Fünf
Portula und Hesperus
saßen sich an einem niedrigen Spieltisch gegenüber. Kleine
Gespensterarmeen bewegten sich über eine von Nebel und
Pulverschwaden verhüllte Ebene. Die beiden Spieler befehligten ihre
Bataillone wie geschickte Marionettenspieler mit
Handbewegungen.
»Hast du Doktor
Meninx gesehen?«, fragte ich. Ich war soeben aus dem Antriebsraum
ins Oberschiff gekommen.
»Der schläft noch
oder was immer er in seinem Tank so macht«, erwiderte
Portula.
»Eine
Schande.«
»Du sagst
es.«
Hesperus vollführte
eine Reihe komplizierter Gesten und teilte seine Streitmacht in
zahlreiche kleine Abteilungen auf. Portula schnitt eine Grimasse,
als er ihre Stellung überrannte und wie eine Horde wütender
Insekten über ihre Soldaten herfiel. Auf einer kleinen, von Rauch
eingefassten Erhebung wurde eine winzige Fahne geschwenkt. Ich
dachte an die Gespenstersoldaten des Grafen Mordax, die mit ihren
bleichen, knochigen Pferden das Königreich erstürmt
hatten.
»Sieht so aus, als
hätte er dich schon wieder geschlagen«, sagte ich.
»Er gewinnt immer«,
meinte Portula und lehnte sich zurück. »Ich habe ihn gebeten, auf
meiner Spielstufe zu spielen, aber das tut er nicht.«
»Es ist mir lieber,
ich besiege Sie, als dass ich Sie beleidige«, sagte Hesperus.
»Außerdem ist das Spiel ein gutes Gedächtnistraining. Seit unserer
letzten Unterhaltung hat sich mein Kurzzeitgedächtnis erheblich
verbessert, Campion.«
»Das ist
schön.«
Portula erhob sich
und streifte mir mit dem Finger über die Wange. »Jetzt habe ich
genug gespielt und mich amüsiert. Wir müssen beide
arbeiten.«
»Die Stränge«, sagte
ich betont gelangweilt.
»Wir können es nicht
länger aufschieben. Ich sollte vielleicht zu den Silberschwingen hinüberflitzen und mich mit meiner
Version der Geschichte befassen.«
Es möglichst lange
hinauszuschieben, war genau meine Absicht gewesen. Wir waren vor
zwei Tagen von Ateshgas Sonnensystem aufgebrochen; vor
zweihundertundzwei Tagen hatte er sich unseren Wünschen gebeugt.
Dank Hesperus waren die Arbeiten zu unserer Zufriedenheit
abgeschlossen worden. Die Bummelant
flog knapp unter Lichtgeschwindigkeit dahin.
»Ich möchte Sie
nicht von Ihrer Arbeit abhalten«, sagte Hesperus. »Aber dürfte ich
Ihnen eine Frage stellen, Campion?«
»Nur
zu.«
»Sie betrifft
unseren Gast.«
»Dank Ateshga haben
wir viele Gäste.«
»Ich spreche von
Doktor Meninx.«
»Das habe ich mir
schon gedacht. Macht er Schwierigkeiten?«
»Ich habe den
Eindruck, dass Doktor Meninx nicht sonderlich erfreut über meine
Anwesenheit ist. Ist diese Einschätzung zutreffend?«
Ich versuchte, seine
Frage mit einem Achselzucken abzutun. »Ich weiß nicht, was in
seinem Kopf vorgeht.«
»Wüsste ich es nicht
besser, würde ich sagen, er ist ein Leugner. Daran erinnere ich
mich noch. Die Leugner sprechen den Maschinen die Fähigkeit ab,
Gefühle zu empfinden. In ihrer extremsten Ausprägung zielen sie
darauf ab, die Maschinenintelligenz in der ganzen Galaxis
auszulöschen.«
»Ich glaube, ganz so
weit würde Doktor Meninx nicht gehen wollen.«
»Warten wir’s ab«,
murmelte Portula.
»Aber er ist doch
ein Leugner, oder irre ich mich?«, sagte Hesperus.
»Ich glaube, es ist
ihm nicht besonders ernst damit«, erwiderte ich ausweichend. »Die
Familien treiben kaum Handel mit den Leugnern. Wenn Gromwell den
Verdacht gehabt hätte, dass Meninx ein überzeugter Maschinenhasser
ist, hätte er dem Doktor nicht die Teilnahme an unserer Reunion
gestattet.«
»In Anbetracht
seiner erzwungenen Verspätung könnte man vermuten, Doktor Meninx
sei der Ansicht, dass er sich um die politische Linie der Gentianer
nicht zu scheren braucht. Vielleicht lässt er seine Maske ja jetzt
fallen.«
»Der Doktor hatte
gewisse Bedenken, Sie an Bord zu lassen. Allerdings hatten sie
weniger damit zu tun, dass Sie ein Maschinenwesen sind, als
vielmehr mit dem Umstand, dass Sie ein unbeschriebenes Blatt
darstellen.«
»Ich verstehe«,
sagte Hesperus, als hätte er meiner Antwort weit mehr Informationen
entnommen, als ich hatte preisgeben wollen.
»Das ist eigentlich
keine große Sache. Sie müssen sich nicht begegnen, wenn Sie nicht
wollen. Auf keinen Fall stellt er eine Bedrohung für Sie
dar.«
»Davor habe ich
keine Angst. Ich möchte lediglich freundschaftliche Beziehungen zu
Ihrem Gast herstellen, weil ich die Hoffnung hege, ihn dazu
veranlassen zu können, dass er Licht in einige bislang noch dunkle
Winkel meines Gedächtnisses bringt. Portula hat mir gesagt, der
Doktor sei ein Gelehrter und im Begriff, ein neues
Forschungsvorhaben in Angriff zu nehmen. Das hat eine Saite in mir
zum Schwingen gebracht, so als wiesen wir in der Beziehung eine
Gemeinsamkeit auf.«
»Der Doktor war
unterwegs zur Vigilanz«, sagte ich.
»Zur Vigilanz«,
wiederholte Hesperus bedächtig. »Davon habe ich gehört, kann aber
nicht mehr sagen, in welchem Zusammenhang. Was ist aus seinem
Vorhaben geworden?«
»Nichts. Wenn ich
ihn dort abgesetzt hätte, wäre mein Zeitplan durcheinander
gekommen.« Ich lächelte gezwungen. »Sehen Sie’s doch mal so: Hätte
ich Meninx nicht enttäuscht, wären wir uns nie
begegnet.«
»Dann wäre ich noch
immer Ateshgas Gefangener.«
»Genau.«
»Dann kann man wohl
sagen, Doktor Meninx’ Pech war mein Glück. Ich würde gern mehr über
die Vigilanz erfahren, Campion: Jetzt, da das Wort gefallen ist,
habe ich das Gefühl, dort liegt der Schlüssel zu meinen
verschütteten Erinnerungen verborgen. Ich kann es kaum erwarten,
mit dem Doktor über meine missliche Lage zu sprechen.«
»Ich kann Ihnen über
die Vigilanz erzählen, was Sie wissen wollen«, sagte ich. »Ich war
schon mal dort. Möchten Sie einen Blick in meinen Datenspeicher
werfen?«
»Sehr gern«, sagte
Hesperus.
