Vierundzwanzig
 
 
 
 
 
Am frühen Nachmittag statteten mir die Robots einen Besuch ab. Campion wohnte nach wie vor Mezereums Befragung bei, und ich war zu dem Raum gegangen, wo Hesperus im gleichen Zustand untergebracht war, in dem wir ihn vom Luftgeist zurückbekommen hatten. Seit dem Morgen hatte sich sein Zustand nicht verändert, doch ich wollte für den Fall, dass er ein Lebenszeichen zeigte oder vorübergehend ansprechbar wäre, bei ihm Wache halten.
»Die Idee war gut«, sagte Kadenz so unvermittelt, dass ich zusammenschreckte, denn ich hatte sie nicht näherkommen gehört. »Sie sollten sich keine Vorwürfe machen, nur weil es nicht geklappt hat.«
»Ganz erfolglos war es nicht«, sagte ich und bemerkte, dass Kaskade hinter dem weiblichen Roboter hervorschaute. »Er ist nicht mehr mit Fremdteilen verschmolzen. Er hat seine ursprüngliche Gestalt zurückerhalten. Sogar sein Arm ist wiederhergestellt.«
»Sein Arm?«, fragte der weibliche Robot.
»Unter der Metallverkleidung des linken Arms war menschliches Gewebe versteckt. Er wollte sich als einer von uns ausgeben, um in die Vigilanz hineinzukommen.«
»Das haben wir nicht gewusst«, sagte Kadenz.
»Jetzt macht es keinen Unterschied mehr. Aber der Geist war nicht untätig – er hat ihn nicht in dem Zustand abgeliefert, in dem er ihn vorgefunden hat. Er hat gemerkt, dass etwas nicht mit ihm stimmte, dass er beschädigt war oder jedenfalls nicht so, wie er sein sollte.«
»Das sind Äußerlichkeiten«, sagte Kadenz.
»Mag sein. Aber wer weiß, vielleicht hat er ja tief in ihn hineingeblickt und repariert, was beschädigt war? Seine gestörte Erinnerung, die Schäden, die er beim Angriff mit der H-Bombe erlitten hat.«
»Dem widerspricht der Augenschein«, sagte Kadenz. »Obwohl wir es nur ungern zugeben, scheinen seine kognitiven Funktionen nicht besser zu funktionieren als zuvor.«
»Die Lichter in seinem Kopf leuchten noch.«
»Aber nur schwach, und es ist kaum eine Bewegung feststellbar. Sie sollten nicht so viel darauf geben.«
»Glauben Sie, er ist tot?«
Ich hatte den Eindruck, dass die Robots Gedanken austauschten – ich nahm eine Art elektrische Spannung wahr, wie vor einem Gewitter.
»Sein Zustand ist nicht hoffnungslos«, sagte Kadenz, was sich wenig zuversichtlich anhörte. »Aber mit jedem Tag, der verstreicht, könnten Muster verlorengehen. Je eher wir in unsere Heimat aufbrechen, desto besser.«
»Wir wollten nach Mieres Tod nicht unhöflich erscheinen«, sagte Kaskade, dem es gelang, gleichzeitig freundlich und entschlossen zu klingen, »aber wenn es Ihnen nicht allzu viel ausmacht, würden wir gern die Frage des Transports mit Ihnen besprechen.«
»Ich glaube, wir haben geregelt, was zu regeln war«, sagte ich. »Wir haben uns von Miere verabschiedet, und Hesperus ist wieder da. Wenn Sie mein Schiff haben wollen, es steht Ihnen jederzeit zur Verfügung.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Kadenz.
»Natürlich. Nehmen Sie es ruhig. Schaffen Sie es mir aus den Augen.«
»Von Ihrem Standpunkt aus wäre das die beste Lösung«, meinte Kaskade.
