Neunzehn
 
 
 
 
 
Mezereums Befragung dauerte den ganzen Tag. Portula ging früher weg, um mit dem ymirischen Wissenschaftler über unsere Erfahrungen im Auge des Luftgeists zu sprechen.
Obwohl keine öffentliche Rüge ausgesprochen worden war, hatte ich den Eindruck, dass Mezereum wegen des Umgangs mit Dorn getadelt worden war. Wahrscheinlich hatte sie nicht vorgehabt, ihn zu töten, doch sie musste gewusst haben, wie gering seine Überlebenschancen gewesen waren. Und obwohl Mezereum der Ansicht gewesen war, dass nicht mehr aus ihm herauszuholen war, waren sich Akonit und die anderen in der Beziehung vermutlich unsicher gewesen. Diesmal waren sie viel wachsamer als beim letzten Mal. Mezereum leitete noch immer die Befragung, doch Akonit, Luzerne, Melilo und Valeria hatten in verschiedenen Reihen zwischen dem Publikum und dem Podest Platz genommen. Sie sagten nicht viel, doch Mezereum schenkte ihnen beinahe ebenso viel Aufmerksamkeit wie den Gefangenen. Sie wusste sich unter genauer Beobachtung und tat nichts, ohne sich zuvor des stillschweigenden Einverständnisses ihrer vier Mitüberlebenden zu versichern. Gleichzeitig wirkte sie irgendwie trotzig, sogar herausfordernd. Man hatte ihr auf die Hand geklopft und sie ermahnt, nicht wieder zu weit zu gehen, doch man hatte sie nicht entthront. Denn dies hätte das Eingeständnis bedeutet, dass Betonie und die anderen einen Fehler begangen hatten, als sie Mezereum mit der Befragung beauftragten, und so weit wollten sie nicht gehen. Mezereum wirkte deshalb eher bestärkt als gedemütigt.
Die Stasiskammern – drei waren besetzt, eine leer – waren in einem Halbkreis angeordnet, so dass deren Insassen einander sehen konnten. Mezereum hatte die Kammern auf den Zeitfaktor einhundert heruntergefahren, und wir hatten alle eine entsprechende Dosis Synchromasch genommen. Die zwölfstündige Befragung würde somit etwa siebeneinhalb Minuten subjektiver Zeit in Anspruch nehmen – bei einer normalen Unterhaltung reichte das kaum für den Austausch von Nettigkeiten. Doch dies war keine normale Unterhaltung. Mezereum stellte flammenden Zorn zur Schau und stieß schon die nächste Frage hervor, kaum dass die vorige beantwortet war. Wenn das Verhör in eine Sackgasse geriet, versetzte sie sich in den normalen Zeitablauf zurück und beriet sich mit den vier Splitterlingen. Trotzdem verging der Tag wie im Flug.
Am Ende war sie kaum weitergekommen. Eine Gesichtsanalyse hatte ergeben, dass es sich bei den beiden unbekannten Gefangenen um vermisste Splitterlinge der Familien Ectobius und Jurtina handeln könnte, eine Vermutung, die nicht ohne Peinlichkeit war, da Angehörige dieser Familien unsere Gäste waren. Mezereum aber konnte sie nicht dazu bewegen, ihre Identität preiszugeben. Auch in Bezug auf das Haus der Sonnen kam sie nicht weiter; das war immer noch so obskur wie damals, als Hesperus es zum ersten Mal erwähnt hatte.
»Ich glaube, wir kennen uns inzwischen recht gut«, sagte Mezereum zu Grilse.
Ich dachte an Melilos Bemerkung, wonach Mezereum sich bei der Verfolgung der Wahrheit als Eiferer hervorgetan habe, als sich die Überlebenden noch in den Überresten des Reunionssystems versteckt hatten.
»Entscheiden Sie sich«, sagte Grilse. »Schalten Sie mich runter oder schalten Sie mich hoch.« Sein Lachen klang so rau und eingerostet, als wären seine Stimmbänder an der Sonne gedörrt worden.