Als ich die
interstellare Geschwindigkeit verringerte, sah die Vigilanz von
außen betrachtet so aus, als habe man dort, wo die Milchstraße den
Norma- und den Cygnus-Arm durchschneidet, ein Loch in die blässlich
schimmernde Sternenwolke gemacht. Im Infraroten war dies die
heißeste Stelle in einem Umkreis von tausend Lichtjahren, und sie
flammte so hell wie ein Leuchtfeuer. Die vom Stern im Zentrum der
Vigilanz stammenden Photonen des sichtbaren Spektrums waren in
Wärme verwandelt worden und verteilten sich in alle Richtungen. Auf
ihrem Weg hatten sie einen Großteil ihrer Energie an die
unaufhörlichen Informationsgewinnungs- und Archivierungsaktivitäten
der Vigilanz abgegeben. Der Stern war der Motor im Keller der
Bibliothek, eine Maschine, die Wasserstoff in Daten
umwandelte.
Die Vigilanz umgibt
einen Stern vom Soltyp, dem von der Hauptsequenz noch etwa eine
Milliarde Jahre bleiben, wenn man nicht vorher ein Wurmloch in den
Kern einbringt, um ihn mit neuem Brennstoff zu versorgen.
Irgendwann hatte der Stern zweifellos ein ganzes Arsenal von
Planeten, Monden, Asteroiden und Kometen besessen, doch davon war
nichts mehr übrig. Jedes verwendbare Atom im System war in die
Komponenten eines Dyson-Schwarms verbaut worden, von denen es rund
zehn Milliarden gab. Die Früheren verstanden es, Welten zu
zertrümmern und aus deren Überresten die lückenlose Schale einer
Dyson-Sphäre zu formen. Menschen können das Zertrümmern nachahmen,
doch bislang sind alle Versuche, eine Schale mit der erforderlichen
Stabilität zu konstruieren, gescheitert. Wir schaffen es
allenfalls, einen Stern mit einem Schwarm von Himmelskörpern
einzuhüllen, die ihn auf unterschiedlichen Bahnen umkreisen wie
Mücken eine Laterne.
Fünfzig Lichtstunden
von der Außengrenze entfernt, ersuchte ich per Funk um die
Erlaubnis zur weiteren Annäherung und wies mich als Gentianer aus.
Ich bekam keine Antwort. Ich verlangsamte bis auf
Systemgeschwindigkeit und sandte weitere Annäherungsersuche aus.
Ich verhielt mich vorschriftsgemäß und befolgte den weisen Rat des
Datenspeichers. Die Entfernung verkürzte sich auf ein paar
Lichtstunden. Ich bremste weiter ab, bis auf eine Geschwindigkeit,
mit der ich ein Jahr gebraucht hätte, um die verbliebene Distanz
zurückzulegen. Abgesehen von einem gelegentlichen kurzen Nickerchen
blieb ich die ganze Zeit über wach und gestattete mir nicht einmal
eine Dosis Synchromasch. Allmählich schwoll die schwarze Sphäre an,
bis sie die Hälfte des Himmels einnahm und ihr Horizont so flach
war, dass ich das Gefühl hatte, ich wäre am Ende des Universums
angelangt. Als ich noch drei Lichtsekunden entfernt war, ließ sich
die Vigilanz herab, mich zur Kenntnis zu nehmen.
Genau genommen
handelte es sich um einen Angriff. Die sengenden Energien, die
gegen die Bummelant anbrandeten,
reichten aus, um mehrere Meter der Hülle zu verdampfen, bevor der
Impassor seine volle Leistung erreichte. Ich hatte den Impassor
nicht hochgefahren, weil man das als feindliche Absicht hätte
interpretieren können. Was die Vigilanz betraf, handelte es sich
lediglich um einen höflichen Anruf. Man stellte meine
Ernsthaftigkeit auf die Probe und testete, ob es sich lohnte, mit
mir Geschäfte zu treiben.
Es hätte eigentlich
reichen sollen, dass ich den Anruf überlebte, doch die Vigilanz
hielt es für angebracht, die Eingangskriterien mehrfach zu
verschärfen, bevor ich die Oberfläche des Schwarms erreichte. Immer
stärkere Energien brandeten gegen meine Schutzschirme an und
beanspruchten sie bis zur Leistungsgrenze. Hätte man mich als reale
Bedrohung eingestuft, hätten mich die massierten Abwehrsysteme
gleich mehrfach vernichten können. Stattdessen spielte man mit mir
und neckte mich, nicht mehr und nicht weniger.
In diesem Moment
öffnete sich ein Tor. Die Orbits Tausender Außenkörper waren so
justiert worden, dass sich im Schwarm ein dunkler Tunnel bildete,
der pfeilgerade ins Zentrum führte. Meine Nervosität erreichte
ihren Höhepunkt. Als das Tor sich hinter mir schloss, war ich von
allen Seiten her verwundbar. Während ich tiefer sank, verdeckten
mir die Schwarmkörper die Sicht auf den offenen Raum. Die
Bummelant meldete, der Raum ringsum
knistere von Informationen. Die Hauptstrahlen wurden um uns
herumgeleitet, doch hin und wieder wurde ein Photon an einem
Staubkorn gestreut und auf die Sensoren der Bummelant abgelenkt.
Die Sphären waren
künstliche Welten. Die größten von ihnen hatten einen Durchmesser
von zehn Kilometern, die kleinsten waren kaum größer als die
Bummelant. Die dunkle, glatte
Oberfläche der Sphären wurde nur von den kreisförmigen Öffnungen
der Signalantennen durchbrochen. Dem Datenspeicher zufolge befanden
sich in den Sphären konzentrische Ebenen von
informationsverarbeitenden Maschinen, die um einen faustgroßen Kern
von Quarkmaterie angeordnet waren. Levatoren hinderten die Knoten
daran, in sich zusammenzufallen. Die Daten waren entsprechend ihrer
Verlässlichkeit und Abrufhäufigkeit in Schichten angeordnet.
Besonders wertvolle Daten oder solche, die nur selten aktualisiert
wurden, waren in der sicheren, stabilen Tiefe der Quarkkerne
konzentriert. Es war mühsam, sie ein- und auszulesen, doch auf
diese Weise waren sie vor ungewollten Änderungen oder einer
unbeabsichtigten Löschung sicher und selbst vor einer lokalen
Supernova geschützt. Zweifelhafte oder flüchtige Daten wurden in
den mittleren und den Außenschalen aufbewahrt und bei Bedarf höher
oder niedriger eingestuft. Neue Daten wurden unter der
gewissenhaften Aufsicht der Kuratoren von außen eingespeist. Nur
wenige Lebende hatten jemals eines dieser fremdartigen, langsamen
Wesen zu Gesicht bekommen. Man vermutete, dass es mindestens so
viele Kuratoren wie Schwarmkörper gab, doch da die Kuratoren kaum
jemals innerhalb oder außerhalb des Schwarms reisen mussten, ließ
sich ihre tatsächliche Anzahl nicht ermitteln.
Ich hatte die
Speicher konsultiert, doch die einhellige Auskunft lautete, es gebe
hinsichtlich der Kuratoren viele Mutmaßungen, die sich größtenteils
gegenseitig widersprächen. Die Vigilanz lebte vom Sammeln von
Daten, verstand sich umgekehrt aber auch darauf, Fehlinformationen
über sich selbst zu verbreiten.
Darüber dachte ich
nach und fragte mich gerade, welchen Informationsschnipsel von
zweifelhaftem Wert ich dem Mosaik wohl hinzufügen könnte, als die
Bummelant von Kraftfeldern gepackt
wurde und relativ zu einem der größeren Schwarmkörper zum
Stillstand kam. Wir waren etwa durch die Hälfte der Schale
hindurchgefallen: Das Licht des Zentralgestirns sickerte bereits
durch den »Boden« der Schwarmkörper hindurch, die gelbweiße Farbe
zu einem tiefen, düsteren Scharlachrot gedämpft.
Eine Stimme, die
älter war als die ältesten Zivilisationen, tiefer als die Zeit,
langsamer als ein Gletscher, dröhnte auf Trans durch die Brücke.