»Wenn es Hesperus hilft, wenn es der Familie hilft und dem Maschinenvolk, dann kann ich mich gut damit abfinden.« Was nur die halbe Wahrheit war. Vor Mieres Tod und Hesperus’ Wiederauftauchen hatte ich mit dem Verlust der Silberschwingen gehadert. Jetzt empfand ich nur noch Leere, als hätten mich nicht nur einzelne Splitterlinge im Stich gelassen, sondern das ganze Universum. Selbst wenn ich mein Schiff hätte behalten können, hätte das nichts geändert; das wäre in etwa so gewesen, als wollte man eine Schlucht dadurch auffüllen, dass man einen Stein hineinwarf.
»Sie wollten noch ein paar Dinge vom Schiff holen«, sagte Kadenz.
Ich nickte, obwohl die Vorstellung bei mir alles andere als Begeisterung auslöste. »Es wird nicht lange dauern – die meisten dieser alten Raumschiffe sollten eigentlich selbstständig aus dem Hangar herausfliegen können.«
»Wie besprochen werden wir uns mit der Steuerung des Raumfahrzeugs vertraut machen, während Sie den Hangar leerräumen.« Kaskade wies mit seinem weißen Kinn auf die vor uns liegende goldene Gestalt. »Wir könnten Hesperus ebenso gut gleich in den Orbit mitnehmen. Dann können wir ihn für die Reise vorbereiten.«
»Ich werde ihn nicht wiedersehen, hab ich Recht?«
»Wenn er geheilt werden kann und wenn Sie lange genug leben, ist alles möglich«, erwiderte Kaskade.
»Vielleicht wird er sich dann nicht einmal mehr an uns erinnern. Das kann man nicht mit Sicherheit sagen, oder was meinen Sie?«
Kaskade sagte: »Wir werden dafür Sorge tragen, dass er begreift, wie tief er in Ihrer Schuld steht.«
»Darum geht es nicht. Es geht um Freundschaft. Wir haben ihn gemocht. Ich glaube, er hat unsere Gefühle erwidert.«
»Er befindet sich jetzt in guten Händen«, sagte Kaskade. »Dessen können Sie gewiss sein.«
»Kümmern Sie sich um den Transport?«, fragte ich. »In einer Stunde steht mein Shuttle auf dem Hauptlandedeck bereit. Betonie muss zuvor seine Zustimmung zum Flug in den Orbit geben, aber er wird bestimmt keine Einwände haben. Schließlich war das Ganze ja seine Idee.«
»Wir bereiten Ihnen auch wirklich keine Umstände?«, fragte Kaskade.
»Ich habe heute ohnehin nichts vor.«
»Dann nehmen wir Ihr Angebot gerne an. Wir werden für Hesperus die notwendigen Vorbereitungen treffen.«
»Passen Sie gut auf ihn auf«, sagte ich.
Ich ging zurück zum Auditorium, wo ich Campion zurückgelassen hatte. Er saß noch immer bei Campion und den anderen und hielt ein wachsames Auge auf Mezereum. Als er mich bemerkte, stand er auf und rückte auf einen leeren Platz, wo er sich außer Hörweite der anderen Splitterlinge befand. Ich ging zu ihm hinüber und sagte: »Ich fliege zur Silberschwingen hoch, um Kadenz und Kaskade das Kommando zu übergeben. Sie werden Hesperus mitnehmen.«
»Wirst du lange fortbleiben?«
»Ich brauche nur den Hangar leerzuräumen und das Kommando zu übergeben. Bis Mitternacht sollte ich wieder zurück sein. Schlimmstenfalls bin ich zum Frühstück wieder da.«
Er machte Anstalten, sich zu erheben. »Ich begleite dich.«
»Das brauchst du nicht. Ehrlich gesagt, würde ich lieber alleine fliegen. Die Übergabe wird mir schon schwer genug fallen, aber wenn du mitkommst, wäre es bestimmt noch schlimmer. Du weißt, wie viel das Raumschiff mir bedeutet.«
»Das verstehe ich«, sagte Campion. »Du möchtest das lieber alleine hinter dich bringen.«
»Wenn ich wieder hier bin, hab ich’s hinter mir. Ich wollte dir nur sagen, dass ich weg bin. Es wird schon gutgehen, das verspreche ich dir.«
»Mach den Maschinen keine Zugeständnisse, die über die Abmachungen hinausgehen.«
»Werd ich nicht, versprochen.«
Er hielt mich umarmt, bis ich mich losmachte. »Das wird ihnen eines Tages noch leidtun«, sagte er. »Sie werden einsehen, dass sie einen Fehler gemacht haben. Betonie weiß es wahrscheinlich schon – Mieres Tod hat alles verändert. Aber er kann nicht mehr zurück, jetzt, da die Robots auf sein Angebot eingegangen sind.«
»Wenn das Schiff bei der Rückgabe auch nur einen Kratzer hat, werden sie mir dafür büßen.«
Er lächelte. »Das ist die richtige Einstellung. Und jetzt flieg hoch und bring’s hinter dich.«
Ich küsste ihn erneut; wir verschränkten unsere Hände, dann lösten wir uns voneinander. Ich wandte mich Betonie zu, denn ich hatte gespürt, dass er uns beobachtete.
