Dreiundzwanzig
 
 
 
 
 
Mezereum hatte zweihundertsechsundfünfzig Querschnitte von Grilse zu einem Bodenmosaik von sechzehn mal sechzehn Scheiben angeordnet. Die Scheiben waren nach einem komplizierten Schema geordnet, das nur auf den ersten Blick zufällig wirkte. Das Ordnungsprinzip war, dass keine im Ursprungskörper zusammengehörenden Scheiben aneinanderstoßen durften. Das hatte zur Folge, dass eine Scheibe einen Ganzkörperquerschnitt enthielt, welche eine menschliche Gestalt im Profil zeigte, während die Scheibe daneben nur teilweise ausgefüllt war. Die Scheiben wurden von unten beleuchtet und waren erfüllt von langsamem, schwerfälligem Leben. Flüssigkeiten flossen träge wie zwischen Glasscheiben gefangene Ölrinnsale. Die Lungenflügel dehnten sich aus und zogen sich zusammen, und die rhythmische Bewegung wurde von zahlreichen Scheiben des Arrangements aufgenommen. Zwischen den Scheiben verliefen schmale, geflieste Gehwege, die eine Art Gitter bildeten. Das Ganze hatte Ähnlichkeit mit rechteckigen Fischteichen in einem architektonischen Garten, mit fremdartigen, pulsierenden Blüten in dunklem Gewässer. Als wir eintraten, schritt Mezereum gerade einen der Gehwege entlang und warf eine Energiepistole von einer Hand in die andere. Sie war damit beschäftigt, Grilse einzuschüchtern, und stellte ihm die gleichen Fragen, die sie ihm schon ein Dutzend Mal gestellt hatte.
»Ich habe unendlich viel Zeit«, sagte sie. »Ihre Zeit nimmt leider von Stunde zu Stunde ab. Ich kann so lange an Ihnen herumschnipseln, bis Sie nur noch so viele Nerven wie eine Languste haben.« Sie hob die Pistole, justierte den Leistungsregler geringfügig nach und zielte auf die Scheibe zu ihrer Rechten. »Spüren Sie schon einen Unterschied, Grilse? Bin ich zu schnell? Trüben sich Ihre Gedanken? Fällt es Ihnen immer schwerer, sich daran zu erinnern, wie Sie hierhergekommen und weshalb Sie unser Gefangener sind?« Sie schützte die Augen mit der freien Hand und betätigte den Abzug der Energiepistole. Eine Lanze aus scharlachrotem Licht traf die Scheibe. Sie hatte auf den Kopf gezielt. Die Scheibe zersprang nicht, doch die Waffe bohrte ein säuberliches Loch durch Grilses Gehirnquerschnitt; das Gewebe verbrannte in einem dunkelrandigen, sich weitenden Kreis. »Spüren Sie den Unterschied, Grilse? Sie werden keinen Schmerz empfunden haben, aber soeben sind ein paar Milliarden Ihrer Gehirnzellen zerstört worden. Es sind immer noch Hunderte Milliarden übrig, doch wir wissen beide, dass der Vorrat nicht unerschöpflich ist. Die Scheiben kompensieren den Schaden, doch Sie können nicht die Erinnerungen wiederherstellen, die Sie soeben verloren haben. Bedauerlicherweise können Sie nicht einmal wissen, dass Sie etwas verloren haben. Sie fühlen sich einfach nur ein bisschen leerer, zerstreuter, wie ein Raum, aus dem man das Mobiliar entfernt hat.«
»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß«, dröhnte seine Stimme.
»Ich glaube Ihnen nicht.«
»Wie kommen Sie eigentlich darauf, ich wüsste mehr, als für die Durchführung der Operation unbedingt notwendig war?«
»Vielleicht waren Sie ja an der Planung beteiligt – das ist zumindest eine theoretische Möglichkeit. Solange ich nicht mehr über den Aufbau und den Umfang des Hauses der Sonnen weiß, kann ich diese Möglichkeit nicht ausschlie ßen.« Mezereum schritt zu einer anderen Scheibe, die sechs Reihen entfernt war. »Ich glaube trotzdem nicht, dass Sie mir alles gesagt haben, selbst wenn Sie keine tragende Rolle gespielt haben sollten.« Sie zielte wieder mit der Energiepistole und schoss ihm in den Bauch. Diesmal schrie Grilse. Die Querschnitte des Mosaiks zuckten unter der Glasabdeckung. »Ja«, sagte Mezereum anerkennend. »Das war ein Nervenstrang. Das hat bestimmt richtig wehgetan. Vielleicht tut es ja immer noch weh?«
»Sie hat vollkommen die Kontrolle verloren«, flüsterte ich Portula zu.
