VIERTER TEIL
Eines Tages schritt
der kleine Junge wieder einmal in Begleitung seiner
Robot-Leibwächter die Rampe zu seinem Schiff hoch. Ich ahnte nicht,
dass es das letzte Mal sein sollte, dass ich ihn sah; ich wusste
nur, dass wir einen weiteren Nachmittag im Puppenpalast verbracht
und das lange Spiel des Reiches gespielt hatten. Allerdings war es
nicht das letzte Mal, dass ich Graf Mordax zu Gesicht
bekam.
Damals war ich nach
gewöhnlichen Maßstäben fünfunddreißig; nach objektiven Maßstäben
war ich immer noch ein Mädchen von elf oder zwölf Jahren – ein
ungewöhnlich altkluges Mädchen mit dem Erinnerungsschatz einer
Erwachsenen (auch wenn meine Erfahrungen sich auf das Leben in ein
und demselben Haus beschränkten), aber nichtsdestoweniger ein
Mädchen. Nach dreieinhalb Jahrzehnten kamen meine Hüterinnen jedoch
zu dem Schluss, es sei für mich an der Zeit, meine Entwicklung im
normalen Tempo fortzusetzen. Ich wurde in Madame Kleinfelters Büro
gerufen, und sie bat mich, den Ärmel hochzukrempeln. Madame
Kleinfelter berührte den Höcker mit einem stumpfen Stift, ich
verspürte ein Prickeln, und damit war’s geschehen. Der Höcker war
verschwunden und damit auch die biologische Maschinerie, die meinen
Alterungsprozess unterbrochen hatte.
Natürlich fühlte ich
mich nicht anders als zuvor. Allerdings hatte eine Uhr, die
jahrelang stillgestanden hatte, wieder zu ticken
begonnen.
»Warum gerade
jetzt?«, fragte ich.
»Als du geboren
wurdest«, antwortete Madame Kleinfelter, »war keine Rede davon,
deine Entwicklung so stark hinauszuzögern. Eine moderate
Verlängerung der Kindheit, das ja … das ist heutzutage in der
ganzen Goldenen Stunde die Norm. Weshalb sollte man die Kindheit
durcheilen, wenn man mehrere Hundert Jahre vor sich hat? Aber
fünfunddreißig Jahre lang in der Vorpubertät fixiert zu werden …
das ist ungewöhnlich, selbst nach heutigen Maßstäben.« Sie legte
den Stift weg und setzte die Spitzen ihrer dicken, krummen Finger
gegeneinander, was sie häufig tat, wenn sie einen Vortrag hielt.
»Das geschah auf Verlangen deiner Mutter, Abigail – damals hatte
sie noch mehr lichte Momente. Die Spezialisten überzeugten sie
davon, dass ihr Wahnsinn sich im Laufe der Zeit legen würde.
Allerdings betonten sie, dass es eine Weile dauern könnte –
vielleicht sogar Jahrzehnte. Deine Mutter wollte deine Entwicklung
aufhalten, damit sie nach ihrer Genesung Gelegenheit hätte, sich
deiner Kindheit zu erfreuen. Natürlich hätte sie dich auch
einfrieren lassen können … aber sie hat sich nun mal für diese
Methode entschieden. Sie wollte dich in wachem Zustand erleben,
wollte sehen, wie du lernst und spielst. Sie wollte keine Puppe in
einem Tank betrachten.« Sie schob die Finger ineinander. »Aber der
Zustand deiner Mutter verbessert sich nicht. Wenn ich dir
gelegentlich ungerechtfertigte Hoffnung gemacht haben sollte, so
entschuldige ich mich dafür. Das geschah in guter Absicht. Es war
mir immer um dein Wohl zu tun, Abigail.«
»Dann wird meine
Mutter also nie mehr gesund werden.«
»Die Ärzte bemühen
sich weiterhin. Aber die Psychose hat jetzt volle Gewalt über sie.
Alle Maßnahmen, die ergriffen wurden – und das sind immerhin die
besten Ärzte der Goldenen Stunde -, haben ihren Zustand nur noch
weiter verschlechtert. Die lichten Momente wurden immer seltener.
Vielleicht wird man schon morgen ein Heilmittel finden, aber darauf
können wir uns nicht länger verlassen. Was die schwierige Frage der
Familiengeschäfte aufwirft. Da die Heilungsaussichten für deine
Mutter so gering sind, müssen wir mutig in die Zukunft
blicken.«
»Damit bin wohl ich
gemeint«, sagte ich. Mir war schwindelig, als hätte ich mich zu
rasch erhoben.
»Der Weg, der vor
dir liegt, wird nicht einfach sein, Abigail. Du wirst jetzt
erwachsen werden. Du wirst zur Frau reifen. Und wenn die Zeit
gekommen ist, wirst du in die Fußstapfen deiner Mutter treten. Du
wirst die Familie führen, wie sie es früher getan hat. Alles, was
sie aufgebaut hat, all das Wissen und die Erfahrung, die sie
angehäuft hat, wird in deinen Händen liegen. Am besten lässt sich
das mit einem Schmuckstück von unschätzbarem Wert vergleichen,
einem Geschmeide aus zerbrechlichem Glas und kostbaren Juwelen. In
deinen Händen wird es sicher sein. Aber du darfst es niemals fallen
lassen.«
Anschließend ging
ich ins Spielzimmer und betrat das Zimmer im Zimmer, den grünen
Kubus des Puppenpalasts. Obwohl der Entwicklungshemmer entfernt
worden war, kam es mir unbegreiflich vor, dass mit mir eine
Veränderung vorgegangen sein sollte. Ich hatte immer noch das
Gefühl, der grüne Kubus und die darin befindliche Landschaft
gehörten zu meiner Kindheit. Es ging immer noch eine Lockung davon
aus. Allerdings wäre es jetzt unschicklich, unangemessen und sogar
ein bisschen pervers gewesen, wenn ich ihn erneut betreten
hätte.