»Ich fliege zu meinem Schiff hoch, um es an die Robots zu übergeben. Du hast doch nichts dagegen, oder?«
»Natürlich nicht«, sagte er, dann blickte er wieder zu Mezereum hinüber, als brächte er es nicht fertig, mir in die Augen zu sehen. Mit einem Anflug von Genugtuung verließ ich hoch erhobenen Kopfes das Auditorium und wandte mich zum Landedeck. Das Shuttle stand schon da, und ich brauchte nicht lange auf die beiden Robots und deren goldene Fracht zu warten.
Wir hoben ohne Zwischenfälle von Ymir ab. Ich beobachtete, wie die Türme zurückfielen, und erhaschte einen flüchtigen Blick auf das Auditorium. Mezereums Scheibenmosaik funkelte in der Sonne, die zweihundertsechsundfünfzig Facetten, die einmal ein vollständiger Mensch gewesen waren, sandten Lichtblitze aus. Eine kleine, schwarz gekleidete Gestalt stapfte zwischen den Scheiben einher, dann flammte rubinrot die Energiepistole auf, und dann verdeckte mir ein anderer Turm die Sicht. Ich beschleunigte, und bald darauf hatte ich die oberen dünnen Atmosphäreschichten erreicht, in denen wir Mieres Leben dargestellt hatten. Die Robots standen hinter mir, ihr schwer verletzter Mitrobot schwebte horizontal zwischen ihnen. Wie mir schon bei ihrem Versuch, an Bord der Silberschwingen eine Verständigung mit ihm herzustellen, aufgefallen war, wirkte seine Verkleidung so formbar wie Ton.
Ich wies das Shuttle an, Position und Geschwindigkeit meinem im polaren Orbit befindlichen Schiff anzugleichen. Bald darauf gelangte die Silberschwingen in Sicht und wurde in erschreckendem Tempo größer, bis das Shuttle heftig verzögerte, um die Kollision zu vermeiden, die bis zum letzten Moment unausweichlich schien. Wir spürten natürlich nichts von dem Gewaltmanöver. Das Shuttle ließ das Hangartor öffnen, und dann glitten wir in den wunderschönen Chromschwan hinein, der die längste Zeit mein Schiff gewesen war. Ich schaltete auf manuelle Steuerung um und bugsierte das Shuttle durch das Labyrinth der geparkten Raumfahrzeuge, bis ich die Lücke gefunden hatte, in der ich schon bei meinem letzten Besuch angelegt hatte. Die Feldklammern packten zu; ich schaltete den Antrieb auf Bereitschaftsmodus, und wir stiegen aus. Kadenz und Kaskade trugen Hesperus; ich ging voran. Bis zur nächsten Flitzkabine hatten wir gut einen halben Kilometer zurückzulegen.