»Das war zu erwarten.«
Ich musterte die Sitzreihen, bis ich Akonit, Valeria und die anderen Splitterlinge ausgemacht hatte, die Mezereum eigentlich hätten beaufsichtigen sollen. Sie trugen noch Trauerkleidung und bildeten eine schwarze Gruppe. Betonie saß zwei Reihen hinter ihnen neben Hederich.
»Warte hier«, sagte ich.
»Hast du nicht schon genug Probleme?«
»Man hat mir verboten, den Befragungsraum zu betreten. Das hier ist ein öffentlicher Ort.«
Ich ging zu Akonit und den anderen hinüber, während Mezereum Grilses Folter fortsetzte. Auf halbem Weg vernahm ich das Knistern einer weiteren Energieentladung. Diesmal wurde nicht geschrien, was bedeutete, dass sie wohl abermals das Gehirn getroffen hatte.
»Campion«, sagte Akonit und klopfte auf den freien Platz an seiner Seite. »Setz dich, alter Mann. Sie ist gut in Form, findest du nicht?«
»Für eine Wahnsinnige, ja.«
»Sie legt einen gewissen … Eifer an den Tag. Alles andere hätte mich auch gewundert.«
»Sie hat drei Gefangene enthülst. Ihr könnt von Glück reden, wenn am Ende des Tages noch etwas von Grilse übrig ist.«
»Das weiß auch er. Merkst du nicht, dass er kurz vor einem Geständnis steht?«
»Er steht kurz davor, das Sprachzentrum zu verlieren.«
Valeria hüstelte und murmelte: »Da hat Campion Recht. Wir haben ihr zu große Freiheiten gelassen. Sie meint es gut, und keiner von uns hat etwas für Grilse übrig, aber was zählt, ist, dass wir Informationen von ihm bekommen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Sicherheit der Familie durch persönliche Gefühle beeinträchtigt wird.«
»Meinst du, wir sollten sie bremsen?«, fragte Melilo, deren Äußerung von einer weiteren Energieentladung begleitet wurde. »Das wird gegenüber unseren Gästen keinen guten Eindruck machen.«
»Einen guten Eindruck macht dieses Spektakel auch nicht«, sagte ich. »Ich finde, das sieht aus wie eine sanktionierte Folter als reiner Selbstzweck.«
»Und wie würdest du vorgehen, Campion?«, fragte Betonie, der sich zu uns gesetzt hatte. »Ich wette, du hast jede Menge Vorschläge.«
»Zunächst mal würde ich ihr die Waffe abnehmen. Man kann den Datenstrom zwischen den Scheiben lahmlegen, auch ohne physische Strukturen zu zerstören. Wenn ihr was ändern wollt, dann so. Grilse wird keinen Unterschied merken – er wird immer noch das Gefühl haben, immer weniger zu werden. Der Vorteil dieser Methode besteht darin, dass man ihn wiederherstellen kann, wenn man keine Ergebnisse erzielt.«
»Wenn er uns nichts verrät, während wir an ihm herumschnipseln – ungeachtet der Methode, die dabei zur Anwendung kommt -, wird er sich bei einem zweiten Durchgang kaum anders verhalten.«
»Dann macht beim zweiten oder dritten Mal ernst«, sagte ich achselzuckend. »Aber versucht es erst einmal so. Zwingt ihn, Farbe zu bekennen. Mal sehen, welchen Preis er zu zahlen bereit ist. Vielleicht steht er ja wirklich kurz vor dem Zusammenbruch, aber wenn Mezereum so weitermacht, könnte es bald zu spät sein.«
»Du bist wirklich entschlossen, die Befragung zu unterlaufen«, sagte Betonie.
