Neunundzwanzig
 
 
 
 
 
»Das Schiff schwenkt weiter ab«, sagte Betonie, als die Datenlage keinen anderen Schluss mehr zuließ.
Zwanzig Minuten war es her, dass die Silberschwingen des Morgens mit der Kursänderung begonnen hatte. Zunächst hatten wir uns nichts dabei gedacht und waren davon ausgegangen, die Robots nähmen als Reaktion auf die Annäherung der drei Schiffe eine kleine Kurskorrektur vor. Der Vorteil einer solchen Anpassung war zwar nicht unbedingt einsichtig, doch da wir die taktischen Überlegungen der Robots nicht kannten, nahmen wir an, Portulas Schiff werde irgendwann wieder auf den ursprünglichen Kurs zurückschwenken, nachdem es einen winzigen, aber quantifizierbaren Vorteil gegenüber seinen Verfolgern erlangt hatte.
Aber das Manöver wurde fortgesetzt. In den vergangenen zwanzig Minuten hatte die Silberschwingen den Kurs bereits um ein Dutzend Grad geändert, und nichts deutete darauf hin, dass sie das Manöver beenden wollten.
Die Maschinenzivilisation, die weit verteilten fernen Sterne, die wir als Monoceros-Ring bezeichneten, beschrieben einen Bogen um die Hauptscheibe der Milchstraße. Wenn ein Raumschiff seinen Kurs parallel zur Oberfläche der Scheibe ausrichtete, musste es früher oder später die Maschinenzivilisation erreichen – selbst wenn es nicht zehn oder zwanzig, sondern hunderttausend Jahre dauern sollte. Das Schiff brauchte jedoch nur geringfügig vom Parallelkurs abzuweichen, um den Monoceros-Ring gänzlich zu verfehlen. Während die Silberschwingen die Kursänderung fortsetzte, entfernte sich ihr mutmaßliches Ziel immer weiter von der Maschinenzivilisation.
Die Kurskorrektur währte noch eine Stunde, bis das Schiff schließlich wieder eine gerade Flugbahn beschrieb. Das Manöver hatte die Robots ein wenig Vorsprung gekostet, doch diesen Nachteil würden sie wieder wettmachen, wenn wir das Manöver nachvollzogen, wozu wir irgendwann gezwungen sein würden, wenn wir die Verfolgung fortsetzen wollten.
»Weshalb haben sie damit bis jetzt gewartet?«, fragte Betonie. »Sie müssen von Anfang an gewusst haben, wohin sie wollten. So haben sie lediglich Zeit verloren.«
»Vielleicht waren sie gezwungen, ihre Pläne zu überdenken, als sie feststellten, dass sie verfolgt werden«, sagte Bilse.
»Nicht unbedingt«, entgegnete ich. »Ich glaube, sie wussten die ganze Zeit über ganz genau, wo sie hinwollten. Sie wollten uns glauben machen, sie kehrten zum Monoceros-Ring zurück, deshalb haben sie nach Verlassen des Orbits zunächst diesen Kurs eingeschlagen. Sobald sie außer Beobachtungsreichweite gewesen wären, hätten sie Kurs auf ihr eigentliches Ziel genommen. Mit unserer prompten Reaktion haben sie nicht gerechnet; wir haben die Verfolgerflotte so schnell gestartet, dass sie die Kursänderung nicht mehr unbeobachtet durchführen konnten. Deshalb haben sie sie jetzt vollzogen, noch vor Erreichen einer relativistischen Geschwindigkeit. Wenn man mit sechs Zehnteln Lichtgeschwindigkeit fliegt, ist es nicht leicht, eine Kursänderung vorzunehmen, aber bei neun Zehnteln Lichtgeschwindigkeit oder mehr ist es noch wesentlich schwieriger.«
»Aber wenn sie nicht den Monoceros-Ring anfliegen …«, sagte Oxalis.