Es war etwa einen
Monat oder ein Jahr später; ich erinnere mich nicht mehr genau.
Doch es kam der Tag, da Madame Kleinfelter mich in ihr Büro
rief.
»Es gibt wichtige
Neuigkeiten, Abigail.«
Mich durchzuckte
jähe Hoffnung. »Geht es um meine Mutter?«
Verlegenheit
zeichnete sich in ihrer Miene ab. »Eigentlich nicht. Es hat mehr
mit den Familiengeschäften zu tun. Auch wenn du in die näheren
Einzelheiten nicht eingeweiht bist, ist es wohl kein großes
Geheimnis, dass wir seit dem Waffenstillstand zu kämpfen haben. Die
Goldene Stunde benötigt kaum Klone, da es genug Maschinen gibt, die
intelligent genug sind, um als Arbeitssklaven dienen zu können.
Bislang haben wir uns mühsam über Wasser gehalten, jedoch nur
deshalb, weil wir auf den Kleinen Welten eine Handvoll treuer
Kunden haben. Offen gesagt, sind die Vorzeichen schon seit mehreren
Jahren ungünstig. Und aufgrund der ständigen Arbeiten am Haus, von
den Pflegekosten für deine Mutter ganz zu schweigen, sind unsere
Rücklagen stetig geschrumpft.« Sie hob den Zeigefinger, bevor ich
etwas sagen konnte. »Ich will ganz offen sein: Jahrelang hat man
geglaubt, unser Heil liege in einer Verschmelzung der beiden
Handelskonzerne. Der kleine Junge, mit dem du immer gespielt hast …
gewisse Kreise haben gehofft, eure Freundschaft könnte irgendwann
in eine Heirat und eine geschäftliche Allianz münden.« Sie ließ
durchklingen, dass diese gewissen Kreise offenbar nicht mit Madame
Kleinfelter gerechnet hatten. »Dazu wird es nicht mehr kommen. Sie
haben sich mit einem anderen Konzern zusammengetan und uns in der
Kälte stehen lassen. Ich fürchte, du wirst deinen Freund vorerst
nicht wiedersehen, Abigail – erst dann, wenn du alt genug bist,
eigene Entscheidungen zu treffen.«
Endlich wusste ich,
weshalb unsere spannungsreiche, von unterschwelliger Boshaftigkeit
geprägte Freundschaft ein jähes Ende gefunden hatte. Eigentlich
hatte ich keinen Grund, deswegen traurig zu sein, doch andererseits
war es auch nicht so, dass ich mich stattdessen hundert anderen
Freunden hätte zuwenden können.
Ich schwieg, denn
ich spürte, dass Madame Kleinfelter noch mehr zu verkünden
hatte.
»Wie ich schon
sagte, gibt es eine neue Entwicklung – die möglicherweise sehr
günstige Folgen für uns haben könnte. Hast du schon von einer
gewissen Ludmilla Marcellin gehört, Abigail?«
»Ich glaube
nicht.«
»Im Großen und
Ganzen spricht das für dich. Ludmilla Marcellin ist die Erbin einer
der reichsten Familien in der Goldenen Stunde. Anders als bei den
Gentianern beruht ihr Reichtum jedoch nicht auf speziellen
Kenntnissen auf dem Gebiet der Naturwissenschaften. Während des Gro
ßen Brandes hat sie eine Menge Geld mit dem Handel mit
Finanzinstrumenten verdient. Das ist natürlich auch eine
Fertigkeit, jedoch nicht vergleichbar mit unserer Expertise auf dem
Gebiet des Klonens. Und um das Klonen geht es auch in diesem
Fall.«
»Das verstehe ich
nicht.«
»Ludmilla Marcellin
hat beschlossen, ein neues Projekt auf den Weg zu bringen. Ein
ehrgeiziges Projekt, das ihr viele Feinde machen wird – nicht dass
sie sich davon jemals hätte von einem Vorhaben abhalten lassen. Sie
beabsichtigt, das Sonnensystem zu verlassen und das bekannte
Universum zu erkunden. Seit dem Waffenstillstand hat der
Marcellin-Konzern zu diesem Zweck Sachverstand und Material
gesammelt. Jetzt fehlt noch der letzte Baustein, und an diesem
Punkt kommen wir ins Spiel. Ludmilla Marcellin ist auf das
Fachwissen der Familie Gentian angewiesen. Sie braucht
Klone.«
»Unsere
Klone?«
»So ist es, Abigail.
Und sie ist bereit, für unsere Dienste zu zahlen. Das ist der
Rettungsring, auf den wir gewartet haben; die Gelegenheit, unsere
Finanzen in Ordnung zu bringen. Ludmilla Marcellin ist eine
Trendsetterin – wo sie hingeht, werden andere ihr nachfolgen. Aber
wir müssen zunächst unsere Ernsthaftigkeit unter Beweis stellen.
Der Gouverneursausschuss hält es für geraten, dass du dich mit
dieser Frau triffst, damit sie sieht, dass die Familie Gentian
Zukunft hat.«
»Wird sie hierher
kommen?«
»Nein, wir müssen zu
ihr fliegen.«
»Ich habe das Haus
noch nie verlassen.«
»Es gibt immer ein
erstes Mal«, sagte Madame Kleinfelter, dann entließ sie
mich.