Ich schüttelte den Kopf, eher erschöpft als zornig. »Nein. Ich billige voll und ganz jede Methode, die geeignet ist, Grilse Informationen zu entlocken. Wenn es etwas nutzen würde, die Scheiben zu zerhacken, würde ich selbst die Axt schwingen. Aber das wird nicht funktionieren.« Ich blickte ihm tief in die Augen, denn ich wollte den vernünftigen, rationalen Menschen erreichen, für den ich ihn immer gehalten hatte. Er war ehrgeizig, aber nicht leichtsinnig. »Betonie, du weißt, dass das nicht richtig ist. Ich habe gehört, wie du gestern Abend über Miere gesprochen hast.«
Mit einem höhnischen Grinsen schaute er weg. »Ich habe ja gewusst, dass du daran etwas auszusetzen haben würdest.«
»Ich hatte überhaupt nichts auszusetzen. Was du gesagt hast, war vollkommen in Ordnung. Ich habe dir zugehört und den Sternen gedankt, dass nicht ich an deiner Stelle sprechen musste. Du bist ihr voll und ganz gerecht geworden.«
Das Schweigen dehnte sich, als währte es mindestens tausend Jahre. Die anderen Splitterlinge hatten sich zurückgezogen, um uns Gelegenheit zu geben, ungestört miteinander zu reden.
»Ich habe geglaubt, du würdest meine Rede missbilligen.«
»Sie war gut. Aufrichtig und wahr. Miere hätte dir das Gleiche gesagt.«
»Ich wollte einfach nur sagen, was gesagt werden musste. Ich habe Miere nicht so gut gekannt wie du, aber ich war mir bewusst, dass sie nichts geduldet haben würde, was nicht absolut der Wahrheit entsprach und auf den Punkt gebracht war. Sie hätte nicht gewollt, dass man ihr Leben ausschmückt oder romantisiert.«
»Du hast den richtigen Ton getroffen.« Ich seufzte, denn ich wollte ihn mir nicht weiter entfremden, sondern ihn von meiner Sichtweise überzeugen. »Nach der Feier ist mir bewusst geworden, dass ich dir Unrecht getan habe. Nach der Sache mit Portulas Raumschiff kam mir der Gedanke – nur ein Gedanke -, dass du vielleicht stärker verwickelt sein könntest, als wir vermuteten.« Ich schluckte mühsam. »Und als Miere starb …«
»Du dachtest, ich wäre für ihren Tod verantwortlich?«
»Das war dumm von mir. Aber einer von uns muss an ihrem Tod schuld sein. Es tut mir leid, dass ich dich auch nur einen Moment lang verdächtigt habe. Aber das ist nun mal passiert.« Das Sprechen fiel mir schwer – mein Atem ging so schwer, als hätte ich einen Berg erklommen. »Du hast Mezereum beauftragt, die Befragung fortzusetzen. Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht wolltest, dass sie versagt.«
»Damit keine weiteren Einzelheiten ans Licht kommen.«
»Du kannst bestimmt nachvollziehen, wie ich darauf kam.«
Betonies Augen war nicht zu entnehmen, was er von mir dachte – seine Denkprozesse hätten auch Lichtjahre entfernt stattfinden können, so undurchdringlich war seine Miene. »Und jetzt?«, fragte er einigermaßen gleichmütig.
»Deine Totenrede hat alles verändert.«
»Ich könnte sie trotzdem ermordet haben. Ein paar wohlgewählte Worte? Die lassen sich auch heucheln.«
»Aber du hast nicht geheuchelt.«
»Nein«, sagte er nach einer langen Pause. »Das war nicht geheuchelt. Es fiel mir schwer, über Miere zu sprechen. Das war viel schwerer, als zu wissen, dass ihr Mörder vermutlich nur ein paar Schritte entfernt stand.«
»Dann sind wir uns in dem Punkt einig.« Ich blickte zu dem Quadrat hinüber, zu Mezereums leuchtenden, zuckenden Glasscheiben. »Und deshalb muss das aufhören, bevor sie zu weit geht. Mezereum ist keine Mörderin, aber sie tut uns mit ihrem Vorgehen keinen Gefallen. Ich habe Verständnis für ihren Hass und ihre Rachsucht, aber das ist nicht die Zeit und der Ort dafür.«
Eine weitere Entladung der Energiepistole war zu hören. Grilse schrie.
»Mezereum«, sagte Betonie mit erhobener Stimme. »Würdest du bitte … einen Moment aufhören?«
Sie fuhr mit flammenden Augen herum, die Pistole wies in unsere Richtung. Hier gab es keine Sicherheitsvorkehrungen. Es sei denn, die Waffe war so programmiert, dass sie nicht auf Gentianer feuerte, hätte schon ein Fingerzucken ausgereicht, um weitere fünf oder sechs Splitterlinge auszulöschen.
