FÜNFTER TEIL
Ich hielt den Brief
in Händen. So feines Papier hatte ich noch nie berührt; es war so
glatt wie das Ohr eines Welpen und duftete wie das Kissen einer
Kurtisane. Es roch nach Lilien und Mandeln und den kostbaren
Gewürzen der Fernen Inseln, jenem Archipel am Rande der bekannten
Welt, jenseits des Königreichs, jenseits der umliegenden Reiche,
jenseits der Schildberge, jenseits der angrenzenden Meere, jenseits
des gefährlichen Weißen Krakenmeers. Das Wachssiegel war eine
schwarze Münze, in die das gewollt beunruhigende Zeichen des Grafen
Mordax eingeprägt war, ein Fallgitter aus Menschenknochen. Ich
brach das Siegel mit dem Fingernagel und faltete das steife Papier
auseinander; mein banges Herz nahm die Nachricht, die ich darin zu
finden erwartete, bereits vorweg.
Ich wurde nicht
enttäuscht, falls dies der passende Ausdruck ist, um meine
Empfindungen zu beschreiben. Der Brief war von meinem Stiefbruder,
von Mordax persönlich. Seine Handschrift war elegant und so
herrisch wie eh und je. Liebesbriefe schrieb er auf die gleiche
Weise wie Todesurteile. Dies hier war etwas anderes.
Er teilte mir mit,
meine Hofdame, die noch immer in der Schwarzen Burg gefangen
gehalten werde, müsse sterben, wenn ich Calidris’ Aufenthaltsort
nicht preisgäbe. Zudem werde sie nicht einfach hingerichtet werden,
sondern ihre Todesart werde »im Einklang stehen« mit meiner
fortgesetzten Widerborstigkeit. Ich könne ihr Leben retten, wenn
ich binnen Stundenfrist tätig werde; ich könne ihre Qualen mindern,
wenn ich binnen Tagesfrist handele; wenn ich jedoch meine Antwort
noch länger hinausschöbe, wäre ihr ein langsamer und schmerzhafter
Tod gewiss.
»Das darf ich nicht
zulassen«, sagte ich zu meinem Haushofmeister Daubenton. Er stand
im Beratungsraum, dessen schwerer Eichentisch sich bog unter der
Last der Landkarten und Kriegspläne, dem gestapelten Pergament und
Leder. Um Spione und Meuchelmörder zu täuschen, fanden die
Beratungen in einem dunklen Gewölbe mit kleinen, vergitterten
Fenstern statt. Die Kerzen vermochten die militärisch strenge
Düsternis kaum zu zerstreuen. Innerhalb dieser Mauern war noch
nichts Gutes ausgeheckt worden, nur Tod und Strafe. Neben Daubenton
stand Waffenmeister Cirlus. »Ich hatte gehofft, nach allem, was er
für uns getan hat, bliebe es mir erspart, Calidris zu verraten«,
sagte ich.
Cirlus betastete die
flammend rote Narbe, die er sich bei einem Duell zugezogen hatte.
»Ihr könntet Calidris nicht einmal dann verraten, wenn Ihr es
wolltet, Herrin. Nicht einmal meine besten Spione kennen das
Versteck des Zauberers. Das war sein Wunsch – er wollte sich sowohl
seinen Feinden als auch seinen Gegnern entziehen.«
»Calidris muss sich
unter Menschen verstecken«, sagte ich. »Das ist seine Stärke und
zugleich seine Schwäche. Kein anderer Magier ist so mächtig wie er.
Aber die Magie ist eine seltsame Gabe. Sie durchdringt den Geist
derer, die über sie gebieten wollen. Ein Magier nimmt den Geist
eines Kollegen wahr wie ein Leuchtfeuer in einer dunklen Gegend.