Bald darauf wurde
ich zur Shuttle-Plattform geleitet und verließ zum ersten Mal mein
Zuhause. Ich wurde von dem Planetoiden fortgerissen, und nun sah
ich das Haus endlich so, wie es wirklich war: eine Art wuchernder
Architekturpilz, der sich von Horizont zu Horizont erstreckte.
Meine eigene Welt war größer gewesen, denn sie umfasste auch die
Welt-in-der-Welt des Puppenpalasts. Als sie jetzt, durch die Abgase
des Shuttles in Nebel gehüllt, hinter mir zurückfiel, wurde mir
bewusst, wie jämmerlich klein und begrenzt sie gewesen
war.
Das Shuttle flog mit
mir durch das dicht besiedelte Zentrum der Goldenen Stunde, wo der
Himmel gesprenkelt war von falschen Sternen und den wandelbaren
Konstellationen der dicht gepackten Kleinen Welten. Inzwischen
hatte ich alles über Ludmilla Marcellin gelesen, was ich finden
konnte, doch obwohl der Infowürfel inzwischen mitteilsamer war als
in meiner Kindheit, hatte er mir nichts über ihre Pläne zur
Erkundung des Universums verraten. Ich dachte an eine Bemerkung,
die der kleine Junge bei einem seiner Besuche hatte fallen lassen.
Er hatte gemeint, eines Tages werde die Menschheit von der Goldenen
Stunde aus in die Weite der Galaxis aufbrechen. Das waren die Worte
seines Vaters gewesen, doch er hatte daran geglaubt. Ich hatte
erwidert, dort draußen gäbe es nichts, was sich zu sehen lohne,
denn die Sonden und Teleskope hätten uns bereits alle möglichen
Informationen über andere Planeten geliefert. Jetzt fragte ich
mich, ob Ludmilla Marcellin etwas wusste, das mir unbekannt
war.
Vor meiner Audienz
bei der Familienerbin durfte ich mir ihren Raumschiffpark
anschauen. Das Shuttle flog durch einen Sicherheitskordon und
gelangte in das Hoheitsgebiet eines kleinen, kugelförmigen
Asteroiden. Um den Asteroiden kreisten zahlreiche hässliche
Raumschiffe. Schiffe dieser Größe hatte ich noch nie gesehen und
auch nicht von ihnen gelesen. An einigen Schiffen waren Baugerüste.
Hin und wieder leuchtete ein Schweißgerät auf oder ein Laser, und
man sah eine Handvoll Arbeiter in Raumanzügen, doch für mein
ungeübtes Auge sah es nicht so aus, als gäbe es noch viel zu tun.
Ich zählte fünfunddreißig Raumschiffe, dann stieg vom Asteroiden
langsam das sechsunddreißigste auf.
Der Felsbrocken war
in der Mitte aufgebohrt, wie ein Apfel am Stiel. Unser
ferngesteuertes Shuttle flog durch die Öffnung. Wir kamen dem
startenden Raumschiff ganz nahe; sein Rumpf glitt in wenigen Metern
Abstand an den Shuttle-Fenstern vorbei. Es glich den anderen
Raumschiffen, abgesehen davon, dass die blumenartige Öffnung an der
Vorderseite verschlossen war. Platz würden wir erst dann haben,
wenn das spitznasige Raumfahrzeug den Asteroiden hinter sich
gelassen hatte.
Die Raumschiffe,
erfuhr ich später, waren Bussardkollektoren – schon vor tausend
Jahren hatte man von solchen Schiffen geträumt, sie aber nie
gebaut. Die bislang einzige interstellare Expedition hatte ein
Fünftel Lichtgeschwindigkeit erreicht, doch diese Schiffe konnten
viel schneller fliegen. Wenn sie aufhörten zu beschleunigen – wenn
sich die Reibung der Ansaugfelder und der erzielbare Schub
gegenseitig aufhoben -, würden die Bussardkollektoren mit acht
Zehntel Lichtgeschwindigkeit fliegen. Während des Hin- und
Rückflugs zu den nächsten Sternen würden zu Hause nur etwa zehn
Jahre verstreichen.
Ludmilla Marcellin
aber beabsichtigte etwas anderes. Sie wollte viel weiter fliegen.
Sie hatte nicht die Absicht, zur Goldenen Stunde
zurückzukehren.
Wir flogen in den
Konstruktionsasteroiden hinein. Er wurde von innen nach außen
ausgehöhlt. In der Mitte befand sich ein kugelförmiger Hohlraum,
der sich in dem Maße erweiterte, wie Material entnommen und in
Raumschiffe verwandelt wurde. Die Rümpfe unfertiger Raumschiffe –
von denen einige kurz vor der Fertigstellung standen, während
andere mehr Ähnlichkeit mit Skeletten hatten – bildeten einen nach
innen weisenden Wald. Es gab Hunderte Schiffe, doch wenn Ludmilla
Marcellin fertig war, würde es noch Hunderte mehr geben. Der
Asteroid würde nahezu verbraucht sein; übrig wäre nur noch eine
hauchdünne Schale, vergleichbar dem papierenen Kadaver, der
zurückbleibt, wenn eine Spinne ein Insekt verdaut hat.