»Gibt es ein Problem, Splitterling Betonie?«
»Ganz und gar nicht, Mezereum.« Er vermochte das Schwanken seiner Stimme nicht ganz zu unterdrücken. »Ich finde, wir sollten mal eine Pause machen – um die vorliegenden Ergebnisse zu bewerten, bevor wir fortfahren.«
»Wir haben nichts Neues in Erfahrung gebracht.«
»Trotzdem wäre es ratsam, wenn wir unsere Vorgehensweise einer Überprüfung unterziehen würden. Vielleicht gibt es ja etwas zu verbessern.«
Zu meiner nicht unerheblichen Erleichterung senkte Mezereum die Pistole und verriegelte – wie ich hoffte – den Leistungshebel. Sie ließ die Waffe los, die an Ort und Stelle in der Schwebe verharrte. Dann kam sie zu uns herüber.
»Das ist unakzeptabel. Ich war dicht vor dem Durchbruch.«
»Davon kann nicht die Rede sein«, entgegnete ich.
Sie funkelte Betonie an. »Ich dachte, Campion wäre aus dem Befragungsraum verbannt.«
»Hier liegt der Fall anders«, sagte ich. »Das ist ein öffentlicher Raum. Wenn du mich verbannst, musst du auch die Ymirer fortschicken.«
Ohne mich zu beachten, wandte sie sich unmittelbar an Betonie. »Grilse war angeschlagen. Das habe ich deutlich gespürt.«
»Das Problem ist, dass wir nicht wissen, wie lange du noch Löcher in ihn hineinbohren kannst, bevor er zu reden beginnt«, sagte Betonie. »Seine Ressourcen sind begrenzt. Wir haben für den Fall, dass du den ersten Grilse erledigst, keinen zweiten im Rückhalt.«
»Ich brauche nur einen.«
»Ich glaube, er hat Recht«, sagte Akonit mit einem versöhnlichen Lächeln. »Du hast bis jetzt gute Arbeit geleistet, und dafür sind wir dir dankbar, aber es ist an der Zeit, etwas Neues auszuprobieren.«
Betonie sah erst mich und dann wieder Mezereum an. »Kann Grilse mich jetzt hören?«, fragte er leise.
»Nein. Ich habe den Akustikfeed abgeschaltet, als ihr mich unterbrochen habt.«
»So lange, bis wir alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft haben, werden wir ihm keine körperlichen Schäden mehr zufügen. Stell die Leistung deiner Pistole auf einen so niedrigen Wert, dass der Energiestrahl die Scheibe nicht durchdringt. Wir werden die Schäden simulieren, indem wir die Datenverbindungen zwischen den Scheiben reduzieren.«
»Er wird den Unterschied merken, Betonie. Er wird keinen Schmerz empfinden.«
»Dann muss es halt so gehen. Trotzdem wird er das Gefühl haben, scheibchenweise ausgelöscht zu werden. Das ist auch ohne Schmerzen schon unangenehm genug.«
»Er kann sich denken, dass der Prozess reversibel ist.«
»Aber er weiß es nicht genau. Er wird Zweifel haben, zumal wenn du weiterhin mit der Pistole feuerst. Im Moment besteht noch die Chance, dass man ihn wieder zusammenflickt und er wieder wie ein normaler Mensch umherwandeln kann. Wenn du weitere Querschnitte löschst, ähnelt er irgendwann einem Buch, aus dem man ein paar Bögen herausgerissen hat. Irgendwann kommt der Punkt, da die Verluste zu groß sind, um ihn wiederherzustellen, und das weiß er auch.«
Mezereum wirkte nach wie vor skeptisch, doch andererseits machte sie auch nicht den Eindruck, als wäre sie bereit für die entscheidende Auseinandersetzung mit Betonie und den anderen. Da man ihr die Leitung der Befragung nicht entzog, bot man ihr die Möglichkeit, vor dem Publikum das Gesicht zu wahren. Die Hände wären ihr gebunden, doch das wäre weniger demütigend, als ihres Amtes gänzlich enthoben zu werden.
»Das gefällt mir nicht«, sagte sie.
»Aber du wirst dich entsprechend verhalten«, sagte Betonie. »Anders geht es nicht, Mez. Wenn wir uns irren, wenn uns das nicht weiterbringt, dann werde ich als Erster meinen Irrtum eingestehen. Aber bis dahin verfahren wir so, wie ich es gesagt habe.«
Mezereum schaute finster drein. Sie wandte sich ab, ging zurück und schnappte sich die Waffe aus der Luft, als finge sie eine Wespe. Sie verstellte den Leistungsregler, dann blickte sie sich zu uns um. Die Fingerknöchel der Hand, mit der sie die Waffe hielt, traten weiß hervor.
»Ganz wie ihr wollt, Jungs und Mädels.«