»Nennen Sie den Grund Ihres Besuchs, Splitterling.«
Ich hatte meine
Antwort zahllose Male geprobt. »Ich habe nichts anzubieten, was der
Vigilanz würdig wäre. Ich bin gekommen, um Ihnen meine
Datenspeicher zu öffnen, so wertlos sie auch sein mögen, und
übermittele die ehrerbietigen Grüße der Familie Gentian, Haus der
Blumen.«
»Wünschen Sie,
Zugang zu unseren Archiven zu erhalten?«
»Ja«, antwortete
ich, denn die Vigilanz log man nicht an. »Doch ich erwarte nicht,
dass mir Zugang gewährt wird. Wie schon gesagt, ich bin auf
Goodwill-Basis hergekommen.«
»Bitte warten Sie«,
grollte die Stimme, was sich anhörte wie ein ferner Erdrutsch. »Ihr
Anliegen wurde weitergeleitet.«
Ich
wartete.
Ich wartete eine
Woche. Dann wurde ein Monat draus. Dann ein halbes Jahr. Dann
sechseinhalb Jahre. Währenddessen konnte sich die Bummelant nicht von der Stelle rühren.
Als die dröhnende
Stimme sich wieder meldete, schlief ich gerade, doch ich hatte
entsprechende Vorsorge getroffen, so dass ich von einem Moment auf
den anderen hellwach war.
»Sie werden in den
Knoten vorgelassen. Sie selbst brauchen weiter nichts zu
tun.«
Eine der
kreisförmigen Öffnungen im Schwarmkörper erwies sich als
Irisblende, die groß genug war, um die Bummelant hindurchzulassen. Die Kraftfelder
dirigierten mein Raumschiff hinein und schoben es durch einen sich
verjüngenden Schacht, bis es in der Mitte eines kugelförmigen
Hangars schwebte. Der – alles andere als narrensicheren –
Trägheitsmessung der Bummelant zufolge
befanden wir uns noch immer in einiger Entfernung von der Mitte des
Schwarmkörpers. Die Wände waren mit glatten, vollkommen runden
Kratern bedeckt, deren Ränder arterienrot leuchteten. Die Felder
hatten ihre Beute freigegeben, doch da das Tor sich hinter mir
geschlossen hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als zu
warten.
Also wartete ich.
Diesmal elfeinhalb Jahre.
Es mag so scheinen,
als seien elf Jahre für einen Splitterling, der es gewohnt war, die
Galaxis auf Hunderttausende Jahre währenden Umlaufbahnen zu
bereisen, nur ein Klacks. Aber so funktioniert unser Verstand
nicht. Diese elfeinhalb Jahre waren für mich gleichbedeutend mit
mehreren Menschenleben.
Schließlich aber
bekam ich Gesellschaft. Eine der Kraterblenden öffnete sich, und
ein Fahrzeug schwebte in den Hangar. Es war knollenförmig und hatte
einen gewölbten Bug, der mit dem eiförmigen Rumpf verbunden war,
von dem mehrere kleinere eiförmige Gebilde abzweigten. Das Fahrzeug
war nur ein Sechstel so groß wie die Bummelant und maß sieben- bis achthundert Meter vom
Bug bis zum Heck. Es machte einen erstaunlich primitiven Eindruck.
Die metallisch-braune Hülle wirkte korrodiert, stellenweise war sie
fleckig und eingedellt. Die eiförmigen Elemente waren mit
mechanischen Vorrichtungen verbunden, die an die Andockschleusen
primitiver Raumfahrzeuge erinnerten. Als das Raumschiff das Tor
hinter sich gebracht hatte, drehte es sich langsam um neunzig Grad
um die Längsachse. Das Manöver ging sehr schwerfällig vonstatten,
als gehorchte es einer anderen, langsameren Physik als die
Bummelant. An dem kuppelartig geformten
Teil des Rumpfes trat eine Veränderung auf; die undurchsichtige
Verkleidung wurde erst milchig und dann durchsichtig, so als würde
hinter einem Fenster Rauch abgesaugt. Hinter dem Fenster kam eine
komplizierte Struktur zum Vorschein, eine ledrige Maschinerie
biologischen Ursprungs …
Die Maschinerie war
ein Gesicht, das mich durch die Glasverkleidung eines Helms
betrachtete. Es war nicht menschlich, doch ich konnte erkennen,
dass es vor langer Zeit einmal einem Menschen gehört hatte. Es war,
als sei das Gesicht aus einer Felswand gehauen worden und
anschließend Äonen lang verwittert, bis die Gesichtszüge kaum mehr
kenntlich waren. Allein der Augenabstand betrug über zehn Meter;
das eigentliche Gesicht war zehnmal so breit. Der Mund war ein
dunkler, unbeweglicher Abgrund in der Granitoberfläche der
graugefärbten Haut. Die Nase und die Ohren glichen verwitterten
Erhebungen an der Seite eines Hügels. Der Kopf schwoll am Hals an
und ging in einen gewaltigen Körper über, der vom Dichtungsring des
gewölbten Helms verdeckt wurde.
Die Augen
blinzelten. Es war weniger ein Blinzeln als ein astronomisches
Ereignis, vergleichbar der Verfinsterung zweier umeinander
umlaufender Himmelskörper. Es dauerte Minuten, bis die Lider sich
geschlossen hatten: Weitere Minuten verstrichen, bis sie sich ganz
allmählich wieder geöffnet hatten. Die Augen schauten mich an, doch
ihr Blick wirkte unscharf und leblos.
Die Gestalt schwebte
näher heran. Von einer Seite des Rumpfes verwandelte sich eine
Reihe von mit Gelenken versehenen Eiern in einen Arm mit Fingern am
Ende. Die Finger waren baumgroß. Sie schlossen sich um die
Bummelant, wobei der Rumpf widerhallte.
Das Schiff erfasste meine Stimmung und war so schlau, keine
Gegenmaßnahmen einzuleiten.
Wie sich
herausstellte, wollte der Kurator lediglich einen Berührungskontakt
herstellen. Im Laufe von mehreren Stunden fuhr er mit der Hand über
die Bummelant, umfasste und streichelte
sie, als müsste er sich vergewissern, dass es sich um keine
Sinnestäuschung handelte. Dann zog er die Hand langsam wieder
zurück.
Plötzlich ertönte
wieder die dröhnende Stimme, die ich seit über elf Jahren nicht
mehr vernommen hatte. Es war, als sei für den Kurator nur ein
Moment verstrichen. »Außer Ihnen ist niemand da, Splitterling. Sie
sind allein gekommen.«
»Wir reisen immer
allein, es sei denn, wir haben Gäste. Danke, dass Sie mich
eingelassen haben.«
Dem Gesicht des
Riesenwesens war keine Veränderung anzumerken, dennoch hatte ich
keinen Zweifel, dass der Kurator mit mir sprach. Welche Funktionen
der Mund auch erfüllen mochte, das Sprechen gehörte offenbar nicht
dazu.
Das Wesen verharrte
in der Schwebe, völlig reglos bis auf das gelegentliche Blinzeln
der monströsen, teichartigen Augen. Es blinzelte etwa einmal pro
Stunde.
»Sie waren sehr
geduldig, Splitterling.«
»Man hat mir gesagt,
dass Geduld vonnöten sein würde, Kurator.« Da mit bewusst war, wie
leicht die Vigilanz zu erzürnen war, hatte ich das Gefühl, jedes
Wort, das ich äußerte, sei eine Granate, die man mir gegebenenfalls
ins Gesicht zurückschleudern würde. »Ist das die angemessene
Anrede?«, fragte ich.
»Für Sie schon«,
erwiderte der Kurator. »Haben Sie einen Namen, abgesehen von der
Bezeichnung Splitterling der Familie Gentian?«
»Ich heiße Campion«,
sagte ich.