In der Mitte des
Hohlraums schwebte eine Raumstation, an der bereits etwa ein
Dutzend Shuttles und leichte Raumfahrzeuge angedockt hatten. Wir
legten ebenfalls an, stiegen aus und wurden von den Vertretern der
Marcellin-Familie begrüßt. Man bewirtete uns, führte uns
Präsentationen und Modelle vor und gab uns das Gefühl, wichtig zu
sein. Zahlreiche Erwachsene redeten mit mir, und die meisten hatten
Mühe, den Mittelweg zwischen Herablassung und Offenheit zu finden.
Alle wussten, dass ich fünfunddreißig Jahre alt war, doch das
vergaßen sie leicht, da ich aussah wie eine Zwölfjährige und auch
so redete. Nach und nach aber begriff ich, was Ludmilla Marcellin
vorhatte.
Am Ende wollte sie
über eintausend Raumschiffe verfügen. Sie sollten auf
unterschiedlichen Kursen in den interstellaren Raum starten und
jeweils ein anderes Sonnensystem anfliegen. Einige Schiffe
brauchten bis zu ihrem ersten Ziel nur etwa ein Dutzend Lichtjahre
zu überwinden. Andere würden zwanzig, dreißig oder noch mehr
Lichtjahre weit fliegen müssen.
Und jedes Raumschiff
hätte Ludmilla Marcellin an Bord.
Genauer gesagt,
jedes Schiff würde ein Duplikat von Ludmilla Marcellin an Bord
haben: einen Klon mit der Persönlichkeit und den Erinnerungen der
genetischen Vorlage. Sie beabsichtigte, sich in tausend Facetten
aufzusplittern und im interstellaren Raum zu
verteilen.
Schließlich traf sie
selbst ein; zuvor hatte sie mit einem Shuttle eines der neuen
Raumschiffe inspiziert. Sie war eine hochgewachsene, bezaubernde
Erscheinung. Ihr Charisma ließ den Raum erstrahlen, als wäre sie
die einzige Lichtquelle. Sie hatte eine tiefe, energische Stimme.
Unwillkürlich nahm man ihr ab, dass sie ihre Pläne verwirklichen
würde, so ausgefallen sie auch sein mochten.
»Ich vertraue auf
den menschlichen Erfindungsgeist«, sagte Ludmilla Marcellin. »Ich
bin der festen Überzeugung, dass wir nicht ewig am kleinen
Lagerfeuer dieses durchschnittlichen Sterns hocken bleiben werden.
Wir leben jetzt seit tausend Jahren im Weltraum, und die Goldene
Stunde ist älter als jeder lebende Mensch. Es fällt leicht zu
glauben, dass es ewig so weitergehen und dass dieses stabile
Arrangement uns so lange genügen wird, bis die Sonne erlischt. Doch
das wird es nicht. Im Vergleich mit der vor uns liegenden Zukunft
sind diese tausend Jahre nur ein Augenblick, ein Atemholen, bevor
das eigentliche Abenteuer beginnt. Ich beabsichtige, eine der
Ersten zu sein, die daran teilnehmen. Schon bald werden meine
Raumschiffe fertiggestellt sein – eine Flotte von eintausend
wundervollen Bussardkollektoren. An Bord eines jeden Raumschiffs
wird sich jeweils einer der Klone befinden, die ich von mir
anfertigen werde – einer meiner Splitterlinge, wenn Sie so wollen.
Die Schiffe werden sie versorgen – eine Besatzung ist nicht
erforderlich. Meine Klone werden eingefroren werden, bis sie ihr
Ziel erreicht haben, wo sie wieder aufgetaut werden. Sie werden die
Raumschiffe verlassen und neue Welten und Monde erkunden. Sie
werden Dinge sehen, die noch kein anderer Mensch je erblickt hat.
Wenn sie genug gesehen haben, werden sie ihre Reise fortsetzen.
Jedes Schiff wird drei festgesetzte Ziele ansteuern und dabei immer
weiter in die Galaxis vordringen. Nach Erreichen des dritten Ziels
werden die Splitterlinge in unbekanntes Gebiet vordringen, für das
uns bislang keine verlässlichen Daten vorliegen – sie werden
Sternsysteme besuchen, die außerhalb des Bereichs unserer
Robotsonden liegen. Die Splitterlinge werden unter Berücksichtigung
des Wissens, das sie seit Verlassen der Goldenen Stunde erworben
haben, selbstständig entscheiden müssen, wohin sie reisen. Sie
werden einen neuen Kurs festlegen und weiterfliegen. Inzwischen
werden seit Beginn der Reise mehr als hundert Jahre verstrichen
sein. Viele von Ihnen werden tot und begraben sein, während ich
gerade erst Fahrt aufnehme. Die Splitterlinge werden weitere Sterne
besuchen, werden die Luft und den Erdboden von Welten zu schmecken
bekommen, die noch keinen DNA-Strang gesehen haben. Sie werden in
fremden Meeren schwimmen und ihren Erfahrungsschatz stetig mehren.
Und dann – in vier-, fünfhundert Jahren, um die Mitte des
gegenwärtigen Jahrtausends herum – werden sie ihre großen
Raumschiffe wenden und Kurs nach Hause nehmen.«
Ludmilla Marcellin
hielt inne. Sie musterte uns mit strenger Kühle, dann fuhr sie
fort. »Unsere Heimat aber werden wir kaum mehr wiedererkennen. Die
Goldene Stunde wird in fünfhundert oder tausend Jahren vielleicht
noch existieren, doch sicher bin ich mir da nicht. Meine
Splitterlinge werden sich in einem anderen Sonnensystem versammeln,
um eine Welt, die noch keinen Namen hat. Ich bin der festen
Überzeugung, dass die Menschheit zu dem Zeitpunkt damit begonnen
haben wird, sich in den interstellaren Raum hinein auszubreiten.