»Wir sind jetzt dicht an ihrem Kurs dran«, meinte Hederich, dessen Imago zum Schwebedisplay blickte. »Natürlich könnte es gut sein, dass sie noch ein paar Kurskorrekturen im Ärmel haben. Aber wenn wir vom jetzigen Kurs ausgehen, können wir ihn mit einem Fehler von ein paar tausend AE bis auf eine Strecke von tausend Lichtjahren extrapolieren.«
»Zeig mal«, sagte Betonie, seine Miene ganz starr vor Konzentration.
Auf dem Display der Bummelant wurde eine Karte der Galaxis angezeigt. Die Karte zoomte auf unsere momentane Position im Scutum-Crux-Spiralarm, bis eine Lücke zwischen dem hellen Fleck unseres Raumschiffsgeschwaders und dem silbernen Kreis Neumes sichtbar wurde. Genau genommen befanden wir uns noch innerhalb des Sonnensystems, würden aber bald die Heliopause des Sterns durchstoßen und in den eigentlichen interstellaren Raum gelangen, wo nur noch pechschwarze Kometen ihre Bahn zogen.
»Wir glauben, sie fliegen in diese Richtung«, sagte Hederich, als eine von der Silberschwingen des Morgens ausgehende rote Linie erschien. Als der Vektor den Rand des Kastens erreichte, veränderte sich der Darstellungsmaßstab, und ein größeres Raumvolumen wurde angezeigt. »Innerhalb der ersten zehn Lichtjahre gibt es nichts«, bemerkte Hederich. »Wir gehen auf einhundert. Immer noch keine Treffer – in einer Entfernung von zwei Lichtjahren vom extrapolierten Kurs findet sich kein einziges Sternsystem.« Der Maßstab veränderte sich erneut, bis der Kasten einen Durchmesser von tausend Lichtjahren hatte, doch noch immer wies die rote Linie keinen Schnittpunkt auf. Inzwischen war die Linie aufgrund der kumulativen Berechnungsfehler merklich dicker geworden. »Reicht ziemlich dicht an eine Junggesellensonne in neunhundertdreißig Lichtjahren Entfernung heran«, meinte Hederich skeptisch. »Vielleicht wollen sie dorthin.«
»Keine Planeten, keine Trümmer, kein Eis«, sagte Betonie. »Es gibt keinen Grund, dort haltzumachen.«
Junggesellensonnen waren Sterne, deren Planetensystem bei Begegnungen mit anderen Sternen abhanden gekommen war. Für die Metazivilisationen waren sie allenfalls als Materiallieferanten für Wurmlöcher von Nutzen.
»Ich gehe auf zehntausend Lichtjahre«, sagte Hederich. »Wir befinden uns jetzt weit außerhalb des Scutum-Crux-Arms. Der Fehlerradius beträgt etwa sechs Monate. Nach siebentausend Jahren nähern sie sich bis auf fünfzehn Lichtjahre dem Rand der Harmonischen Konkordanz, einem Reich der mittleren Ebene, dem siebzehnhundert besiedelte Sonnensysteme angehören.«
»Sollte das ihr Ziel sein?«, fragte Rainfarn. »Wenn sie noch eine kleine Kurskorrektur vornehmen …«
»Laut dem Universalen Aktuarium beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass die Harmonische Konkordanz noch existiert, lediglich fünfzig Prozent. Wenn die Silberschwingen dort einträfe, wäre sie bereits auf elf Prozent gesunken«, las Oxalis von seinem eigenen Display ab. »Das ist eine weite Reise, wenn man bedenkt, dass es neun zu eins steht, dass es das Ziel gar nicht mehr gibt.«
»Das UA trifft nicht immer den Nagel auf den Kopf«, gab Rainfarn zu bedenken.