»Erzählen Sie mir
von sich, Campion.«
Ich gab ihm eine
kurze Zusammenfassung meines Lebens. »Ich wurde vor sechs Millionen
Jahren geboren, als einer von tausend männlichen und weiblichen
Klons von Abigail Gentian. Meine früheste Erinnerung ist, dass ich
als kleines Mädchen in einem großen, furchterregenden Haus lebte.
Es war das einunddreißigste Jahrhundert, in der Goldenen
Stunde.«
»Sie haben einen
weiten Weg zurückgelegt. Sie leben schon länger als fast alle
anderen vernunftbegabten Wesen, einschließlich der
Früheren.«
»Ich hatte sehr,
sehr großes Glück. Ich hatte Glück, in die Familie Gentian
hineingeboren zu werden, Glück, dass ich so lange gelebt und nur
einen Bruchteil der verstrichenen Zeit mitbekommen
habe.«
»Hätten Sie es als
Unglück betrachtet, die Zeit voll auszuleben?«
»Das wollte ich
damit nicht sagen. Aber mein Gehirn ist von dem der Kopfjäger, die
unsere Vorläufer waren, gar nicht so verschieden. Es wurde ein
wenig modifiziert, damit ich Erinnerungen und die Lebensstränge
meiner Mitsplitterlinge besser verarbeiten kann, doch die
grundlegenden Strukturen hat Abigail unverändert gelassen. Unser
Verstand taugt nicht dazu, so große Zeiträume ungekürzt zu
durchleben.«
»Sie würden
wahnsinnig werden.«
»Ich würde Hilfe
brauchen.«
»Sie fragen sich
bestimmt, wie wir damit zurechtgekommen sind. Es ist bekannt, dass
die Kuratoren sehr alt und sehr langlebig sind. Anders als Sie und
die ausgestorbenen Randläufer verfügen wir nicht über den Luxus der
Zeitdilatation, der es uns erlauben würde, die Jahrhunderte
vorbeifliegen zu lassen.«
»Sie scheinen aber
recht gut damit zurechtzukommen.«
»Woher wollen Sie
das wissen?«
»Allein schon das
lange Bestehen der Vigilanz ist ein Beleg dafür, dass Sie die mit
extremer Langlebigkeit einhergehenden Probleme in den Griff
bekommen haben. Keine andere stellare Kultur hat so lange
durchgehalten.«
»Die Vigilanz wäre
sinnlos, wenn sie flüchtiger Natur wäre. Unsere Wache ist lang und
einsam. Es war uns immer schon bewusst, dass sie große Geduld und
langen Atem erfordern würde.«
»Sind Sie so alt wie
die Vigilanz?«
»Dann wäre ich über
fünf Millionen Jahre alt, Splitterling.«
»Ich bin fast sechs
Millionen Jahre alt.«
»Aber nicht nach
reiner Lebenszeit gerechnet. Sie wurden vor langer Zeit geboren,
doch ich bezweifle, dass Sie mehr als ein paar Zehntausend Jahre
subjektiver Zeit erlebt haben. Sie sind ein Bücherwurm, der sich
durch die Seiten der Geschichte gefressen hat. Habe ich
Recht?«
»Diese Analogie ist
durchaus zutreffend, Kurator.«
»Wäre ich ebenso alt
wie die Vigilanz, hätte ich all die Jahre ertragen müssen. Dann
wäre ich einer der ältesten Organismen in der ganzen
Galaxis.«
»Nach allem, was ich
weiß, könnte dies zutreffen.«
»Ich bin nicht der
älteste Kurator, doch ich wachse noch. Das gilt für uns alle. In
der Frühzeit unseres Bestehens fanden wir heraus, wie wir
biologisch unsterblich werden konnten. Das schloss freilich
unaufhörliches Wachstum ein. Es gibt andere Möglichkeiten, doch wir
haben uns für diese entschieden.«
»Gibt es größere
Kuratoren als Sie?«
»Gewiss. Aber Sie
werden sie nicht zu sehen bekommen. Sie bewohnen die größten Knoten
mit den wichtigsten Kernen. Die meisten sind inzwischen zu groß, um
die Knoten zu verlassen. Allein ihr Kopf würde diesen Raum hier
vollständig ausfüllen. Diese Wesen besitzen ehrfurchtgebietende
Weisheit, sind aber auch sehr langsam. Doch daran lässt sich nichts
ändern: Wenn synaptische Signale Entfernungen von mehreren Hundert
Metern zu durchmessen haben, beansprucht schon der simpelste
Gedanke mehrere Minuten Zeit. Der Umgang mit ihnen ist …
anstrengend. Das werden Sie sicherlich verstehen. Aus unserer
Perspektive … nun, darüber sollten wir besser
schweigen.«
Es wunderte mich
nicht besonders, Umgang mit einem Riesen zu haben, wenngleich ich
mir schon ein paar Gedanken über die wahre Natur meines Gastgebers
machte. Viele Berichte des Datenspeichers erwähnten die enorme
Größe der Kuratoren, wenngleich sich die Einzelheiten zu sehr
widersprechen, um von Nutzen zu sein. Wenn ich der Vigilanz den
Rücken kehrte, würde ich meinen Beitrag zu dem verwirrenden
Gesamtbild leisten. Der nächste Besucher würde vielleicht schon
wieder ganz andere, verstörende Erfahrungen machen.
»Leben Sie ständig
in dem Raumanzug?«, fragte ich.
»Nicht immer. Wir
atmen eine Flüssigkeit ein, keine Luft, aber das können Sie kaum
wissen. Es gibt Räume, in denen wir den Raumanzug ablegen können,
doch es wäre zu aufwendig, sämtliche Knoten mit Druckkammern
auszustatten. Irgendwann wachsen wir aus unserem Anzug hinaus. Dann
müssen wir einen Anzug übernehmen, den ein noch älterer Kurator
abgelegt hat. Ich lebe schon seit mehr als hunderttausend Jahren in
diesem Anzug und habe immer noch Platz zum Wachsen. Vor mir hatte
der Anzug andere Bewohner. Auf Sie wirkt der Anzug bestimmt uralt,
doch er ist sehr robust konstruiert. Nach mir wird er noch viele
andere Bewohner haben.«
»Mein Raumschiff
gilt als das älteste meiner Familie. Aber mir reicht
es.«
»Das ist das
Entscheidende, Splitterling.«
»Möchten Sie den
Inhalt meines Datenspeichers inspizieren, Kurator? Sie werden kaum
etwas Interessantes darin finden, doch das ist das Mindeste, was
ich für Sie tun kann.«
»Ist der Speicher
transportabel? Ich passe nämlich nicht in Ihr
Raumschiff.«
»Ich kann ihn nach
draußen schaffen.«
»Das würde genügen.
Kommen Sie heraus, wenn Sie so weit sind. Lassen Sie sich Zeit;
hier kennt man keine Eile.«
Da ich schon
vermutet hatte, dass ich einen Raumanzug brauchen würde, hatte ich
den Realisator mit dessen Herstellung beauftragt. Es war ein
eigenartiges Gefühl, mich in diese klaustrophobische, ein wenig
masochistische Vorrichtung zu zwängen. Das Flitzen ist um einiges
angenehmer.
Der Anzug bemühte
sich, es mir bequem zu machen. Ich schlüpfte durch die längst
vergessene Seitenschleuse der Bummelant
und inspizierte den versengten, pockennarbigen Rumpf, als ich in
den luftleeren Hangar hineinschwebte. An verschiedenen Stellen der
Hülle traten bereits hexagonale Reparaturplatten aus, die sich
miteinander verbanden und aus einem Gitterwerk die funkelnde neue
Außenhaut bildeten. In der Rechten hielt ich den Datenspeicher,
einen purpurschwarzen, facettierten Zylinder mit einem goldenen
Interface-Kragen um die Mitte, mit dem er normalerweise mit dem
Schiff verbunden war. Es fühlte sich an, als schleppte ich einen
kleinen Neutronenstern mit mir herum. Der Speicher war vollgestopft
mit Daten, Wissen und Weisheit.