»Willkommen, Portula«, begrüßte mich die Silberschwingen in meinem Kopf. »Wie ich sehe, bist du in Begleitung. Sind das Gäste, oder stehst du unter Zwang?«
Ich stehe unter Zwang, dachte ich verbittert, aber der geht von der Familie aus, nicht von diesen unschuldigen Maschinen. »Das sind Freunde von mir«, sagte ich laut. »Bitte heiße sie willkommen. Kadenz ist der silberne Robot, Kaskade der weiße.«
»Willkommen, Kadenz und Kaskade.«
»Hesperus kennst du ja bereits«, sagte ich. »Er ist noch immer nicht auf dem Damm, aber die beiden Robots werden ihn an einen Ort bringen, wo man ihn heilen kann. Ich werde in Kürze das Kommando an die beiden Robots übergeben, dann wirst du Gelegenheit haben, sie besser kennenzulernen.«
»Willst du mich loswerden, Portula?«, fragte die Silberschwingen, noch immer in meinem Kopf.
»Ich kann es nicht ändern. Wir unterhalten uns auf der Brücke. Wenn alles gutgeht, sehen wir uns in etwa einer halben Million Jahren wieder.«
Die Flitzkabine war für den Frachttransport ausgelegt, deshalb war genug Platz für mich und die drei Robots. Ich tippte unser Ziel in die Schwebekonsole ein, dann blickte ich meine Gäste an und zögerte. »Hesperus ist schon geflitzt, deshalb dürfte das auch Ihnen keine Schwierigkeiten bereiten. Allerdings war das vor seiner Verletzung. Wird er die Prozedur überstehen? Wenn Sie möchten, können wir auch zu Fuß gehen, aber bis zur Brücke sind es etwa fünfzehn Kilometer.«
»Wir können flitzen«, sagte Kadenz. »Hesperus wird dabei keinen Schaden nehmen.«
»Wenn Sie meinen.«
Rote Lichter flammten auf, zum Zeichen, dass das Feld jeden Moment aktiviert würde und wir innerhalb der Bodenmarkierungen Aufstellung nehmen sollten. Dann wurde es kurzzeitig blendend hell – einhergehend mit dem Gefühl, durch kompliziert gewundene Röhren gepresst zu werden -, und im nächsten Moment waren wir auch schon im Gegenstück der Kabine angekommen, fünfzehn Kilometer weiter oben.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Kaskade und blickte in den hallenden, trüb erleuchteten Raum, der hinter der Tür der Flitzkabine lag. »Ich habe die Brücke ganz anders in Erinnerung.«
»Die Brücke ist noch ein Stück entfernt«, sagte ich. »Früher gab es eine direkte Verbindung zwischen dem Hangar und der Brücke, aber das war keine gute Idee – auf diese Weise war das Schiff zu verwundbar durch Eindringlinge. Das war so, als wäre das Stadttor durch einen Expresslift mit dem Büro des Bürgermeisters verbunden – Schwierigkeiten sind da vorprogrammiert.«
»Ist es noch weit?«
»Nur ein kurzer Spaziergang.« Die Halle war gesäumt von Flitzkabinen. Ich zeigte zur gegenüberliegenden Wand, gab ein forsches Tempo vor und geleitete die Robots über eine Brücke. Über und unter uns erstreckte sich ein Schacht in eine schwindelerregende Ferne, durch den sich langsam ambossförmige Mechanismen bewegten. Die Schwerkraft war an der Längsachse der Silberschwingen ausgerichtet, deshalb führte der Schacht fast durchs ganze Schiff, bis er in den Hangar mündete. Die Maschinen führten unablässig Wartungs- und Instandsetzungsarbeiten durch.
Jede sechste Kabine war für Personen- wie für Frachttransport geeignet. Die übrigen Kabinen konnten lediglich ein oder zwei Personen gleichzeitig aufnehmen, doch ihre Anzahl reichte aus, um Hunderte Transportprozesse gleichzeitig zu bewältigen. Obwohl ich mich an die Herkunft des Schiffes nicht mehr erinnern konnte, war doch offensichtlich, dass es ursprünglich dazu gedacht gewesen war, Millionen Passagiere zu befördern. Manchmal fragte ich mich, ob mein Schiff den Zeiten nachtrauerte, da in den breiten Gängen und großen Hallen, auf den Plätzen und Atrien reges Getriebe geherrscht hatte. Jetzt musste es sich mit mir und bestenfalls einer Handvoll Gästen begnügen. Wir klapperten wie Gespenster in einem leeren Haus.
