einem spontanen Kurztrip ans Meer entschlossen. Schon gar nicht zu einem Ort, den sie beide oft im Scherz als das letzte Dreckloch bezeichnet hatten. Trotz aller Verstellungen hatte Paul die Wahrheit aus ihr herausgekitzelt, kaum dass er eine Minute mit ihr gesprochen hatte, und er war stocksauer.
»Du wirst Charles bald kennen lernen, das verspreche ich dir«, knurrte Paul. »Mum, ich sage es nur ungern, aber Dad dreht allmählich wirklich durch.«
»Sei nicht albern, Schatz …«
»Im Ernst. Laura hat mir erzählt, was neulich mit dem kleinen Joe beim Fußballspielen passiert ist.«
»Nicht doch, Paul, so schlimm ist er nun auch wieder nicht.« Grace kam sich immer treuloser vor, da sie nicht sagte, was sie wirklich empfand.
»Das Problem mit Dad ist, dass er immer der nette Dr. Jekyll war, solange alles nach seiner Pfeife tanzte, und sobald das nicht mehr der Fall ist, tritt Mr. Hyde mit voller Wucht in Erscheinung. Und Mr. Hyde tritt in letzter Zeit immer öfter in Erscheinung, Mum, da wir jetzt alle erwachsen sind und er uns nicht mehr vorschreiben kann, was wir zu tun haben. Warum hat sich denn diese ganze Wut in ihm aufgestaut? Es ist, als ob er immer nur auf eine Ausrede gewartet hätte, um um sich zu schlagen. Ich habe das nie begriffen.«
Grace seufzte. Sie wusste natürlich, warum. Die Wut war aus Frustration entstanden. Jahrelanger sexueller Frustration, da er impotent war und zu dumm und zu stolz, um professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Aber das war natürlich nichts, was sie ihrem Sohn sagen konnte.
»Paul, Schatz …«
»Ich sage dir, Mum, ich verstehe nicht, wie du es all die Jahre mit ihm ausgehalten hast. Du kannst doch nicht glücklich gewesen sein.«
»Aber natürlich war ich das«, sagte Grace. »Du hast mich zur glücklichsten Frau der Welt gemacht.«
»Dann sag mir eines: Wenn er nicht drei kleine Kinder gehabt hätte, als du ihn kennen gelernt hast, hättest du ihn dann je geheiratet?«
Grace machte den Mund auf, um zu antworten, aber ja, natürlich hätte sie es getan, aber sie wusste, dass das nicht stimmte, und Paul würde es ebenfalls wissen. Ihre Ehe war staubtrocken, und sie war immer nur von der Liebe ihrer Kinder zusammengehalten worden. Der Liebe seiner Kinder.
»Es geht mir gut, wir kommen schon miteinander aus.« Grace wechselte rasch das Thema, schlug einen fröhlichen Ton an. »Und, wann sehe ich dich wieder? Ich habe noch immer dieses Osterei, das ich dir schenken wollte.«
»Mum, ich bin ein erwachsener Mann!«, sagte er in demselben Ton wie letztes Jahr, als er lachend das große Schokoladenei entgegengenommen hatte. Sie hatte gewusst, wie sehr er sich darüber freuen würde.
»Für ein Osterei ist man nie zu alt«, sagte sie. Auch wenn Gordon schon immer zu alt für solche Albernheiten gewesen war.
»Nach dem hier habe ich nur noch einen leeren Karton«, sagte Raychel, während sie die Ölbilder einpackte, die sie gemalt hatte. Ben hatte ihr oft gesagt, sie solle sie verkaufen, aber Raychel tat grundsätzlich nichts, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie war zufrieden damit, sie nur zu ihrem eigenen Vergnügen zu malen. Auf Kunst und Handarbeit hatte sie sich schon immer so gut verstanden. Sie hatte ihr ganzes Bettzeug selbst genäht und auch die hübschen Vorhänge gemacht, die sie dem nächsten Mieter daließen, da in ihrer Wohnung alles frisch und neu und sauber sein sollte.