»Wird Sie der Anzug
eine Weile am Leben erhalten, Splitterling?«
»Lange genug, hoffe
ich.«
»Dann sagen Sie dem
Schiff, es soll auf Ihre Rückkehr warten. Ich nehme an, es kommt
während Ihrer Abwesenheit allein zurecht?«
»Ist schon
passiert.«
»Dann halten Sie
still. Sie brauchen nichts zu tun.«
Die Hände des
Kurators bewegten sich auf mich zu, die weit gespreizten Finger
schlossen sich langsam, beinahe zärtlich, um meinen winzigen,
druckempfindlichen Körper. Der Anzug quietschte, als die Finger
mich packten und zusammen mit dem Speicher ans Gesicht zogen. Erst
jetzt fiel mir auf, dass sich an dem Ring, der den Helm des
Kurators mit dem Rest des Anzugs verband, ein rüsselartiger
Fortsatz befand. In dem Rüssel tat sich eine Öffnung auf, und ich
wurde in einen schwerkraftfreien Raum von der Größe eines kleinen
Hangars geschoben. Die Tür schloss sich wieder, und eine
soleartige, rosafarbene Flüssigkeit strömte in den Raum und
wirbelte eine Weile darin herum, bis sie das Vakuum ausfüllte. Mein
Anzug analysierte die chemische Zusammensetzung. Die Flüssigkeit
war dick wie Suppe, angereichert mit langkettigen
Molekülen.
Eine zweite Tür ging
auf, und ich wurde von der Flüssigkeit hindurchgespült. Mit den
Händen rudernd, bemühte ich mich, meine Position zu stabilisieren.
Ich befand mich im Innern des Helms und schwebte zwischen dem Kinn
des Kurators und der Glasscheibe. Der Kurator atmete so langsam,
dass ich das Gefühl hatte, von trägen Gezeitenkräften bewegt zu
werden. Ich schwebte bis zu der furchterregenden Mundöffnung, die
sich nach beiden Seiten erstreckte, die Lippen geschwungen wie von
unterirdischen Flüssen modellierter Sandstein.
»Ist Ihnen das
unangenehm, Splitterling? Sie müssen mir sagen, wenn es Ihnen
unangenehm ist.«
»Es geht
schon.«
»Nicht jeder
Besucher schickt sich so mühelos in die Gegebenheiten wie
Sie.«
»Ich glaube nicht,
dass Sie mir wehtun wollen. Sie hatten bereits Gelegenheit
dazu.«
»Ich könnte Sie
verzehren wollen. Haben Sie daran schon gedacht?«
»Jetzt, wo Sie’s
sagen …«
»Ich will Sie nicht
verspeisen – jedenfalls nicht im wortwörtlichen Sinn. Allerdings
ist es unumgänglich, dass ich Sie verschlucke. Der Grund wird Ihnen
in Kürze klar werden. Seien Sie versichert, dass Ihnen nichts
geschehen und dass Ihr Aufenthalt in meinem Körper nur
vorübergehend sein wird.«
»Ich schenke Ihrer
Versicherung Glauben.« Der Mund weitete sich nach und nach, bis ich
zwischen den Lippen hindurchpasste. »Kurator«, sagte ich, als ich
in die bodenlose Mundhöhle fiel, »ich hoffe, Sie verzeihen mir die
Frage, aber woher wollen Sie wissen, dass ich Ihnen nichts antun
werde, wenn ich mich in Ihrem Körperinneren befinde?«
»Selbst wenn Sie den
ganzen Knoten zerstören würden, wäre dies nur ein winziger
Bruchteil der in unserem Besitz befindlichen Daten, und der Verlust
ließe sich verschmerzen.«
»Ich könnte es
trotzdem versuchen.«
»Sie wurden
eingehender untersucht, als Ihnen bewusst ist. Wir haben uns ein
recht genaues Bild über die Fähigkeiten Ihres Schiffes gemacht. Es
verfügt über Waffen, ist aber nicht kriegstauglich. Und Ihr Anzug
ist vollkommen harmlos.«
»Und
ich?«
»Wir haben in Sie
hineingeschaut. Wir haben Fleisch und Knochen gefunden sowie einige
harmlose Geräte. Der Datenspeicher könnte natürlich auch eine Bombe
sein, aber dieses Risiko müssen wir eingehen. Keine
Wissensaneignung ist gänzlich ohne Risiko.«
Ich wurde von einem
Schwall Flüssigkeit den Schlund des Kurators hinuntergespült. Von
den Lampen des Anzugs in fahle Rosa- und Malventöne getaucht,
schloss sich vor mir der schwammartige Kehldeckel, kurz bevor ich
hindurchschlüpfte. Ich sollte in den Bauch wandern, nicht in die
Lunge.
Ich glitt die
Speiseröhre hinunter, deren Wände die Flüssigkeitsblase, in der ich
schwebte, mit Kontraktionsbewegungen weiterbeförderten. Schließlich
mündete der sich verengende Kanal in eine warme, mit Flüssigkeit
gefüllte Höhlung. Ich nahm an, dass ich mich tief im Körper des
Kurators befand, wahrscheinlich in der unteren Bauchregion, doch
ich hatte keine Ahnung, in welchem Organ oder welchem Teil eines
Organs ich da gelandet war. Es war durchaus möglich, dass die
Anatomie des Kurators selbst dann, wenn man die unterschiedlichen
Größenverhältnisse in Betracht zog, nicht viel Ähnlichkeit mit der
eines durchschnittlichen Menschen hatte.
Die
Eigentümlichkeiten des Verdauungstrakts des Kurators wurden
deutlich, als ich die Umgebung einer eingehenderen Musterung
unterzog. Der Hohlraum war mehr oder weniger halbkugelförmig, die
Eintrittsöffnung lag in der Nähe des Pols der Hemisphäre. Die Wände
waren von steifen, glänzenden Streben geriffelt, die von der
Öffnung ausgingen – offenbar eine Art Knochen oder Knorpel. Die
Rippen bogen und entspannten sich in einem ganz langsamen Rhythmus,
als atmete irgendwo über uns die fesselballongroße Lunge des
Kurators, versteckt hinter einer meterdicken Bauchdecke und
Rippenfell.
Was ungewöhnlich war
an der Kammer und keine Entsprechung in meinem Körper hatte, war
der Boden – oder die Wand – gegenüber dem gewölbten Abschnitt. Es
handelte sich um ein Meer in wogender Bewegung begriffener Arme,
vergleichbar einer Kolonie von Seeanemonen. Die Arme waren zwei-
bis dreimal so lang wie ich, pulsierten in hypnotischen Farben und
flackerten und blitzten, wenn sie aneinander streiften. Einige Arme
waren zurückgebogen; ihre Enden verschwanden in der leuchtenden
Masse. Als ich näher heranschwamm, sah ich, dass in den Lücken
zwischen den Armen dunkle Objekte steckten, die tief in der
fleischigen Masse versenkt waren, in denen die Arme wurzelten. Es
gab Zylinder, Würfel und eiförmige Objekte, und die zurückgebogenen
Arme waren mit ihnen verbunden, hafteten mit den saugnapfartigen
Enden an den Außenseiten der Objekte oder reichten durch Löcher
oder Spalten bis in sie hinein.