Wir hatten die andere Flitzkabine erreicht. In dem Bewusstsein, dass wir im nächsten Moment auf der Brücke wären und dass es dann keinen Grund mehr geben würde, die Übergabe des Schiffes hinauszuzögern, tippte ich das Ziel ein. Seit dem Start hatte ich mich für diesen Moment gewappnet, bis sich das Gefühl eingestellt hatte, ich könnte die Prozedur ohne emotionalen Schluckauf durchstehen. Jetzt aber schnürte sich mir die Kehle zu. Es würde nicht so einfach werden, wie ich gedacht hatte.
Die Wände der Kabine flammten rot auf. Diesmal würde es ein kurzer Sprung sein – es würde sich so anfühlen, als würden wir zwischen zwei Kabinen versetzt.
Irgendetwas geschah.
Ich glaube, ich verlor für einen Moment das Bewusstsein, denn meine Gedanken gerieten ins Stocken, was mit dem Flitzvorgang nichts zu tun hatte. Ich hatte das Gefühl, mit solcher Gewalt aus dem Wirkungsbereich des Feldes gestoßen zu werden, dass ich auf dem Boden aufprallte und benommen liegen blieb, nicht weil ich Schmerzen gehabt hätte, sondern weil ich genau wusste, dass sie jeden Moment einsetzen würden. Stöhnend rang ich nach Luft. Ich hatte keine Ahnung, was passiert war, doch als sich mein Blick allmählich scharf stellte, erblickte ich vor mir eine goldene Gestalt, eine Gestalt, die unverkennbar Hesperus war und zudem auch lebendig.
Kadenz und Kaskade waren nicht zu sehen.
»Wir müssen verschwinden«, sagte Hesperus, bückte sich und stellte mich auf die Beine. »Wir müssen so schnell wie möglich weg von hier.«
So benommen ich war, hatte ich doch nicht den Eindruck, dass ich mir etwas gebrochen hatte – dafür war der Schmerz zu diffus. »Hesperus«, sagte ich erleichtert und verwirrt. »Was …?«
»Für lange Diskussionen haben wir keine Zeit. Ich habe Sie aus der Transportzone gestoßen, als das Feld sich aufbaute. Kadenz und Kaskade wurden wie vorgesehen zur Brücke befördert. Sie sind bereits dort.«
»Zur Brücke«, krächzte ich. Ich stand aus eigener Kraft, wenngleich Hesperus mich stützte.
»Können wir von hier aus in den Hangar zurückkehren?«
Mein Blick hatte sich noch immer nicht ganz scharf gestellt, meine Gedanken waren träge. »Nein … wir müssen zur anderen Seite rüber, über die Brücke.«
»Gut. Darf ich Sie tragen? Dann geht es schneller.«
Ich weiß nicht mehr, was ich ihm antwortete. Er hob mich mit seinen goldenen Armen hoch und hielt mich fest. Dann stürmte Hesperus mit übermenschlicher Geschwindigkeit los. Wir querten den Schacht, in dem die auf- und absteigenden Maschinen ihren undurchschaubaren Tätigkeiten nachgingen, dann hatten wir die Flitzkabine erreicht. Hesperus gab das Ziel ein. Das Schiff akzeptierte seinen Befehl, da es ihn noch immer als willkommenen Gast ansah. Wir flitzten zum anderen Ende des Schiffes, zu der Kabine am Eingang des Hangars.
»Was ist passiert?«, fragte ich, als der Nebel in meinem Kopf sich allmählich lichtete.