Vielleicht wird mein Beispiel den Prozess sogar beschleunigen.
Während der langen Rückreise werden meine tausend Raumschiffe –
falls dann noch so viele übrig sind – einige der Welten, die sie
auf der Hinreise erkundet haben, wiederbesuchen. Vielleicht werden
sie feststellen, dass diese Welten seitdem besiedelt wurden. Sollte
das der Fall sein, wird es zu einer merkwürdigen Begegnung kommen:
Die Siedler werden Flüchtlingen aus der Vergangenheit begegnen, die
gleichzeitig Botschafter der Zukunft sind. Doch selbst das wird für
mich erst der Anfang sein. Nach diesem Umlauf von ein paar hundert
Lichtjahren, die tausend Menschenjahren entsprechen, werden meine
Splitterlinge abermals zusammenkommen. Sie werden ihre Erinnerungen
austauschen. Und dann werden sie wieder an Bord ihrer Raumschiffe
gehen und erneut in die Weite aufbrechen. Diesmal werden sie der
Siedlungswelle vorauseilen und erst dann anhalten, wenn sie mehrere
Hundert Lichtjahre zurückgelegt haben. Sie werden weitere Welten
besuchen. Am Ende dieses Umlaufs – der diesmal länger dauern wird
als der vorige – werden sie fast tausend Lichtjahre von der
Goldenen Stunde entfernt sein. Inzwischen werden sie einigen der
anomalen Strukturen nahe gekommen sein, die wir im interstellaren
Raum entdeckt haben. Meine Splitterlinge werden die ersten Menschen
sein, die mit diesen geheimnisvollen Gebilden in Berührung kommen.
Sie werden als Erste in Erfahrung bringen, ob es vor uns noch
andere gab; ob wir die erste Spezies sind, welche die Galaxis für
sich beansprucht. Vielleicht sind uns auch schon andere mit
ähnlichen Raumschiffen zuvorgekommen – schließlich spreche ich von
einem Zeitraum von tausend Jahren. Aber Sie verstehen, worauf ich
hinauswill. Irgendjemand muss den ersten Schritt tun. Das kann
ebenso gut ich sein.«
»Wie viele Umläufe
soll es geben?«, fragte jemand.
Sie zuckte die
Achseln, als hätte sie sich diese Frage noch nie gestellt. »So
viele, wie es braucht, bis es keinen Spaß mehr macht. Jeder Umlauf
wird länger dauern als der vorige, bis meine Raumschiffe die
Milchstraße umrundet haben. Bis dahin wird die Menschheit Zeit
gehabt haben, sich auf alle bewohnbaren Sonnensysteme der Galaxis
auszubreiten. Ich glaube, so schnell wird einem das Touristendasein
nicht langweilig. Weshalb also nicht eine Weile auf Reisen
zubringen und abwarten, was passiert?«
Ludmilla Marcellin
beantwortete nacheinander unsere Fragen und entkräftete alle
Einwände und Spitzfindigkeiten, die vorzubringen jemand die
Tollkühnheit besaß. Die Technologie für das Einfrieren und Auftauen
der Klone? Seit dem Beginn des Weltraumzeitalters hatte noch
niemand einen Menschen eingefroren und anschließend wiederbelebt.
Egal: Mittels eines Crashkurses in technischer Wiederbelebung
würden sich die Marcellins die erforderlichen Kenntnisse aneignen.
Die Raumschiffe würden nicht so lange warten müssen, bis die
Technik perfektioniert wäre; die Klone könnten erst einmal wach
bleiben, und die neuesten Erkenntnisse könnte man ihnen auf dem
Funkweg übermitteln.
Die Technologie für
das Verschmelzen der Erinnerungen von tausend Einzelwesen? Eine
lächerliche Frage. Im Ansatz war die Technik bereits verfügbar. Ich
brauchte nur daran zu denken, wie der Puppenpalast mit meinen
Erinnerungen umgegangen war, um zu wissen, dass sie in der
Beziehung Recht hatte. In tausend Jahren würde das vermutlich ganz
selbstverständlich sein. Mit der gleichen Unvermeidlichkeit würden
die Splitterlinge sich die erforderlichen Techniken aneignen, um
diese Erinnerungen über gewaltige Lebensspannen hinweg zu managen.
Ludmilla Marcellin betrieb keinen solchen Aufwand, um ihre Klone
nach zwei oder drei Umläufen an Altersschwäche sterben zu lassen.
Die menschliche Rasse mochte sich mit der gegenwärtigen
Lebensspanne zufriedengeben, doch die Splitterlinge sollten nicht
weniger als physische Unsterblichkeit erlangen (oder zumindest in
der Lage sein, ihre Erinnerungen und Persönlichkeiten auf neue
Körper zu übertragen), sonst wäre die ganze Unternehmung sinnlos
gewesen.
All diese Probleme
waren jedoch überwindbar. Wenn man über genügend Zeit und Geld
verfügte, gab es im Universum nur sehr wenige unlösbare
Probleme.
Da fiel mir eine
Frage ein, die auf eine Unterhaltung mit dem kleinen Jungen
zurückging.
»Weshalb das Ganze
nicht beschleunigen?«
»Ich glaube, ich
kann Ihnen nicht folgen, Abigail«, sagte Ludmilla Marcellin
freundlich, denn wir waren einander bereits vorgestellt
worden.