Ich hielt immer noch
den Datenspeicher in der Hand. Ohne weitere Anweisungen abzuwarten,
versetzte ich ihm einen Schubs in Richtung der wogenden Arme und
ließ ihn los. Etwa ein Dutzend Arme reckten sich ihm entgegen,
dehnten sich bis zum Äußersten und wedelten wie hungrige Tiere mit
den Enden. Der Speicher fiel zwischen die Arme, die sich darum
stritten, wem er gehören sollte.
»Willkommen in
meinem Verdauungstrakt«, sagte der Kurator. »Das ist ein Interface
meines Nervensystems. Ich besitze noch andere Schnittstellen, aber
die hier reicht für unsere Zwecke aus.«
»Die anderen Objekte
– das sind ebenfalls Datenspeicher, nicht wahr?«
»Speicher oder etwas
Vergleichbares. Die meisten wurden mir von ihren Besitzern
überlassen. Von Ihnen erwarte ich das nicht, aber ich bin
gleichwohl neugierig auf den Inhalt.«
Einer der Arme legte
sich um die Mitte des Speichers und stellte Kontakt zu dem goldenen
Interfacering her. Der Arm schillerte in allen Farben; pulsierende
Farbwellen wanderten von der Spitze zur fleischigen
Wurzel.
»Lesen Sie die Daten
jetzt aus?«
»Der Prozess hat
begonnen, Splitterling. Es wird eine Weile dauern, doch dabei muss
man gewissenhaft vorgehen. Die Daten wandern lediglich in meinen
Kopf. Ich bin der Puffer zwischen Ihrem Speicher und dem Rest der
Vigilanz. Wir schützen uns seit jeher mit strengen
Sicherheitsvorkehrungen vor Datenkontamination.«
»Dürfte ich Ihnen
ein paar Fragen stellen, Kurator?«
»Fragen schadet
nie.«
Das stimmt nicht
immer, dachte ich. Wie der Kurator soeben selbst bestätigt hatte,
war sogar der unschuldige Vorgang des Datenerwerbs potenziell
gefährlich.
»Ich wüsste gern
mehr über die Vigilanz.«
»Viele Vertreter
Ihres Volkes waren schon hier. Vermochten Sie Ihre Neugier nicht zu
befriedigen?«
»Im Gesamtbild
fehlen noch ein paar Mosaiksteine.«
»Und Sie glauben,
Sie könnten die Lücken füllen?«
»Ich muss es
wenigstens versuchen. Das bin ich der Familie und der Körperschaft
schuldig.«
»Dann will ich Ihren
Nachforschungen nicht im Wege stehen, Splitterling.«
Auf einmal hatte ich
das Gefühl, auf dünnem Eis zu wandeln. Bislang hatte ich mich gut
geschlagen; jedenfalls atmete ich noch. Man hatte mir Einlass in
den Schwarm und die informationsverarbeitenden Knoten gewährt, und
ein Kurator hatte mich empfangen. Nur sehr wenige Gesandte waren so
weit gekommen – zumindest galt das für diejenigen, die sich wieder
zurückgemeldet hatten.
»Wir wissen seit
langem, dass die Vigilanz Informationen aus der ganzen Galaxis und
von der Gesamtheit der Metazivilisation sammelt. In Anbetracht
dessen wirkt der Vorgang eher wahllos – Sie machen nicht den
Eindruck, als würden Sie die Informationen bewerten.«
»Dieser Eindruck ist
durchaus nachvollziehbar.«
»Bei genauerer
Betrachtung haben wir jedoch auch Hinweise auf strukturierte
Informationsgewinnung gefunden. Diejenigen Reisenden, welche die
Vigilanz betreten und sie körperlich und geistig unversehrt wieder
verlassen konnten, haben festgestellt, dass bestimmte Datensätze
anderen bevorzugt werden. Sie bewerten manche Informationsformen
höher als andere, zumindest wenn man Ihr Gebaren über einen großen
Zeitraum hinweg betrachtet und zahlreiche Beispiele
berücksichtigt.«
»Und worauf sollte
dieses Verhalten abzielen?«
»Auf Andromeda«,
sagte ich. »Genauer gesagt, auf die Absenz. Auf lange Sicht scheint
es so, als verfolge die Vigilanz ein einziges allumfassendes Ziel –
auch wenn dieses Ziel im Dunkeln liegt. Sie sind darauf aus,
sämtliche Datenschnipsel zu sammeln, die mit dem Verschwinden der
Andromeda-Galaxis in Beziehung stehen.«
»Viele
Zivilisationen sind auf die Absenz fixiert. Man kann sich kaum eine
galaktische Gesellschaft vorstellen, die es nicht
wäre.«
Ich wagte es, den
Kopf zu schütteln, wusste jedoch nicht, ob der Kurator die Geste
überhaupt mitbekam. »Alle denken an die Absenz, das stimmt. Alle
machen sich Gedanken darüber, was das zu bedeuten hat. Aber selbst
die Körperschaft ist nicht viel weiter gekommen. Ein paar
Beobachtungen, ein paar Theorien, das war’s auch schon.
Hauptsächlich haben wir gelernt, einfach nur weiterzuleben. Das mag
borniert oder kurzsichtig erscheinen, vielleicht sogar wie ein Akt
des Leugnens, doch was bleibt uns anderes übrig? Was auch immer mit
Andromeda geschehen ist, es übersteigt alles, was wir je erlebt
haben. Selbst wenn wir den Vorgang verstehen würden, könnten wir
doch nicht verhindern, dass das Gleiche hier passiert. Das
übersteigt dermaßen unser Begriffsvermögen, dass es sich ebenso gut
um einen Gottesakt handeln könnte.«
»Vielleicht stimmt
das ja.«
»Gott löscht eine
Galaxis aus, als Warnung vor menschlichem Hochmut?«
»Selbst wenn dies
das Werk Gottes gewesen sein sollte – eine Hypothese, die von
unseren Daten kaum gestützt wird -, wäre es doch unangemessen, die
Absenz in derlei Begriffen zu beschreiben. Andromeda mag zwar nicht
mehr sichtbar sein, doch die Galaxis ist immer noch in irgendeiner Form existent. Als die Absenz
entstanden ist, sind außerhalb davon sogar einige Sterne übrig
geblieben. Man sollte vielleicht eher von einer Okklusion
sprechen.«
»Ich fürchte, den
Namen wird man nicht mehr los.« Insgeheim musste ich dem Kurator
allerdings Recht geben. Die Beobachtungen der Körperschaft wiesen
in die gleiche Richtung: Andromeda war nicht verschwunden, sondern
hatte sich vielmehr verdunkelt. So wie der Dyson-Schwarm das Licht
der Milchstraße verdeckte, schirmte Andromeda das Licht des
restlichen Universums ab, sogar die einst allgegenwärtige
Mikrowellen-Hintergrundstrahlung. Doch das, was sich dort befand,
wo zuvor Andromeda gewesen war, war genau betrachtet auch keine
Galaxis. Es ähnelte eher einer platten, schwarzen Schildkröte,
einem dicken Klecks Dunkelheit mit einem messerscharfen Rand, dem
Ereignishorizont. Doch es handelte sich auch nicht um ein Schwarzes
Loch. Wie der Kurator gesagt hatte, kreisten noch immer Sterne und
Kugelhaufen um den Rand des Kleckses, deren Umlaufbahnen anders
ausgesehen hätten, wenn sie sich entlang der Oberfläche eines
Schwarzen Lochs bewegt hätten, wo der gravitomagnetische Effekt
eine Rolle spielte. Die äußeren Himmelskörper bewegten sich, als
hätte sich nichts verändert; als existierte die Andromedagalaxis
noch.