»Drei von euch sind noch übrig. Dorn ist tot.«
»Wer ist Dorn?«
»Der Splitterling der Mellicta-Familie, Ihr Komplize. Die anderen beiden gehören den Familien Ectobius und Jurtina an. Sie gelten als vermisst.«
»Das hört sich so an, als wüssten Sie schon alle Antworten, Mezereum.«
»Ich taste mich ran.« Sie wippte auf den Absätzen, streckte den Rücken wie eine gähnende Katze. »Ich habe Dorn nach dem Haus der Sonnen gefragt. Jetzt frage ich Sie.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Offenbar ist das eine Familie. Wenn man eins und eins zusammenzählt, ergibt sich, dass ihr Splitterlinge angehören, die ursprünglich von anderen Familien kommen. Vielleicht braucht das Haus hin und wieder eine Auffrischung, keine Ahnung. Vielleicht infiltriert es bekannte Familien mit perfekten Kopien. In diesem Fall wäre der wahre Grilse möglicherweise schon vor Millionen Jahren gestorben. Wenn Sie während eines Umlaufs seinen Platz eingenommen haben und dann mit seinem Körper und seinem Gesicht, seinen Genen und seinen Erinnerungen bei der Reunion aufgetaucht wären, hätten wir den Unterschied wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Warum haben Sie uns das angetan, Grilse? Was haben wir getan, um ein solches Unglück zu verdienen?«
»Sie haben existiert. Das allein reicht schon.«
»Im Reunionssystem haben Sie Campion erwähnt. Sie haben uns verhöhnt, weil Sie geglaubt haben, der Mann und sein Datenspeicher wären unwiderruflich vernichtet. Das war Ihr Fehler, Grilse. Campion hat nämlich überlebt. Er hat es geschafft. Und das bedeutet, die Aussichten stehen gut, dass wir den Grund für Ihr Verbrechen werden rekonstruieren können.«
»Ich halte Sie nicht davon ab.«
»Hören Sie, Grilse. Ich werde Ihnen jetzt beweisen, wie ernst es mir ist.« Mezereum trat vor die zweite Stasiskammer und legte die Hand auf den Hebel. Der Gefangene – der Mann, den wir für einen Angehörigen der Ectobius-Familie hielten – wand sich angstvoll auf dem Stuhl. Er sagte etwas, doch Mezereum hatte anscheinend das Mikrofon ausgeschaltet.
»Jetzt ist es zu spät«, sagte sie. »Sie haben Ihre Chance gehabt. Jetzt können Sie sich dadurch nützlich machen, dass Sie Grilse demonstrieren, wie ernst es mir ist.«
Mir schnürte sich die Kehle zu. Mezereum warf Akonit und den anderen einen Blick zu, doch es fand kein hörbarer Austausch zwischen ihnen statt. Mezereum biss die Zähne zusammen und nickte einmal, dann schob sie den Hebel bis zum Anschlag nach links.
Die Stasisblase brach mit dem gleichen gedämpften Hustengeräusch zusammen wie bei Dorns Ableben, doch der Versagensmodus war ein anderer. Als die Impassoren die anatomisch geformte Kammer freigaben, regnete nur Staub herab. Zu Mezereums Füßen bildete sich eine kleine graue Pyramide. Sie ging in die Hocke, nahm etwas davon in die Hand und ließ dunkle Staubfahnen zwischen den Fingern hindurchrieseln.
Dann richtete sie sich auf und grub die Absätze in den Staub.
»Haben Sie alles mitbekommen, Grilse?«, fragte sie und trat vor die andere Kammer, in der der mutmaßliche Jurtina-Splitterling eingesperrt war. »Das gleiche Schicksal könnte in wenigen Minuten auch Sie ereilen. Ich bin bereit dazu – mehr als bereit.«
»Wir haben den Angriff schmerzlos und ohne Boshaftigkeit durchgeführt«, sagte Grilse. »Wir wollten Ihnen keine Schmerzen zufügen. Das Ganze war ein schneller, chirurgischer Schlag. Wir sind keine Monster.«
»Wollen Sie etwa behaupten, ich wäre ein Monster?«
»Blicken Sie in den Spiegel.«
»Sagen Sie mir, weshalb Sie uns angegriffen haben.«
»Wie kommen Sie darauf, dass wir das wissen könnten?«
»Sie haben Campion erwähnt, als Sie glaubten, das bliebe für Sie ohne Konsequenzen.«
»Man hat mir gesagt, es habe etwas mit Campions Strang zu tun. Mehr sollte keiner von uns wissen. Und selbst das war schon zu viel.«
»Wer hat Ihnen das gesagt?«
Ich bemerkte, dass er von kalter Angst erfasst wurde. War dies das erste Mal, dass Grilse andeutete, er stehe im Dienste einer anderen, höheren Macht? Wenn ja, dann hatte er sich den denkbar ungünstigsten Zeitpunkt ausgesucht. Mezereum würde ihn jetzt nicht mehr vom Haken lassen.