»Ich meine, weshalb
sollte man sich mit acht Zehnteln einer Geschwindigkeit begnügen,
die von sich aus schon ziemlich langsam ist?«
»Bei jedem Treffen
werden unsere Raumschiffe nach dem neuesten Stand der Technik
verbessert. Ich habe keinen Zweifel daran, dass wir nach ein paar
Umläufen die Bussardkollektoren durch Raumfahrzeuge ersetzt haben
werden, die der Lichtgeschwindigkeit erheblich näher kommen. Das
wird natürlich einige Vorteile mit sich bringen. Wenn sich das
subjektive Zeitintervall verkürzen lässt, brauchen wir nicht mehr
so viel Zeit im tiefgefrorenen Zustand zu verbringen. Allerdings
werden wir die Lebensprozesse auch dann noch verlangsamen müssen –
wenn keine Gefahr mehr besteht, dass wir durch die
Beschleunigungskräfte zerquetscht werden, gibt es keine
Beschränkung mehr für die Beschleunigung, was bedeutet, dass die
Raumfahrzeuge in der Lage sein werden, beliebig hohe
Geschwindigkeiten zu erreichen, bevor sie wieder verzögern müssen.
Es geht dabei darum, dass wir bestimmte Ziele erreichen wollen –
wir wollen nicht einfach nur den Bug auf den Rand des Universums
hin ausrichten und die ganze Zeit über beschleunigen.«
»Das habe ich nicht
gemeint – Sie gehen immer noch davon aus, dass die
Lichtgeschwindigkeit die äußerste Grenze darstellt.«
»Man bezeichnet sie
nicht umsonst als Naturkonstante, Abigail. Aber vielleicht haben
Sie ja Recht – vielleicht wird eine neu entstandene Zivilisation,
ein ferner Ableger der Goldenen Stunde, eines Tages eine
Möglichkeit finden, schneller als das Licht zu reisen. Sollte das
geschehen, wird es große Bedeutung für uns haben. Keine Angst, wir
werden uns die Entwicklung rückhaltlos zu eigen machen. Das aber
wird nichts an unserem Wesen und auch nichts am Sinn unserer
Existenz ändern. Auch dann wäre die Galaxis immer noch zu groß und
zu komplex, als dass eine Person allein sie begreifen könnte. Dass
man sich in mehrere Personen aufsplittert und verschiedene
Standpunkte einnimmt, ist die einzige Möglichkeit, wenn man sich
nicht nur mit einem Stück des Kuchens begnügen will. Allerdings
glaube ich nicht, dass in naher Zukunft mit der Entwicklung eines
überlichtschnellen Antriebs zu rechnen ist. An diesem Problem
arbeiten sich wohlmeinende Leute schon seit tausend Jahren ab,
Abigail. Bislang ist es nicht gelungen, auch nur den kleinsten
sinnvollen Informationsschnipsel schneller als das Licht zu
übermitteln – von einem großen, schwerfälligen Raumschiff ganz zu
schweigen. Diese Grenze stellt eine der grundlegenden Konstanten
des Universums dar – sie zu überwinden hieße, auf einem Schachbrett
Go spielen zu wollen. Und das geht nicht.«
»Warum
nicht?«
»Wirf auf dem
Heimweg einen Blick in deinen Infowürfel und bitte ihn um
Informationen zur Verletzung des Kausalitätsprinzips. Ich habe das
auch einmal getan, weil ich mir die gleiche Frage gestellt habe wie
du. Weshalb sollte ich mich mit einer Einschränkung abfinden?
Welches Recht hat das Universum, mir vorzuschreiben, was ich tun
und lassen soll? Doch in diesem Fall hat das Universum das letzte
Wort. Schau in den Würfel. Ich glaube, das wird dir
weiterhelfen.«
Es gab noch mehr zu
sehen und zu lernen, doch der Rest des Besuchs verging wie im Flug.
Ich gab Ludmilla Marcellin die Hand und erklärte mich bereit, ihr
die Klon-Technologie zur Verfügung zu stellen, mit der sie ihre
Vision würde wahrmachen können. Währenddessen lächelten meine
Begleiter – Madame Kleinfelter und die Angehörigen des
Gouverneursausschusses – nachsichtig, als hätte ich auf der Bühne
ein Liedchen vorgetragen.
Seltsam dabei war,
dass niemand zu ahnen schien, was ich wirklich dachte.
In meinem Kopf hatte
eine Idee Gestalt angenommen. Sie hätte eine kleine, flackernde
Flamme sein können, die gleich nach dem Entzünden wieder erlosch.
Stattdessen aber brannte die Flamme immer heller und
kräftiger.
Ludmilla Marcellin
beabsichtigte, ihren Namen an den Himmel zu schreiben. Sie wollte
nicht nur die Menschheitsgeschichte, sondern auch Raum und Zeit mit
Riesenschritten durchmessen. Das war ein Ehrfurcht gebietendes
Vorhaben, das jede Vorstellungskraft sprengte, von der Umsetzung
ganz zu schweigen. Dennoch wollte sie ihren Plan
verwirklichen.
Der Gedanke, der in
meinem Kopf brannte, war folgender:
Wenn sie das kann,
weshalb kann ich es dann nicht auch?