Niemand wusste, was
die schwarze Kröte wirklich zu bedeuten hatte. Eines aber war klar;
Andromeda war eine Galaxis wie die unsere auch. Wie in der
Milchstraße konnte auch dort Leben entstanden sein. Es war sogar
denkbar, dass dort bis zum Entstehen der Absenz intelligentes Leben
vorhanden gewesen war. Die Angst ging um, dass uns das Gleiche
zustoßen könnte, was mit Andromeda geschehen war.
»Manche halten das
für eine Schutzmaßnahme«, sagte ich. »Sie glauben, die
Andromedabewohner hätten sich hinter einer Mauer versteckt, um uns
fernzuhalten. Vielleicht haben sie beobachtet, wie wir uns
ausgebreitet haben, und das gefällt ihnen nicht.«
»Eine Mauer ist auch
ein Gefängnis. Würde diese Maßnahme nicht eher das Gegenteil dessen
bewirken, was damit beabsichtigt wurde?«
»Das ist nur eine
Mutmaßung. Ich habe keinen Zweifel, dass die Vigilanz über bessere
Theorien verfügt.«
»Ja, das schon. Wir
haben viele Theorien. Wie sollte man eine solche Mauer in so kurzer
Zeit errichten? Das würde ein abgestimmtes Vorgehen in galaktischem
Ausmaß erfordern, das unser Begriffsvermögen bei weitem übersteigt.
Wie könnten wir für eine Zivilisation, die zu einem solch
gewaltigen Vorhaben fähig ist, eine Bedrohung darstellen?«
»Das weiß ich
nicht.«
»Ist es die Absenz,
die Sie am meisten interessiert, Splitterling? Ist das der Grund,
weshalb Sie zu uns gekommen sind?«
»Ich bin gekommen,
um Ihnen die Grüße der Familie Gentian zu überbringen. Alles andere
ist eine Dreingabe.«
Als der Kurator
wieder das Wort ergriff, war ein warnender Unterton nicht zu
überhören. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
Auf meiner Stirn
bildeten sich Schweißtropfen. »Ich interessiere mich für die
Absenz, jedoch nur als Schlüssel, um mehr über Sie zu erfahren. Wie
ich schon sagte, die Körperschaft zieht es vor, sich nicht weiter
mit der Absenz zu beschäftigen – die Häuser haben kein großes
Verlangen nach neuen Daten und Theorien. Sie wollen sich nicht
darüber den Kopf zerbrechen – das ist, als würde man sich vor dem
Sterben ängstigen, obwohl der Tod unausweichlich ist.«
»Was ist an uns so
faszinierend?«
»Wahrscheinlich,
dass Sie so alt sind. Bei uns spricht man vom ›Wandel‹. Betrachtet
man die galaktische Gesellschaft, gleicht der Aufstieg und Fall der
Zivilisationen dem Auf und Ab der Meereswogen. Wir hatten uns an
die Vorstellung gewöhnt, dass wir der einzige Fixpunkt sind. Dann
aber haben wir unsere Aufmerksamkeit auf die Vigilanz gerichtet und
bemerkt, dass dem nicht so ist.«
»Uns gibt es schon
sehr lange. Das ist Ihnen bestimmt nicht erst jetzt
aufgefallen.«
»Nein, aber viele
Umläufe lang waren Sie für uns lediglich eine Anomalie oder
Kuriosität. Da haben wir uns offensichtlich geirrt. Die Vigilanz
ist nicht nur eine stellare Kultur, die sich der Auslöschung
erfolgreich widersetzt hat. In Ihrem Fall deutet alles auf eine
Gesellschaft hin, die wusste, dass sie ewig währen würde, und die
alles dafür getan hat, dies möglich zu machen. Ich habe schon
andere Dyson-Schwärme gesehen, doch keiner kommt der zielstrebigen
Effizienz des Ihren gleich. Sie waren skrupellos. Sie haben keinen
Stein auf dem anderen gelassen. Und für Sie selbst, die Kuratoren,
gilt dies auch. Sie waren darauf vorbereitet, sich bis zur
Unkenntlichkeit zu verwandeln und sich mit Riesenschritten von der
menschlichen Basis zu entfernen, von der Sie
abstammen.«
»Sie haben bestimmt
schon fremdartigere Wesen getroffen als mich.«
»Ich habe Wesen wie
die Randläufer getroffen, die ein seltsames Ende genommen haben.
Deren Erscheinung aber war die Folge nahezu zufälliger
Veränderungen, die sich über einen Zeitraum von Millionen von
Jahren erstreckt haben. Sie hatten keinen Plan. Ich glaube, Sie haben schon ganz zu Anfang
gewusst, was Sie erwartete. Sie würden sich in langsame Riesen
verwandeln und niemals aufhören zu wachsen. Und das interessiert
mich, denn es impliziert, dass der Zweck der Vigilanz schon lange
vor der Absenz in Stein gemeißelt war. Die hat alle anderen
vollkommen unvorbereitet getroffen, doch wenn ich mich nicht
täusche, haben Sie darauf gewartet.«
»Die Absenz hat uns
ebenfalls überrascht. In unseren Daten gab es nichts, was darauf
hingedeutet hätte.«
»Aber Sie haben nach
Andromeda geschaut. Vielleicht haben Sie nicht mit der Absenz
gerechnet, aber Sie hatten einen Grund, weshalb Sie diese Galaxis
im Auge behalten haben.«
»Sie ist unser
nächster größerer Nachbar und verdiente schon daher
Aufmerksamkeit.«
»In der lokalen
Gruppe gibt es noch andere Galaxien, in denen intelligentes Leben
möglich wäre. Auch daran haben Sie Interesse gezeigt, doch
Andromeda stand bei Ihnen schon immer ganz oben auf der
Prioritätenliste.«
»Das nennt man wohl
ein Rätsel, Splitterling.«
»Wir glauben, dass
Sie Hinweise auf Aktivitäten der Früheren entdeckt haben – auf
Sternenmanagement, Dyson-Umhüllungen, solche Sachen. Sie haben uns
nicht vorsätzlich Signale gesendet, aber ihre Existenz gleichwohl
verraten. Wir mussten zweieinhalb Millionen Jahre lang Raumfahrt
betreiben, ehe sie auch nur merkten, dass es uns gab, deshalb ist
es durchaus denkbar, dass sie der Ansicht waren, sie hätten die
lokale Gruppe für sich. Sie sind zu spät auf den Plan getreten, als
dass sie von den Aktivitäten der Milchstraßen-Früheren etwas
mitbekommen haben können, oder aber sie waren der Ansicht, sie
wären ausgestorben. Wie auch immer, unser Auftauchen gab ihnen
sicherlich Anlass zur Sorge. Die Körperschaft glaubt, die Vigilanz
wurde gegründet, um Andromeda zu überwachen, die Andromeda-Früheren
im Auge zu behalten und festzustellen, ob sie eine Bedrohung oder
eher ein Segen sind. Es wurde in Kauf genommen, dass es Millionen
Jahre dauern könnte, bis sich die Frage beantworten ließe. Auf
einer kleineren Zeitskala lässt sich der Erfolg einer galaxisweiten
Zivilisation kaum messen. Es könnte doch sein, dass Sie die Aufgabe
haben, über einen Zeitraum von fünf oder sechs Millionen Jahren
hinweg Daten zu sammeln und dann über das weitere Vorgehen zu
entscheiden – bis hin zu einem Präventivschlag, der Eröffnungssalve
in einem intergalaktischen Mikrokrieg.« Ich lächelte, eher zu
meiner eigenen Beruhigung als zu der des Kurators. »Heiß oder kalt,
Kurator?«
»Ihre Theorie
verträgt sich mit dem Augenschein.«
»Jedenfalls beinahe.