»Wissen Sie was, Mezereum? Sie alle?« Grilse funkelte uns aus der Stasiskammer heraus an. »Ich weiß, dass dort draußen Zuschauer sind – das spüre ich. Ich glaube noch immer, dass wir es schaffen werden, Sie alle zu vernichten. Aber vielleicht sollten wir lieber abwarten, bis ihr euch bei der Suche nach einem Verräter wie wilde Wölfe selbst zerfleischt? Und vielleicht gibt es ja sogar mehr als einen.«
»Es gibt keinen Verräter in unseren Reihen«, entgegnete Mezereum im Brustton der Überzeugung.
»Woher wollen Sie das wissen?« Grilses Lächeln war entweder das eines Wahnsinnigen, oder er wusste, dass er nichts mehr zu verlieren hatte. »Es gibt einen Verräter, Mezereum. Das können Sie mir glauben. Er oder sie – da lege ich mich nicht fest – könnte im Moment auch im Publikum sitzen. Und ich wette, ungeachtet dessen, was ich sage, schmiedet er bereits Pläne, wie er den Rest von euch erledigen kann.«
»Nennen Sie einen Namen«, sagte Mezereum.
»Ich werde mich hüten. Das müssen Sie schon selbst herausfinden. Setzen Sie Ihre Befragung fort.«
Mezereum legte die Hand auf den Steuerhebel der Stasiskammer. »Einen Namen.«
»Und wenn ich sagen würde, Sie sind der Verräter? Würden Sie sich dann selbst einer Befragung unterziehen?«
»Tun Sie’s nicht«, sagte der Jurtina.
Mezereum musterte ihn misstrauisch. »Weil Sie mir etwas sagen wollen?«
»Ich weiß nur, dass wir Sie töten mussten.«
»Woher stammten die H-Waffen?«
»Aus einem Versteck, das den Marcellins bekannt war. Die meisten Waffen sind nach dem Homunculus-Krieg verschrottet worden, doch ein paar wurden für den Fall, dass sie wieder gebraucht würden, beiseite geschafft.«
Sie wandte sich wieder Grilse zu. »Stimmt das?«
»Es gab ein Versteck. Der Rest der Familie wusste jedoch nichts davon. Sie trifft keine Schuld.«
»Darüber hat die Körperschaft zu entscheiden.« Mezereum wandte sich wieder dem Jurtina zu. »Sie haben mir noch nichts gesagt, worauf ich nicht schon selbst gekommen bin. Wenn Sie keine Informationen zurückhalten, sind Sie für uns nur noch als Demonstrationsobjekt unserer Entschlossenheit von Wert.«
»Tun Sie’s nicht«, sagte der Jurtina.
Mezereum bewegte den Hebel nach links, diesmal ganz langsam. Aus unserer Perspektive beschleunigten sich die Bewegungen des Gefangenen; er zuckte und ruckelte immer heftiger auf dem Stuhl.
Etwas zerriss in mir.
»Warte!«, rief ich, bevor der Hebel am Anschlag angelangt war. »Es muss einen anderen Weg geben.«
Mezereum musterte mich mit eisiger Verachtung. »Hast du etwas beizutragen, Campion? Bis jetzt warst du ungewöhnlich schweigsam.«
»Wähl dich runter«, sagte ich, mir des wie rasend rotierenden Uhrzeigers überdeutlich bewusst. »Wir sollten das in Realzeit besprechen.«
»Wir können das auch so klären.«
Akonit erhob sich und wandte sich mir zu, die Hände beschwichtigend erhoben. »Lass uns fortfahren, alter Mann. Wir haben alles unter Kontrolle.«
»Nein, habt ihr nicht. Mezereum verbrennt die Gefangenen schneller, als wenn man Kohle ins Feuer werfen würde. Es sind nur noch zwei übrig. Wir können es uns nicht erlauben, noch einen zu verlieren.«
»Einer reicht mir völlig«, sagte Mezereum und schob den Hebel weiter nach links.