Als uns das
Familienshuttle nach Hause brachte, geschahen zwei bemerkenswerte
Dinge. Ich wandte mich an Madame Kleinfelter und sagte: »Sie werden
uns für unseren Sachverstand eine Menge Geld zahlen, nicht
wahr?«
»Sagen wir mal so:
Das Haus wird eine ganze Weile keine Geldsorgen mehr haben. Und
dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass Ludmilla Nachahmer
finden könnte. Aber das wird sie – denk an meine Worte. Selbst
dann, wenn ihre tausend Raumschiffe in die Sonne stürzen würden,
werden andere es ihr nachtun wollen. Und jeder Einzelne wird zur
Herstellung der Klone auf die Technologie der Gentianer angewiesen
sein.«
»Dann befinden wir
uns in einer starken Verhandlungsposition.«
»Ja, seit langer
Zeit wieder.«
»Wurden die Verträge
bereits ausgearbeitet?«
Sie bedachte mich
mit einem seltsamen Blick, als hätte ich eine unschickliche
Bemerkung gemacht. »Es sind noch ein paar Details auszuarbeiten,
aber die grundlegenden Elemente der Vereinbarung …«
»Wir brauchen ihre
Raumschiffe«, sagte ich.
»Die Raumschiffe
sind für Ludmilla Marcellin gedacht. Sobald die vorgesehene Anzahl
erreicht ist, wird sie die Produktion einstellen.«
»Ich meine nicht
direkt die Schiffe, sondern die Baupläne. Wenn wir gründlich genug
suchen, werden wir ebenfalls einen stark metallhaltigen Asteroiden
finden. Andernfalls können wir den Asteroiden verwenden, auf dem
das Haus steht. Aber wir brauchen die Baupläne, damit wir unsere
eigene Flotte bauen können.«
Madame Kleinfelter
hatte noch immer nicht begriffen, worauf ich hinauswollte. »Aber
wir brauchen doch gar keine Flotte«, sagte sie.
»Ich schon«,
entgegnete ich. »Ich will haben, was sie hat.«
Ich beherzigte
Ludmillas Rat und machte mich im Würfel über die Kausalität schlau.
Zunächst wollte er mich mit einer Definition für Kleinkinder
abspeisen, ohne auf die Beziehung zu Ludmillas Vorhaben einer
kosmischen Expansion einzugehen. Als ich den Würfel drängte, mir zu
erklären, wie man die Kausalität »verletzen« könne, bekam ich eine
enttäuschende Abfuhr, da der Würfel offenbar glaubte, dies
übersteige mein gegenwärtiges Begriffsvermögen.
Ich ließ nicht
locker. Ich konnte sehr hartnäckig sein.
Schließlich erklärte
der Würfel, dies sei aus mehreren Gründen problematisch. Aus der
Perspektive des Verhältnisses von Masse und Energie betrachtet,
gleiche die Lichtgeschwindigkeit einem Berggipfel, den man niemals
erreichen könne, so hoch man auch klettere. Wenn ein Raumschiff
eine gewaltige Energiemenge aufwende, könne es bis auf ein oder
zwei Prozent an die Lichtgeschwindigkeit herankommen. Allerdings
wäre unendlich mehr Energie erforderlich, um diese letzte Lücke zu
schließen, und selbst dann könnte das Schiff lediglich die
Lichtgeschwindigkeit erreichen, sie jedoch nicht überschreiten. Um
die Eigenschaften der Reise mit Überlichtgeschwindigkeit zu
beschreiben, ergingen sich die Wissenschaftler nach Art von Alice
im Wunderland in allerlei Unsinn mit imaginären Zahlen. Auch daraus
ging nicht hervor, wie man diese Grenze hätte überschreiten
können.
Doch angenommen, die
Grenze brauchte gar nicht überschritten zu werden, und es gab eine
sinnvolle Abkürzung – eine Art Wurmloch – durch die Raumzeit
hindurch, dann gab es einen noch elementareren, subtileren Einwand.
Diesen bezeichnete man als Kausalitätsprinzip.
Es bedeutete, dass
die Ursache der Wirkung stets vorausgehen musste. Außerdem folgte
daraus, dass die Einführung des überlichtschnellen Fluges – der
Würfel sprach von raumbezogenen Kausalzusammenhängen – zu
Situationen führen könnte, in denen das Kausalitätsprinzip verletzt
würde. Das war keine theoretische Spitzfindigkeit, sondern das
Einfallstor, durch das Paradoxien in die Wirklichkeit
kämen.
Hätte ich schneller
fliegen können als das Licht, hätte ich die Folgen eines
Ereignisses – zum Beispiel das Loch in der Verkleidung eines
Roboters, hervorgerufen durch eine überlichtschnelle Kugel –
gesehen, bevor der Schuss abgefeuert wurde, und dem Schützen die
überlichtschnelle Aufforderung übermitteln können, nicht zu
schießen.
So erhellend die dem
Würfel abgetrotzten Ausführungen auch gewesen waren, kann ich
gleichwohl nicht behaupten, damals alles verstanden zu haben.
Allerdings begriff ich, dass das Universum nicht die Absicht hatte,
dem Traum von der mühelosen Expansion entgegenzukommen. Wir konnten
uns vom Universum so viel nehmen, wie wir haben wollten, doch die
Inbesitznahme würde außergewöhnlich viel Geduld
erfordern.
Den Rest des Abends
über grübelte ich darüber nach. Ich kam mir eingezwängt vor und
verspürte eine Beengung in der Brust, als wären meine Grenzen zu
eng gezogen. Von einer Kathedrale, die tausend Jahre Arbeit
erfordert hatte, einmal abgesehen, gehörte die Geduld nicht zu den
herausragenden Tugenden der Menschen.
Später – als der
heimatliche Planetoid längst in Sicht gelangt war – bekam ich einen
Anruf von einem fernen Gratulanten. Madame Kleinfelter, aufgrund
der vorausgegangenen Unterhaltung noch immer ganz grau im Gesicht,
als hätte ich sie geohrfeigt, nahm seinen Versuch, mich zu
kontaktieren, mit düsterer Miene auf.