Aber wenn Sie lediglich die Früheren von Andromeda überwachen
sollen, wozu dann die Heimlichtuerei?«
»Wir sprechen
inzwischen recht offen miteinander.«
»Ich weiß – doch es
gibt keinen Grund zu der Annahme, dass Sie vor meiner Abreise nicht
mein Gedächtnis manipulieren werden. Wenn es wirklich um die
Früheren ginge, gäbe es eigentlich keinen Grund zur Geheimhaltung.
Dann wäre es besser, wir alle wüssten Bescheid – die Familien und
die Wandelzivilisationen.«
»Geheimhaltung ist
vielleicht wichtiger, als Ihnen bewusst ist«, sagte der Kurator.
»Es würde vielleicht nicht ausreichen, wenn eine einzelne Kultur
unilateral vorgehen würde, doch dieser Fall könnte leicht
eintreten, wenn sich die Kenntnis von den Andromeda-Früheren
verbreiten würde.«
»Wir hätten sie
aufhalten können, wenn es so weit gekommen wäre.«
»Nicht unbedingt.
Würde eine Zivilisation eine Raumschiffflotte bauen und damit
Richtung Andromeda starten, wäre keineswegs sicher, dass die
Familien sie vor ihrem Eintreffen neutralisieren könnten. Und
selbst wenn die Wandelzivilisationen zugrunde gehen sollten, würde
die Flotte im Schutze der Zeitdilatation unbeirrt weiterfliegen.
Nichts und niemand könnte sie einholen, wenn sie mit angenähert
Lichtgeschwindigkeit fliegen würde.«
»Na schön, also gibt
es einen guten Grund für die Geheimhaltung. Wandelzivilisationen
sind jedoch nicht dumm. Vielleicht haben manche ja eigene
Beobachtungen in Andromeda angestellt und dabei Hinweise auf das
Wirken der Früheren entdeckt.«
»Diese Hinweise
wären so subtil, dass die Beobachtungsressourcen der Vigilanz nötig
wären, um sie zu erkennen. Wandelzivilisationen interessieren sich
eher für ihre unmittelbaren Nachbarn in der galaktischen Scheibe
als für zweieinhalb Millionen Lichtjahre entfernte
Vorgänge.«
Der Kurator hatte
nicht abgestritten, dass die Vigilanz sich für Andromeda
interessierte. Vielleicht hatte das ja gar nichts zu bedeuten, doch
es war immerhin ein Fingerzeig, den der Familie zu übermitteln
gewiss lohnenswert gewesen wäre. Er würde das bereits vorhandene
Wissen zwar kaum ergänzen, aber doch bestimmte Argumente stärken
und der Lieblingstheorie der Körperschaft weiteren Auftrieb
geben.
»Danke, dass Sie mit
mir über diese Dinge gesprochen haben«, sagte ich, denn ich spürte,
dass es nicht ratsam gewesen wäre, das Thema
weiterzuverfolgen.
»Es war mir ein
Vergnügen. Wir haben seit jeher großen Respekt vor den Familien und
wissen deren Verschwiegenheit zu schätzen.«
»Ich werde eingehend
über meine Erlebnisse berichten.«
»Alles andere würde
mich auch wundern.« Die Decke der Körperhöhle war in wogender
Bewegung begriffen, wie ein Segel bei aufkommendem Wind – ganz so,
als hätte der Kurator aus tiefer Brust aufgeseufzt. »Aber jetzt zum
Geschäftlichen, wenn Sie so wollen. Ich habe die vorläufige
Durchsicht Ihres Speichers beendet.« »Ich hoffe, dessen Inhalt war
keine allzu große Enttäuschung für Sie.« »Sie unterschätzen den
Wert Ihres Datenschatzes. Die Daten sind zumindest teilweise für
uns von Wert.« »Es freut mich, dass ich Ihre Zeit nicht grundlos in
Anspruch genommen habe. Bitte kopieren Sie alles, was für Sie auch
nur von geringstem Interesse ist.« »Und der Preis für diesen
Gefallen?« »Ich verlange nichts. Ich wurde ermächtigt, Ihnen als
Ausdruck des Dankes der Familie Gentian, zum Zeichen unserer
Freundschaft und in der Hoffnung auf weiterhin gute Beziehungen
sämtliche Daten zu überlassen, die Sie haben möchten.« »Das wäre
nicht fair, Splitterling.« »Es wäre kaum angemessen, einen Preis
für längst überholte Daten zu verlangen.« »Alle Daten sind
überholt. Die Photonen, die Ihre Augen treffen, sind überholt. Sie
gaukeln Ihnen vor, das, was Sie sehen, sei real, doch Sie wissen
nicht, ob die Gegenstände Ihrer Betrachtung noch existieren.
Vielleicht sind sie ja in dem Moment, da die Photonen losgeflogen
sind, einfach verschwunden.« »Ich verstehe, was Sie meinen, aber
wir verlangen trotzdem keine Bezahlung.« »Dann obliegt es der
Vigilanz, eine entsprechende Geste des guten Willens zu zeigen. Sie
sind als Gesandter zu uns gekommen, doch Sie würden sich die
Gelegenheit, unsere Archive zu durchstreifen, sicherlich nicht
entgehen lassen.« »Nein«, sagte ich so zurückhaltend, wie ich es
vermochte – aus Angst, das Angebot könnte zurückgenommen werden,
wenn ich mich allzu begierig darauf stürzte. »Das würde ich nicht
ablehnen.« »Ich habe mich mit den anderen Kuratoren beraten.
Vorausgesetzt, dass Ihre Daten die Validierung bestehen, spricht
nichts dagegen, Ihnen zeitlich beschränkten Zugang zu gewähren. Es
stünde Ihnen frei, die Daten der obersten Ebene zu durchforsten und
sie zu kopieren. Die Daten der zweiten Ebene dürften Sie
konsultieren, jedoch nicht kopieren. Es würde Ihnen gestattet
werden, die Daten ins Gedächtnis aufzunehmen, jedoch nur mittels
normaler Mnemomodule. Die Datensätze der dritten Ebene und des
Kerns wären Ihnen nicht zugänglich.«
»Jedes Angebot hätte
unsere Erwartungen bereits weit übertroffen. Ihr Vorschlag ist
äußerst großzügig, und ich nehme ihn mit Freuden an.«
»Also schön,
Splitterling. Dann werde ich den Speicher mit Ihrer Erlaubnis so
lange in mir behalten, bis er einer umfassenden Überprüfung
unterzogen worden ist.«
»Damit bin ich
einverstanden.«
»Gut. Sie dürfen
meinen Verdauungstrakt jetzt verlassen – der Ausgang öffnet sich
jetzt.« Nahe der Bodenmitte teilten sich die Arme, und zum
Vorschein kam ein funkelnder Schacht. »Nach dem Austritt aus meinem
Rektum werden Sie nicht zur Schutzscheibe zurückkehren«, fuhr der
Kurator fort. »In der Rückseite meines Panzers befindet sich ein
Auslassventil.«
»Das … ist sehr
freundlich«, sagte ich.
»Es wäre unklug,
vorschnelle Schlüsse zu ziehen, doch in der Annahme, dass Ihr
Speicher die Validierung bestehen wird, sehe ich keinen Grund,
weshalb ich Ihnen nicht unverzüglich Datenzugang gewähren sollte.
Wenn Sie nicht vorher in Ihr Schiff zurückkehren wollen, können Sie
das Archiv jetzt gleich in Augenschein nehmen.«
»Ich danke Ihnen«,
sagte ich. »Sie haben erwähnt, der Zugang wäre zeitlich begrenzt.
Können Sie mir erläutern, was ich darunter verstehen
soll?«
»Dies ist Ihr erster
Besuch bei uns, Splitterling. Unsere Beziehung hat einen guten
Anfang genommen, doch wir müssen die Dinge langsam angehen lassen.
Würden Ihnen zweihundert Jahre für den Anfang
reichen?«