»Ich habe Kadenz und Kaskade ausgetrickst«, antwortete Hesperus, als wir den Hangar betraten. »Die beiden Robots haben Sie über ihre wahren Absichten getäuscht.«
»Sie wollten mein Schiff haben. Ich war bereit, es ihnen zu überlassen. Was hat das mit Täuschung zu tun?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich weiß nur, dass sie nicht die Absicht haben, mich zum Monoceros-Ring zu bringen. Als sie gerade eben Verbindung zu mir hergestellt haben, wollten sie mich umbringen.«
Hesperus war irgendwie – lockerer geworden. Seine Stimme hatte sich nicht verändert, doch er drückte sich umgangssprachlicher aus, weniger steif und präzise als früher.
»Weshalb sollten sie Sie umbringen wollen?«
»Als sie an Bord Ihres Schiffes Verbindung zu mir hergestellt haben, wollten sie mir alle Informationen entnehmen und mich töten. Anschließend hätten sie behauptet, ich wäre meinen Verletzungen erlegen. Aber sie haben nichts aus mir herausbekommen – ich habe mehr Widerstand geleistet, als sie erwartet hatten, und sie wollten nicht, dass jemand etwas merkt. Allerdings war ich hinterher zu geschwächt, als dass ich Ihnen meine Befürchtungen hätte mitteilen können. Später waren die Robots sehr erleichtert darüber, dass Sie mich an den Luftgeist übergeben wollten.«
»Weil sie geglaubt haben, Sie würden das nicht lebend überstehen.«
»Doch da hatten sie sich getäuscht. Als ich wieder auftauchte, war noch Leben in mir. Als wir von Neume starteten, versuchten sie erneut, mich zu töten. Sie bemühten sich nach Kräften, meinen letzten Lebensfunken zu ersticken. Ich musste all meine Kräfte und meinen ganzen Erfindungsreichtum aufbieten, um ihren Angriff abzuwehren und mir gleichzeitig nichts anmerken zu lassen. Das ist mir offenbar gelungen, sonst hätte ich sie nicht überlisten können.« Mein goldener Träger stockte. »Stimmt etwas nicht mit Ihren Augen, Portula?«
»Alles wirkt ein bisschen verschwommen.«
»Ich habe Ihnen einen heftigen Stoß versetzt. Vielleicht sind bei Ihnen im Auge ein paar Gefäße geplatzt. Oder die Netzhaut hat sich abgelöst. Es tut mir leid, dass ich Sie nicht vorwarnen konnte. Es musste alles ganz schnell gehen.«
»Ich begreife noch immer nicht … weshalb sollten die beiden Robots gelogen haben?«
»Als sie mit mir Verbindung aufgenommen haben, wurden mir ein Stück weit ihre Gedankengänge zugänglich. Sie waren froh, dass Sie, Portula, ihrer Bitte nachgekommen sind, aber ich glaube, sie hätten nicht davor zurückgeschreckt, Sie zu töten, wenn Sie sich geweigert oder ihnen Hindernisse in den Weg gelegt hätten. Ihr einziger Trost ist, dass der Tod auf spektakuläre Weise und sehr schnell erfolgt wäre.«
Mir schwirrten so viele Fragen durch den Kopf, dass ich gar nicht wusste, wo ich anfangen sollte. Mir blieb nichts anderes übrig, als der Reihe nach vorzugehen. »Was ist mit ihnen passiert?«
»Ich habe eingegriffen, bevor Sie das Kommando übergeben konnten. Wenn ich richtig liege, befinden sie sich noch immer am anderen Ende der Flitzverbindung, auf der Brücke.«
»Sie haben Recht. Ohne meine Einwilligung können sie nicht flitzen.«
»Wird das Schiff ihnen erlauben, die Flitzkabinen zu benutzen oder verschlossene Türen zu öffnen?«
»Nein – das halte ich für ausgeschlossen. Sie sind auf der Brücke praktisch gefangen. Sollten sie die Brücke beschädigen oder sich gewaltsam befreien wollen, wird das Schiff sie als Störenfriede behandeln.«