Ich wählte mich runter. Ich war allein in einem Raum mit lauter reglosen Wachspuppen. Ich rannte nach vorn und stürmte durch den elektrisch prickelnden Schutzschirm hindurch, der den Gefangenen die Sicht aufs Publikum verdeckte, auf Mezereums Podium. Sie blickte immer noch zu dem Platz, an dem ich gesessen hatte, doch ihr Gesichtsausdruck veränderte sich allmählich – es war, als beobachtete man den Beginn eines zeitlupenhaften Erdrutsches. Sie wandte langsam den Kopf und folgte dem Schemen, den sie von mir wahrnahm, mit den Augen. Ich löste ihre steifen Finger vom Steuerhebel und schob ihn weit nach rechts. Hinter mir entstand neue Bewegung, als andere Splitterlinge sich herunterwählten. Mezereums Rechte wanderte zentimeterweise auf ihr Chronometer zu.
Jemand packte mich. Akonit riss mich herum, in seinem Gesicht spiegelten sich Verständnislosigkeit und Enttäuschung wider. »Das hättest du nicht tun sollen, alter Mann. Wir stehen in deiner Schuld, aber alles hat seine Grenzen.«
»Sie hat sich nicht mehr unter Kontrolle«, sagte ich.
Mezereum kehrte in die Realzeit zurück. »Verschwinde!«, sagte sie.
»Der Hass hat bei dir die Oberhand gewonnen.«
»Sie hassen uns. Was spricht dagegen, es ihnen ein wenig heimzuzahlen?«
»Dass wir Gentianer sind. Weil die guten Werke aus sechs Millionen Jahren belegen, dass wir besser sind.«
»In deiner Welt vielleicht. Nicht in meiner.« Sie nickte Akonit und Valeria zu. »Er meint es gut, aber wir dürfen nicht zulassen, dass er die Befragung weiter stört. Lasst ihn rausschaffen. Betonie soll entscheiden, wie wir mit ihm verfahren.«
Betonie, der bis jetzt geschwiegen hatte, erhob sich ebenfalls. »Es tut mir leid, Campion, aber wir können dein Verhalten nicht dulden. Entweder du gehst freiwillig, oder wir lassen dich entfernen. Ich würde das nur ungern tun, aber wenn du dich unbedingt in den Mittelpunkt stellen willst …« Er schwenkte resigniert die Hand, als wäre mein Verhalten für ihn ein undurchschaubares Rätsel.
»Vielleicht ist ja etwas dran an dem, was der Jurtina gesagt an«, erwiderte ich. »Wenn es hier einen Verräter gibt, läge es in seinem Interesse, dass die Gefangenen sterben. Dann bräuchte er nicht mehr zu befürchten, dass einer von ihnen seine Identität enthüllt.«
»Geh!«, sagte Betonie. »Bevor du etwas sagst, was du hinterher bereust. Ich bin enttäuscht von dir, Campion. Ich hatte gehofft, du hättest die innere Größe, über Portulas Rüge hinwegzusehen und sie nicht zum Gegenstand einer Auseinandersetzung zu machen. Aber da habe ich mich offenbar getäuscht.«
»Wir wurden auf fürchterliche Weise angegriffen«, sagte ich. »Der Angriff war brutal und ist ohne Vorwarnung erfolgt. Es ist unser gutes Recht, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Aber das bedeutet nicht, dass wir alle moralischen Prinzipien über Bord werfen dürften, von denen wir uns in der Vergangenheit haben leiten lassen.«
»Die Zeiten ändern sich«, sagte Mezereum. »Sie haben das zu verantworten, nicht wir.«
In diesem Moment wurde die Tür des Befragungsraums aufgerissen, und das rosige Licht des ymirischen Sonnenuntergangs strömte herein. Mit Erstaunen machte ich mir klar, dass wir bereits einen ganzen Tag hier zugebracht hatten. Klette – ein Splitterling, der bis jetzt auf Patrouille gewesen war – stand mit einem Einheimischen mit Gesichtsmaske und Flügeln im Eingang.
»Wir sind noch mitten in der Befragung«, sagte Betonie.
»Das muss warten«, erwiderte Klette. »Die Ymirer haben mich abgepasst, als ich gelandet bin.« Er trat zusammen mit dem Ymirer ein und schloss hinter sich die Tür. »Es geht um Miere«, sagte er.