»Das ist nicht
recht«, sagte sie, während mir noch immer die Kausalität im Kopf
herumschwirrte. »Sie haben deine Heiratsaussichten ruiniert, nicht
wir. Wie kommt er dann dazu, dich jetzt verspotten zu
wollen?«
»Vielleicht will er
mich gar nicht verspotten. Darf ich mit ihm sprechen?
Unbelauscht?«
Ich nahm den Anruf
entgegen. Aufgrund der Zeitverzögerung mussten minutenlange Pausen
in der Unterhaltung aufgetreten sein, doch daran erinnere ich mich
nicht mehr.
»Wie ich höre, ist
dein Auftritt bei den Marcellins recht erfolgreich verlaufen«,
sagte der kleine Junge. Er wirkte jetzt älter, als hätte man ihm
ebenfalls erlaubt, zu altern. Seine Stimme hatte einen rauen Klang,
an den ich mich von den Nachmittagen im Spielzimmer her nicht
erinnerte. »Das freut mich für dich. Es war klar, dass sich früher
oder später jemand für die Klon-Technologie interessieren würde,
und ich bin sicher, das kam keinen Moment zu früh.«
»Ich hätte nicht
gedacht, wieder von dir zu hören.«
»Es wäre
unangebracht, wenn wir uns jetzt treffen würden. Es tut mir leid,
Abigail. Ja, wirklich. Mit dem, was auf Geschäftsebene passiert
ist, hatte ich nichts zu tun. Und du auch nicht, glaube ich. Wir
waren einfach nur Bauern, die von den Erwachsenen auf dem Spielfeld
umhergeschoben wurden. Ich will damit sagen, ich wäre gern mit dir
befreundet geblieben.«
»Das geht
nicht.«
»Du sagst das so,
als würdest du jetzt die Entscheidungen treffen. Bist du wirklich
in die Fußstapfen deiner Mutter getreten?«
»Das geht dich
nichts an.«
»Ich möchte dir gern
sagen, dass es mir leidtut, wie ich über sie geredet habe. Das war
nicht nett von mir. Aber ich glaube, du musstest es irgendwann
erfahren. Unsere Beziehung war immer irgendwie ungleichgewichtig,
denn ich habe viel mehr über dich gewusst als du
selbst.«
»Das sollte dir
keine schlaflosen Nächte bereiten.«
»Oh, das wird es
nicht. Wären die Rollen vertauscht gewesen, wärst du bestimmt
ebenso grausam gewesen wie ich. Aber es ist noch etwas unerledigt
zwischen uns, findest du nicht?«
Mir schwirrte noch
der Kopf von Phantasien, die von interstellaren Eroberungen
handelten. Ich würde mich in tausend funkelnde Splitter aufteilen
und jedem einzelnen von ihnen einen Lebensfunken meiner
Persönlichkeit einhauchen. Der kleine Junge sprach aus einer
Vergangenheit zu mir, die mir nichts mehr bedeutete. Ich wollte,
dass er verschwand und meine Kindheit mitnahm.
»Ich glaube nicht,
dass zwischen uns noch etwas unerledigt ist.«
»Wir haben das
Palastspiel noch nicht abgeschlossen«, sagte er.
Es war eine Ewigkeit
her, dass ich dem grünen Kubus mehr als einen flüchtigen Gedanken
gewidmet hatte. Die Welt im Kubus war in dem Zustand erstarrt, den
sie eingenommen hatte, als wir zum letzten Mal durch die Tür nach
draußen getreten waren.
»Das ist
vorbei.«
»Das muss nicht so
sein. Ich kann dich aus naheliegenden Gründen nicht besuchen, aber
es gibt noch eine andere Möglichkeit. Eines der Palastmodelle –
einer der Prototypen – ist zufällig in meinen Besitz
gelangt.«
»Wir können uns
trotzdem nicht treffen.«
»Das brauchen wir
auch nicht. Wir können die Paläste miteinander synchronisieren.
Wenn ich meinen Palast betrete, spult sich darin die gleiche
Geschichte ab wie in deinem. Ich werde in der Schwarzen Burg sein
und du im Wolkenpalast, aber die Landschaft ringsumher wird für uns
die gleiche sein. Wenn ich einen Boten losschicke, wird er vor
deinem Tor auftauchen. Wenn du eine Armee zu mir entsendest, werde
ich ihr mit meinen Streitkräften begegnen. Eigentlich war das Spiel
von vorneherein so gedacht gewesen, Abigail. Es wurde speziell
dafür konstruiert. Natürlich gäbe es die Zeitverschiebung – aber
solange wir kein Vier-Augen-Gespräch führen, macht das nichts.
Alles andere dauert im Puppenpalast ohnehin Stunden – deswegen
spricht man ja auch von vorindustrieller
Gesellschaft.«
»Das können wir
nicht tun.«
»Doch, wir müssen!
Sonst hätte ich mir die ganze langwierige Suche nach dem zweiten
Palast auch sparen können. Ich habe ständig an dich gedacht … an
das Spiel, das wir noch beenden müssen.«
»Das werden sie
nicht erlauben.«
»Dann sorg dafür,
dass sie es erlauben. Du hast jetzt die Macht dazu, Abigail – oder
wirst sie bald haben. Setze einen Teil davon für das Spiel ein.
Wirf dein Gewicht in die Waagschale. Bestehe auf deinem Recht,
deinen Puppenpalast mit dem meinen zu verbinden.« Er lehnte sich
zurück. »Graf Mordax wartet auf dich. Bitte enttäusche ihn
nicht.«