Ein Magier kann sich nur dann verstecken, wenn er sich mit
kleineren Geistern umgibt. Niemand ist gänzlich frei von magischer
Kraft; wir alle verfügen über mehr oder weniger stark ausgeprägte
magische Kräfte. Unser Geist flammt nicht so hell, doch für einen
wie Calidris mag dieser Schutz genügen. In Städten, Dörfern und
Weilern vermag er sein helles Licht inmitten der schwächeren Glut
seiner Mitmenschen zu verbergen. Auf diese Weise kann er nicht
einmal von einem anderen Magier so leicht aufgespürt werden. Das
ist seine Stärke. Doch es ist auch eine Schwäche, denn es macht das
Reisen für ihn gefährlich, auch in Gesellschaft anderer. Und wenn
ein Mann wie Mordax Calidris aufspüren will, braucht er nur jedes
Dorf im Königreich mit Krieg zu überziehen, bis er den Magier aus
der Deckung getrieben hat.«
»Es liegen bereits
Berichte vor, wonach Dörfer und Weiler am Westrand des
Schattenwaldes niedergebrannt wurden«, sagte Daubenton. »Die Reiter
kamen von Osten und sprachen den rauen Dialekt der Briganten
…«
Ich nickte bedrückt.
»Aber wir dürfen davon ausgehen, dass Mordax’ Männer dafür
verantwortlich waren. Des Weiteren gibt es Grund zu der Annahme,
dass sie mit allen Dörfern, in denen sie Calidris vermuten, ebenso
verfahren werden. Unsere Streitmacht ist geschwächt – wir können
nicht jedes einzelne Dorf verteidigen.« Ich legte das verhasste
Dokument weg, dieses schändlich duftende Papier, das mein
Stiefbruder in Händen gehalten und beschrieben hatte. »Ich darf
nicht zulassen, dass mein Volk verbrannt wird. Glaubt Ihr, Graf
Mordax wird uns in Ruhe lassen, wenn die Hofdame den Tod gefunden
hat?«
»Ich fürchte nein,
Herrin«, antwortete Daubenton. »Aber ändert das etwas? Wir können
Calidris nicht aufspüren.«
»Ich schon«,
entgegnete ich.
»Wie sollte das
zugehen?«, fragte Cirlus.
»Ludmilla hat mir
die Baupläne ihrer Raumschiffe überlassen«, sagte ich.
Daubenton runzelte
die Stirn. »Herrin?«
Ich schämte mich
meines kindlichen Ausbruchs; die Bemerkung war mir einfach so
herausgeplatzt. Ludmilla Marcellin war ein Phantasiegeschöpf meiner
Träume: die Prinzessin eines anderen Reiches – eines des
Weltraumjargons und der Himmelspaläste.
Sie gehörte nicht
hierher.
»Verzeiht«, sagte
ich. »Ich habe Unsinn geredet, weil ich übermüdet
bin.«
»Das macht doch
nichts, Herrin«, sagte Cirlus. »Aber was Calidris angeht
…«
»Ich kann ihn
aufspüren. Vor seinem Verschwinden hat er mir ein Geschenk
gemacht.« Ich zog den mit Stickereien verzierten Nähkasten aus den
Falten meines Kleides hervor. Daubenton und Cirlus musterten ihn
unsicher. Ich öffnete den Kasten und klappte die beiden Hälften auf
meinem Schoß auseinander. Nadeln, Fingerhüte und Stickerei, alles
war unverändert.
»Herrin?«,
wiederholte Daubenton fragend.
Ich schwenkte die
Hand über die zahlreichen Nadeln, bis ich die kleinste gefunden
hatte, die ich niemals benutzte. Ich zog sie aus dem
Futteral.
»Die hat Calidris
mir gegeben«, sagte ich und hielt die Nadel hoch. Sie funkelte im
flackernden Kerzenschein. »Sie sieht aus wie die anderen,
unterscheidet sich jedoch von ihnen. Calidris hat die Nadel mit
einem Zauber belegt. Sie ist untrennbar mit ihm
verbunden.«
»So etwas höre ich
zum ersten Mal«, gestand Cirlus ein.
»Mir war das
ebenfalls neu. So ist das eben mit der Magie. Calidris wollte es
anderen schwermachen, ihn zu finden – deshalb zog er in die Welt
hinaus, um sich inmitten der gewöhnlichen Sterblichen zu verbergen.
In seiner Weisheit aber sah er voraus, dass das Königreich seiner
in einer schweren Krise eines Tages so dringend bedürfen würde,
dass er es mit seiner Magie retten müsste.«
»Calidris hat die
Welt mit seiner Magie fast entzweigerissen«, sagte Daubenton, der
ganz bleich geworden war. Ich empfand ebenso. Calidris’ dunkle
Gaben hatten das Tor zur Hölle aufgetan.