»Es wird sie von Bord entfernen?«
»Nur wenn ich dazu Anweisung gebe. Aber es wird sie mit Fesselfeldern bewegungsunfähig machen.«
»Das wird nicht lange gutgehen – sie sind viel stärker und erfindungsreicher, als Sie meinen.« Hesperus schlug einen ernsteren Ton an. »Sie müssen die Silberschwingen auffordern, sie unverzüglich aus dem Schiff zu werfen, Portula. Wenn das nicht geht, muss das Schiff sie vernichten.«
»So einfach ist das nicht.«
»Sie können die Anweisung doch auch von hier aus geben, oder nicht?«
»Darum geht es nicht. Ich kann die Robots nicht einfach töten oder sie von Bord werfen – so läuft das nicht.«
»Sie sind nicht das, was sie zu sein vorgeben.«
»Das behaupten Sie.« Ich stöhnte vor Frust und Unbehagen. »Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber bis vor ein paar Minuten waren Sie tot. Woher soll ich wissen, dass Sie nicht noch immer unter den Nachwirkungen der Vorgänge auf Neume zu leiden haben? Die Robots sind Gäste der Familie. Wie würde ich denn dastehen, wenn ich nach Neume zurückkäme und erklären müsste, ich hätte sie in den Weltraum geworfen?«
»Ich lüge nicht«, sagte er.
»Hesperus, betrachten Sie es mal von meiner Seite. Sie erwarten einen großen Vertrauensvorschuss von mir.«
»Sie haben mir bisher immer vertraut.«
»Es ist nicht so, dass ich Ihnen nicht mehr vertrauen würde, aber ich brauche ein bisschen Zeit zum Nachdenken. Sie sind anders – Ihre Stimme klingt anders, viel menschenähnlicher als früher. Woher soll ich wissen, dass sich nicht noch mehr bei Ihnen verändert hat?«
»Es hat sich mehr verändert, als Sie ahnen – ich bin immer noch Hesperus, aber gleichzeitig auch viel mehr. Und ich sage Ihnen, dass Sie gegen Kadenz und Kaskade vorgehen müssen.«
»Von der Brücke aus können sie nichts unternehmen. Ich werde das weitere Vorgehen mit der Familie beraten.«
»Dafür ist keine Zeit. Die Robots sind nicht darauf angewiesen, dass Sie ihnen das Kommando über das Schiff übergeben – das hätte ihnen lediglich etwas Arbeit erspart. Sie sind vor ein paar Minuten an Bord gegangen – nach dem Maßstab von Maschinen sind das Jahrhunderte. Inzwischen sind sie ihrem Ziel, die Kontrolle über das Schiff zu übernehmen, vermutlich ein ganzes Stück näher gekommen. Wahrscheinlich haben sie schon Tausende Übernahmestrategien durchgespielt. Tausende Optionen sind noch übrig. Früher oder später werden sie ihr Ziel erreichen. Es gibt immer eine Hintertür.«
»Das Schiff bekommen sie nicht in ihre Gewalt.«
»Doch, das ist nur eine Frage der Zeit – Zeit, die nach Minuten oder sogar nach Sekunden bemessen wird. Das Schiff ist groß und alt, aber sie sind schlau und erfinderisch. Ich würde mir das ebenfalls zutrauen, und sie sind zu zweit.«
»Wenn Sie falsch liegen, und es stellt sich heraus, dass ich gegen Angehörige des Maschinenvolks vorgegangen bin …«
»Ich übernehme die Verantwortung – und ich kann sehr, sehr überzeugend sein. Tun Sie’s, Portula. Die Zeit arbeitet gegen uns. Ich hingegen bin auf Ihrer Seite.«
»Setzen Sie mich ab«, sagte ich. »Wenn Sie mich tragen, kann ich das nicht tun.«
Hesperus wurde langsamer und setzte mich ab. Ringsumher ragten die unbeleuchteten Raumschiffe und obskuren Maschinen des Hangars auf, die von einer fernen Vergangenheit kündeten.