»Auf der Arbeit haben wir noch jede Menge«, sagte Ben. »Ich werde meinen Chef fragen, ob ich ein paar davon haben kann, da hat er bestimmt nichts dagegen.« Ben mochte seinen Chef. Er war ein Bär von einem Mann, der bei seiner Arbeit nicht an den Kosten sparte und seine Angestellten gut und pünktlich bezahlte. Sie konnten von Glück reden, so viele Aufträge zu haben, während viele andere Baufirmen Pleite machten. Aber John Silkstone besaß in der Gegend einen guten Ruf als ein Handwerker, der faire Preise berechnete und seine Kunden nicht auflaufen ließ, indem er ein Versprechen nicht einhielt.
»Wunderbar.« Raychel bückte sich, um als Nächstes die Anrichte auszuräumen. Sie zog die oberste Schublade auf und entnahm ihr das Schatzkästchen, das sie darin aufbewahrte. Sie schob den Deckel auf, und dort, ganz oben auf dem Stapel mit den Briefen und Karten von Ben, lag der kleine gelbe Pullover mit den Entenknöpfen in einer zerknautschten Plastiktüte. Er war ungetragen. Sie hatte ihn selbst gestrickt, zur Geburt ihrer kleinen Schwester, als Raychel selbst noch ein Mädchen war. Sie konnte es kaum ertragen, ihn anzusehen, aber sie hätte ihn auch niemals wegwerfen können.
Ben sah, wie sie ihre zitternden Finger ausstreckte, um durch das Plastik zärtlich darüberzustreichen, und ging rasch dazwischen.
»Komm schon, Schatz, hören wir für heute mit dem Packen auf. Genug für einen Tag.«
Als Anna nach der Arbeit zum Bahnhof ging, stand ihr kein Mann in Schwarz gegenüber. Und auch nicht hinter ihr, im Begriff, ihr in den Nacken zu hauchen. Sie war unerklärlicherweise verärgert darüber, dass er sie an diesem Abend nicht verfolgte. Wie bizarr war das?
Ein Signalton ertönte, und dann verkündete ein Lautsprecher, dass ihr Zug eine Viertelstunde Verspätung haben würde. Sie setzte sich auf eine Bank auf dem Bahnsteig und zückte ihr Handy, um einen Blick auf die Uhr zu werfen. Die schwarz umrandete Karte mit Vladimir Darqs Namen steckte gleich daneben in ihrer Handtasche. Na los, ruf schon an, flüsterte eine innere Stimme verführerisch in ihrem Kopf. Sie dachte an sein Versprechen, ihre Darq-Seite hervorzuholen. Sie dachte an Tony und wie sie ihn mithilfe ihrer neu erweckten inneren Göttin zurückgewinnen könnte. Es war einen Versuch wert; alles war einen Versuch wert. Sie tippte die ersten beiden Ziffern auf ihrem Handy ein – und löschte sie wieder. Dann stellte sie sich vor, wie sie in einer samtenen Schößchenjacke vor Tony stand, seine Hände wieder auf sich spürte …
Sie nahm sich zusammen und wählte noch einmal, diesmal die ganze Nummer. Sie hielt sich das Handy ans Ohr und hörte es dreimal surren, und dann antwortete die Stimme eines Mannes – seine Stimme – mit einem knappen »Hallo«.
»Ähm, ich bin’s, vom Bahnhof.«
»Ah.«
»Anna Bri…«
»Ja, ich weiß, wer Sie sind.«
»Ich rufe nur an, um zu sagen …«
»Meine Adresse ist Darq House in Higher Hoppleton«, schnitt er ihr das Wort ab. »Wo wohnen Sie?«
»Ähm, 2, Courtyard Lane – das ist in Dartley.«
»Halten Sie sich am Samstagabend um sieben Uhr bereit, bitte«, unterbrach er sie mit einem osteuropäischen Akzent, der keinen Widerspruch duldete. »Ein Wagen wird Sie abholen. Sie werden hierherkommen, und ich werde Sie für die Aufnahmen vorbereiten. Tragen Sie Ihre bequemste, nicht Ihre beste Unterwäsche. Ich wiederhole, Ihre bequemste.«
Und damit war die Leitung tot.