»Was ist mit ihr?«
»Sie ist tot.« Klette stockte – er konnte kaum sprechen. »Sie muss von einem der hohen Balkone gestürzt sein. Man hat sie auf der Schräge des Gebäudes der Hohen Güte gefunden, unter der untersten Ebene von Ymir.«
 
Der Flieger schwebte über dem Landedeck, die Flügel rührten knatternd in der dunklen Luft. Betonie war als Erster eingestiegen, gefolgt von Klette, Akonit und Melilo. Galgant und Hederich stiegen als Nächste ein, Luzerne und ich bildeten den Abschluss. Kaum hatte ich den Fuß vom Landedeck gehoben, stieg der Flieger auch schon empor. Ein erschreckender Abgrund tat sich unter mir auf, als ich mich in die nobel eingerichtete Kabine zog. Ich schauderte bei der Vorstellung, wie es für Miere gewesen sein musste, in die Tiefe zu stürzen und zu wissen, dass keine Macht der Welt sie auffangen würde. Ich hatte schon am Rand zehn Kilometer hoher Steilwände gestanden, ohne den Schutz von Maschinen und wohl wissend, dass nur ein Muskelzucken nötig wäre, um in die Tiefe zu stürzen. Bis zu meiner Begegnung mit dem Luftgeist war ich jedoch noch nie abgestürzt; niemand hatte mich gestoßen. Damals hatte ich mich, anders als Miere, rasch aus der Gefahrenzone in Sicherheit gebracht. Der Gedanke, dass der eigene Tod nicht nur unmittelbar bevorstand, sondern eine mathematische Gewissheit war, hatte jedoch etwas besonders Erschreckendes. Ich konnte nur hoffen, dass Miere beim Absturz schon tot oder zumindest bewusstlos gewesen war, doch mir schwante, dass wir das niemals erfahren würden.
»Wäre sie von einem anderen Turm oder einer der Brücken gestürzt, wäre sie geradewegs zwischen den Fingern hindurchgefallen«, sagte Hederich. »Wäre Sie auf dem Sand aufgeprallt, hätte sie eine Überlebenschance gehabt, oder irre ich mich?«
Limax, der Ymirer, wandte den Kopf. »Ich fürchte, nein. Hätte der Aufprall sie nicht auf der Stelle getötet, hätte er wahrscheinlich einen Erdrutsch ausgelöst und sie wäre mit zerschmetterten Knochen im Sand erstickt. Das ist keine angenehme Todesart, das können Sie mir glauben.«
»Das bedeutet noch lange nicht, dass sie Glück gehabt hätte.«
»Nein, Splitterling«, sagte Limax ernst. »Das heißt es nicht. Ich wollte damit nur sagen, dass es sie hätte schlimmer treffen können.«
Plötzlich wurde mir bewusst, welche Konsequenzen ihr Tod für die Ymirer haben könnte. Schon wieder war einer von uns auf der Strecke geblieben, was schon schlimm genug gewesen wäre, wenn es noch tausend von uns gegeben hätte. Jetzt aber, da wir auf ein Zwanzigstel unserer einstigen Zahl geschrumpft waren, traf uns der Verlust noch schwerer. Der Prozess aber hatte mit dem Angriff begonnen; was immer die Hintergründe von Mieres Sturz sein mochten, ihr Tod war lediglich ein Puzzlestück eines langen, mörderischen Prozesses. Die Ymirer hingegen sahen in uns Gäste, Weltraumreisende, die sich ihrer Obhut anvertraut hatten. Sie hatten uns gestattet, in ihrer Stadt zu leben und uns völlig frei zwischen Ymir und den anderen Siedlungen zu bewegen, während wir uns im Gegenzug bereiterklärt hatten, uns an ihre Gesetze zu halten. Portula und ich hätten den Luftgeist auch ohne die Einwilligung der Magistratin oder die Begleitung des grollenden Herrn Jynx aufsuchen können, doch wir hatten den Ymirern gezeigt, dass wir uns auch mit einem Nein abfinden würden; dass wir unsere Wünsche nicht gewaltsam durchsetzen würden. Wir hatten unsere Raumschiffe zusammen mit unseren Dienstrobots und Waffen im Weltraum zurückgelassen und waren nur mit dem Allernötigsten gelandet. Wäre dies ein Reunionsort gewesen, wäre das ganze Gebäude, die ganze Stadt, eine Maschine gewesen, die unserem Schutz gedient hätte. Dann hätte auch niemand in den Tod stürzen können. Es hätte schon einiger Entschlossenheit bedurft, jemanden auch nur mit dem Ellbogen zu streifen.