»Vielleicht vermag
die Magie ja die Welt auch zusammenzuhalten, wenn eine andere Macht
sie zu zerreißen droht. Calidris hat dies gewusst: Er ist kein
Narr, und niemand im ganzen Königreich ist sich der Gefahren der
Magie so bewusst wie er. Gleichwohl schenkte er mir diese
Blutnadel. Damit vermag ich ihn herbeizurufen. Ich muss nur meine
Haut ritzen, bis ein Blutstropfen hervortritt, und Calidris hört
meinen Ruf.«
»Wie
das?«
»Dann wird er von
einer unsichtbaren Nadel gestochen und verliert einen Blutstropfen.
Wenn die Nadel zusticht, wird er seinen Blick zum Wolkenpalast
wenden und wissen, dass ich ihn brauche.«
»Wollt Ihr das
tatsächlich tun?«, fragte Cirlus.
»Es gibt keine
andere Möglichkeit«, sagte Daubenton.
»Gerade eben wart
Ihr Euch da noch nicht so sicher«, bemerkte ich.
»Es ist besser,
seine Magie wird auf die Welt losgelassen, als dass wir tatenlos
zusehen, wie das Königreich Graf Mordax’ Mordbanden zum Opfer
fällt.« Daubenton zuckte resigniert mit den Schultern. »Es ist ein
riskanter Tauschhandel, doch ich sehe keine andere
Möglichkeit.«
»Weil es keine
gibt«, sagte ich. »Wir müssen Calidris zurückholen.«
»Um ihn Mordax im
Austausch gegen die Hofdame und die Zusicherung, unsere Dörfer zu
verschonen, zu überlassen?«, sagte Cirlus. »Es muss noch eine
andere Möglichkeit geben. Was ist mit Relictus, dem gescheiterten
Lehrling? Könnte er uns nicht helfen?«
»Ich musste Calidris
versprechen, dass ich nicht einmal in der Stunde höchster Not auf
Relictus zurückgreifen würde. Er hat seinem Lehrling nicht getraut.
Er meinte, seine Begabung wäre dunkel und gefährlich.«
»Calidris konnte die
derzeitige Notlage nicht voraussehen«, sagte Cirlus.
»Das ist
nebensächlich. Ich habe nicht die Absicht, Calidris an Mordax
auszuliefern. Der Graf würde die Abmachungen niemals einhalten. Ich
kenne ihn besser als jeder andere. Wie Ihr wisst, sollten wir
miteinander vermählt werden.«
»Herrin, der Graf
ist Euer Stiefbruder«, bemerkte Daubenton taktvoll.
Ein paar Herzschläge
lang war ich ganz verwirrt. Ich war mir sicher, dass der Graf und
ich zur Ehe bestimmt gewesen waren, bis politische Ränke die Heirat
unmöglich gemacht hatten. Woher sonst kannte ich seine Stimme,
seine Eigenheiten, seine mangelnde Bereitschaft, gegebene
Versprechen einzuhalten? »Er hat mich immer besucht und mit mir
gespielt«, sagte ich und verstummte, als mir bewusst wurde, wie
absurd diese Bemerkung war. »Ich erinnere mich doch an sein
Raumschiff und die Roboter …«
»Die Herrin braucht
Schlaf«, sagte Daubenton. »Aus Sorge um Ihr Volk hat sie sich
verausgabt.«
Cirlus musterte mich
unverwandt. Ich hatte keine Ahnung, ob er sich bereits ein Urteil
gebildet hatte.
»Calidris muss zu
uns zurückkehren«, sagte ich mit neu gewonnener Entschlossenheit.
»Nicht um ihn gegen meine Hofdame auszutauschen, sondern um seine
Macht gegen Mordax einzusetzen. Keiner meiner Berater würde darauf
vertrauen, dass unsere Gegner in der Schwarzen Burg die Abmachungen
einhalten.«
»Das stimmt«, räumte
Daubenton ein.
»Ich habe einen
vollkommen klaren Kopf und bin mir meiner Entscheidung sicher. Die
Zeit ist gekommen.«
»Die Entscheidung
liegt bei Euch«, sagte Cirlus.
»So ist es«,
erwiderte ich. »Jetzt und immerdar.«
Ich stach mich mit
der magischen Nadel und beobachtete, wie ein funkelnd roter
Blutstropfen hervortrat. Schmerz empfand ich keinen. Irgendwo in
meinem Königreich bekam Calidris, der mächtigste aller Magier, mehr
als seinen Anteil daran ab.