»Aber es liegt öfters richtig als falsch«, entgegnete Oxalis. »Außerdem weist die Harmonische Konkordanz alle Indikatoren für einen typischen Niedergang auf. Es sei denn, die Robots haben es auf die geschrumpften Überreste eines ehemaligen Sternenreichs abgesehen, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie dieses Ziel ansteuern.«
»Ich glaube das auch nicht«, sagte Betonie. »Weite das Raumvolumen aus, Hederich.«
»Wir sind bereits bei zehntausend.«
»Dann müssen wir eben weiter in die Ferne blicken.«
Hederich zuckte die Achseln; seine Miene ließ erkennen, dass er sich von diesem Spiel kein Ergebnis mehr erwartete. »Fünfzigtausend«, sagte er, als sich der Kasten erneut ausdehnte. »Der Fehlerradius beträgt jetzt zweieinhalb Lichtjahre – da werden ganze Sonnensysteme geschluckt. Wir stanzen da einen hübschen Keil aus der Galaxis heraus. Das ergibt mehrere Tausend Kandidaten.«
»Liste die Systeme in der Reihenfolge der Erfassung auf«, sagte Betonie. »Wir arbeiten sie nacheinander ab, um festzustellen, ob uns irgendetwas ins Auge sticht. Währenddessen können wir den Kurs der Silberschwingen genauer bestimmen. Vielleicht gelingt es uns ja, den Fehlerradius zu verringern.«
»Das ist Zeitverschwendung«, sagte Bilse. »Vermutlich wird das Schiff in einer halben Stunde schon wieder in eine ganz andere Richtung fliegen.«
»Dann wiederholen wir den Vorgang eben«, fertigte Betonie den anderen Splitterling ab. »Irgendwohin müssen sie schließlich fliegen. Wenn ich ihr Ziel kennen würde, könnte ich erheblich besser schlafen.«
»Oder auch nicht«, meinte ich.
 
Ich stellte mir vor, Akonit stünde vor mir. Inzwischen fand ich ihn ganz sympathisch und wäre froh gewesen, wenn er bei mir gewesen wäre. Ich war allein an Bord der Bummelant; die Imagos waren vorübergehend abgeschaltet.
»Mir geht da etwas durch den Kopf«, sagte ich, eine Nachricht, die erst in einigen Stunden bei ihm auf Neume eintreffen würde. »Es klingt vielleicht verrückt, aber ich muss ständig daran denken, und ich hoffe, es hat eine Bedeutung für Mezereums Befragung. Irgendetwas hat mit Mieres Leichnam nicht gestimmt.«
Ich stellte mir vor, wie Akonit sich mit skeptischer Miene am Kopf kratzte. Was sollte mit einem Körper, der kilometerweit in die Tiefe gestürzt und auf eine harte Oberfläche geprallt war, nicht stimmen?
»Sie erscheint mir ständig im Traum«, sagte ich. »Sie sagt mir, ich soll aufpassen. So als hätte mein Unterbewusstsein festgestellt, dass etwas nicht stimmt, könnte es meinem Bewusstsein aber noch nicht mitteilen. Die meisten Splitterlinge sind auf Neume geblieben, und ihr habt die Videos, welche die Ymirer bis zu Mieres Tod aufgezeichnet haben. Vielleicht findet sich da etwas …« Ich stockte, denn ich war mir bewusst, wie absurd meine Nachricht auf ihn wirken musste. »Sie ist eine weite Strecke gefallen, Ack. Und wenn sie die ganze Zeit über bei Bewusstsein war und ihren Mörder kannte? Könnte es nicht sein, dass sie versucht hat, uns eine Nachricht zu übermitteln?«
Ich beendete die Aufzeichnung. Ich brauchte mehrere Minuten, um den Mut zu sammeln, sie auch abzuschicken.