Die unterste bewohnte Ebene befand sich hundert Meter über uns; die Fundamente, welche sie in dem geneigten Finger der Hohen Güte verankerten, waren fensterlos und verwittert wie die Befestigungen einer alten Burg. Mieres Leichnam lag etwa fünfzig Meter von den Fundamenten entfernt in der flachen Senke, die von den in die schwarze Fassade eingravierten Zeichen gebildet wurde. Entweder war sie nach dem ersten Aufschlag abgeprallt oder im Verlauf des Sturzes seitlich abgelenkt worden.
Der ymirische Flieger kam zehn Meter von der Unfallstelle entfernt zum Stillstand. Wir stiegen vorsichtig aus, duckten uns vor dem staubbeladenen Wind und achteten sorgsam darauf, wohin wir unsere Füße setzten. Wir befanden uns in sicherem Abstand vom Rand, doch falls ich auf der geneigten, marmorglatten Fläche ins Rutschen geraten sollte, schätzte ich meine Überlebensaussichten nicht besonders hoch ein. Wie eine Ameisenprozession, die sich am Stamm eines umgestürzten Baums entlangbewegt, stiegen wir zu unserem toten Mitsplitterling hoch.
Es sah schlimmer aus, als ich erwartet hatte, und das, obwohl Klette mich vorgewarnt hatte, dass sich mir kein angenehmer Anblick bieten würde. Beim Aufprall war ihr Körper zerschmettert worden, die Gliedmaßen waren ausgerenkt. Das eine Bein war zurückgebogen, so dass der Fuß unter dem Rückgrat zu liegen gekommen war, das andere stand in einem unnatürlichen Winkel ab. Die Arme waren mehrfach gebrochen; die Kleidung war blutig und zerrissen, am Ellbogen und am Oberschenkel schaute der blanke Knochen hervor – sie musste entweder seitlich gegen das Gebäude gestoßen oder vom Boden abgeprallt sein. Von ihrem Kopf war nicht mehr viel zu erkennen. Ihr Gesicht war ein blutiger Brei, beinahe zu abstrakt, um Abscheu hervorzurufen. Dort, wo der Wind das Haar nicht in die blutige Haut- und Knochenmasse gedrückt hatte, war jedoch noch eine Ähnlichkeit vorhanden. Unwillkürlich berührte ich eine Haarlocke, so weiß und rein wie Mondschein an meiner Haut. Dass wir tatsächlich Miere vor uns hatten und nicht jemanden mit ähnlichem Haar, bewiesen die zahlreichen Ringe an ihrer Hand. Die Hand war unversehrt, die Finger einladend geöffnet, als bräuchte sie lediglich ein wenig Trost.
»Miere«, sagte ich, als mir die Tatsache ihres Todes mit voller Wucht bewusst wurde. Eine furchtbare Traurigkeit breitete sich in mir aus, eine Leere, aus der der Wind vom Ende des Universums hervorwehte.
Galgant, der neben mir stand, legte mir die Hand auf die Schulter. »Wer immer das getan hat«, sagte er so leise, dass nur ich ihn hören könnte, »wir werden ihn finden. Wir lassen Miere nicht im Stich – wir werden ihren Tod rächen.«
Hederich hatte sich Maschinenaspik auf die Hand gequetscht, das ein schwarzes Tattoo bildete. Das Gesicht vor Konzentration verzerrt, die Augen zum Schutz vor dem Wind zusammengekniffen, hielt er die flache Hand über das, was von Mieres Kopf noch übrig war. »Ich fange keine Signale mehr auf«, sagte er nach einer Weile. »Ich wusste, dass es sinnlos ist, aber wenn ich es nicht wenigstens versucht hätte …«
»Das war schon in Ordnung«, sagte Luzerne.
Betonie sagte: »Wir müssen ihr Gehirn nach groben Strukturen abtasten – nach Erinnerungen, die sie noch nicht gespeichert hat, nach Gedanken, die im Moment des Todes fixiert wurden. Vielleicht finden wir ja etwas.«
»Das glaube ich nicht«, sagte ich. Muster zu scannen, war schon schwierig genug, wenn jemand frisch verstorben war, doch nach einem gewaltsamen, mehrere Stunden zurückliegenden Tod war das ganz unwahrscheinlich. Plötzlich wurde mir bewusst, wie hilflos wir im Grunde waren. Wir konnten Welten umherbewegen, Sterne mit Ringen umgeben und wie Kieselsteine übers Wasser durch Raum und Zeit hüpfen. Dies alles aber vermochte Miere nicht zu helfen. Noch vor wenigen Stunden hatte in diesem Schädel ein menschliches Bewusstsein gelebt, und keine Macht des Universums konnte es wiederherstellen. Wir glichen Affen, die um ein erloschenes Feuer herumhocken und sich fragen, wo die Wärme und das Licht abgeblieben sind.
»Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen«, sagte Betonie, als ich zurücktrat, zwischen den Fingern noch ein paar Strähnen von Mieres Haar. »Es könnte sich auch um einen Unfall gehandelt haben. Es muss sie nicht unbedingt jemand gestoßen haben.«
»Glaubst du das wirklich?«, fragte Akonit.
»Es kommt mir nicht unwahrscheinlicher vor als die Annahme, dass einer von uns sie getötet haben soll.«
»Dann stell dich langsam mal darauf ein«, sagte ich. »Der Verdacht, dass Gentianer verwickelt sind, stand seit dem Angriff immer im Raum. Jetzt haben wir die Bestätigung.«
»Sie war eine von uns. Könntest du mich vorsätzlich töten? So wie ich bin, nach allem, was ich gesehen und getan habe, nach meinem langen Leben?« Betonies Gesichtsausdruck schloss eine bejahende Antwort aus. »Wir haben fast alles miterlebt, was zählt. Die paar tausend Jahre aufgezeichneter Geschichte, die vor uns kamen, waren nicht mehr als ein Prolog. Die wirkliche Geschichte nahm ihren Anfang, als Abigail ihren ersten Atemzug tat.«
»Wir sind Bücherwürmer, die sich durch die Seiten der Geschichte gefressen haben«, sagte ich eingedenk einer Bemerkung des Kurators der Vigilanz. »Das ist nicht das Gleiche.«
»Aber wir wissen, wer wir sind. Wir wissen, wie unersetzlich wir sind. Ich könnte dich nicht töten, Campion. Ich mag vieles missbilligen, was du getan und wie du dich über die Familientradition hinweggesetzt hast, aber ich könnte dir kein Haar krümmen. Das wäre so, als zerstörte man ein historisches Bauwerk, als vergiftete man ein fragiles Ökosystem … das wäre nicht nur Mord, sondern ein Akt von Vandalismus. Ich nehme an, du siehst das ganz ähnlich.«
»Natürlich tue ich das«, sagte ich aufgebracht. »Aber nur deshalb, weil ich kein Mörder bin. Und du auch nicht, wenn du wirklich so empfindest, wie du sagst. Aber irgendjemand sieht das offenbar anders. Jemand hat in Miere ein Hindernis gesehen, das man so mühelos beseitigen kann, wie man ein Stück Abfall in den Müllschlucker wirft.«
»Dann war der Betreffende keiner von uns. Egal, wie er aussieht, im Herzen ist er kein Gentianer.«
»Ich wünschte, ich könnte mich deiner Sichtweise anschließen.«
Betonie blickte sich über die Schulter um. Ich folgte seinem Blick mit den Augen und sah einen gentianischen Flieger – vom gleichen offenen Typ wie der, der Portula und mich zum Luftgeist gebracht hatte -, der sich langsam auf uns herabsenkte. »Wir bringen sie in den Orbit«, sagte Betonie. »An Bord der Blauen Adonis kann ich sie scannen.«
»Sie ist tot«, sagte ich.
»Wir müssen es wenigstens versuchen, Campion.« Das sagte er mit solcher Heftigkeit, dass ich mich unwillkürlich fragte, ob er vor einem Nervenzusammenbruch stand. Ich dachte daran, wie sehr er sich gefreut hatte, als ich ihm berichtete, dass Portula und ich Überlebende gerettet hätten. Mieres Tod traf mich besonders schwer, doch es würde für uns alle schwer werden, auch für Betonie. Jetzt gab es nur noch einundfünfzig Splitterlinge, und es war nicht auszuschließen, dass mindestens einer der Überlebenden versuchte, den Rest von uns umzubringen.
Der Flieger setzte auf. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete ich Miere und dachte daran, wie sie beim Frühstück ausgesehen hatte. Das schien bereits eine Ewigkeit her zu sein; damals war das Universum noch ein freundlicherer Ort gewesen, erfüllt von bunten Primärfarben.
Der Wind wurde stärker und wehte Staub gegen meine Wangen.