 
Das Manöver hatte keine Auswirkungen auf unsere unmittelbaren Pläne gehabt. Wie besprochen, flogen die drei unbemannten Raumschiffe auf unterschiedlichen Kursen parallel zu den Silberschwingen, so dass sie das Schiff, wenn sie es eingeholt hätten, von der Seite angreifen könnten, anstatt am verwundbareren Heck. Auf dem Display bildeten die drei Schiffe ein gleichseitiges Dreieck mit einer Seitenlänge von fünf Lichtsekunden. Die Silberschwingen nahm die Spitze eines Tetraeders ein, zehn Lichtsekunden von den Verfolgern entfernt. Allerdings nahm der Abstand stetig ab. Bei einem Abstand von drei Lichtsekunden würden die Schiffe das Ziel ausreichend präzise unter Beschuss nehmen können, um eine vollständige Zerstörung ausschließen zu können.
Der Abstand schrumpfte schneller als erwartet, wenngleich der Grund dafür noch nicht klar war. Unsere Raumschiffe beschleunigten nicht stärker als vorgesehen, denn ihr Antrieb wurde bereits bis zum Äußersten beansprucht, und allen entbehrlichen Ballast hatten sie ausgestoßen. Aus irgendeinem Grund flog die Silberschwingen nach dem Manöver langsamer als zuvor. Eine genaue Analyse der Flugdaten seit dem Aufbruch von Neume hatte gezeigt, dass die Verlangsamung – oder genauer gesagt die kaum messbare Abnahme der Beschleunigung – schon vorher eingesetzt hatte.
»Sie wissen, dass sie verfolgt werden«, sagte Betonie. »Sie haben keinerlei Grund, nicht mit Maximalgeschwindigkeit zu fliegen. Also, was soll das? Weshalb beschleunigen sie nicht mit voller Leistung?«
»Vielleicht ist das Sabotage«, meinte Melde. »Vielleicht haben Portula und Hesperus Einfluss auf den Antrieb genommen.«
Ich nickte. »Hesperus, ja, das wäre möglich. Aber wenn er in der Lage ist, den Antrieb zu sabotieren …«
Betonie nickte. »Weshalb sollte er sich dann damit zufriedengeben? Wenn er könnte, würde er ihn ganz lahmlegen.«
»Im Hangar sind Raumschiffe«, überlegte ich laut. »Eine ganze Menge sogar, und die meisten davon sind immer noch flugtauglich. Wir wissen, dass sie es in die weiße Arche geschafft haben. Soviel ich weiß, wurde das Schiff entkernt und mit einem parametrischen Antrieb ausgerüstet.«
Betonie lachte scharf auf. »Du glaubst, sie ließen den Antrieb der Arche laufen, um den Antrieb der Silberschwingen zu behindern.«
»Das wäre denkbar. Portula ist nicht der Typ, der sich kampflos geschlagen gibt. Auch wenn sie nicht aus dem Hangar rauskommen, können sie den einen oder anderen Antrieb einschalten.«
»Würde das reichen, um den Raum um die Silberschwingen so stark abzuflachen, dass sie zum Stillstand kommt?«
»Wohl kaum. Wahrscheinlich würde das die Leistung des Antriebs nur um ein paar Prozent verringern, und das auch nur dann, wenn sie alle verfügbaren Schiffe in Gang bringen.« Ich grinste, erfüllt von jähem Stolz und Bewunderung, denn auf einmal glaubte ich zu wissen, was Portula vorhatte. »Genau das ist ihr Plan. Hat Portula etwa den Eindruck gemacht, sie würde die Hände in den Schoß legen?«
»Auf mich nicht«, sagte Agrimony.
»Auf mich auch nicht. Und mit Hesperus’ Unterstützung …«
»Sie hat uns noch nicht berichtet, wie es kam, dass er nach der langen Zeit wieder zum Leben erwacht ist«, sagte Bilse.
»Sie konnte sich denken, dass die beiden Robots mithören würden. Vielleicht wollte sie ihnen diese Information lieber vorenthalten.«
Ein durchdringendes Signal unterbrach unsere Unterhaltung: Die drei unbemannten Schiffe hatten Schussentfernung erreicht. Wortlos wandten wir uns dem Display zu und warteten, während die Sekunden quälend langsam verstrichen.