»Silber«, sagte ich, »kannst du mich hören?«
Die Stimme in meinem Kopf antwortete: »Ich höre dich, Portula.«
»Es geht um Kaskade und Kadenz – die beiden Gäste, die ich dir vorgestellt habe.«
»Ja, Portula?«
»Befinden sie sich noch auf der Brücke?«
»Ja, Portula.«
»Zeig sie mir.«
Vor mir wurde ein Bild in die Dunkelheit projiziert. Die Robots waren auf der Brücke. Sie standen mit hängenden Armen reglos nebeneinander.
»Es sieht nicht so aus, als würden sie irgendetwas tun«, sagte ich.
»Das sieht man ihnen nicht unbedingt an«, entgegnete Hesperus.
Das Sprechen fiel mir auf einmal schwer. »Silber, ich möchte, dass du sie bewegungsunfähig machst.«
»Geht von ihnen eine Bedrohung aus, Portula?«
»Ja«, sagte Hesperus.
»Mach sie einfach bewegungsunfähig. Fixiere sie mit Impassoren an Ort und Stelle.«
»Fertig, Portula.«
Den Robots war keine Veränderung anzusehen. Nichts deutete darauf hin, dass sie von einem Fesselfeld fixiert wurden.
»Jetzt können sie keinen Schaden mehr anrichten«, sagte ich zu Hesperus.
»Sie sind in keiner Weise eingeschränkt. Sie dehnen ihr Bewusstsein aus und suchen nach einer Lücke in der Abwehr Ihres Schiffes. Das Schiff merkt vielleicht nicht einmal, was da vor sich geht. Sie sind schlau. Wenn sie Erfolg haben, Portula, werden sie als Erstes die Fesselfelder abschalten. Dann kann keine Macht der Welt sie wieder fixieren. Kadenz und Kaskade werden sich auf Ihrem Schiff frei bewegen können – oder vielmehr auf ihrem Schiff, denn dann wird es ihnen gehören -, und nichts und niemand wird sie aufhalten. In Sekundenschnelle werden sie das Flitzsystem erreicht haben, und dann sind sie auch gleich hier.« Hesperus wandte den Kopf zu der Tür, durch die wir den Hangar betreten hatten. »Dann heißt es einer gegen zwei. Ich werde tun, was ich kann, um Sie zu schützen, aber das Kräfteverhältnis ist nicht ausgeglichen. Trotz alledem.«
»Trotz alledem?«, wiederholte ich, denn er hatte irgendwie merkwürdig geklungen.
»Vergessen Sie’s. Bitte glauben Sie mir, Portula. Wir haben bereits viel miteinander durchgemacht. Es wäre doch schade, wenn es jetzt zu Ende wäre, meinen Sie nicht? Zumal wir noch so viel miteinander zu bereden haben.«
Ich hatte einen Kloß im Hals, so dick wie ein Felsbrocken. »Ich sollte … ich könnte mich mit Campion beraten oder mit Betonie, das dauert nur ein paar Sekunden …«
»Sie werden Ihnen raten, nicht auf mich zu hören. Aus ihrer Sicht wäre das auch durchaus vernünftig. Aber den Luxus des Abwartens können Sie sich nicht erlauben. Sie sind nun mal in dieser Situation, und glauben Sie mir, es ist nur eine Frage von Sekunden, bis die Robots die Kontrolle über das Schiff übernehmen. Sie müssen sie entweder vernichten oder von Bord werfen.«
»Das ist leichter gesagt als getan, Hesperus.«
Er sprach jetzt schneller, als spürte er, dass ihm nur noch Sekunden blieben, um mich zu überzeugen. »Wie sind sie nach Neume gelangt, Portula? Haben Sie sie das schon mal gefragt?«
»Natürlich. Sainfoin hat sie mitgebracht. Sie waren ihre Gäste.«
Offenbar stand mir die Skepsis ins Gesicht geschrieben. »Sainfoin hat sie nicht mitgebracht«, sagte er. »Vielleicht glaubt sie das, aber so war es nicht. Die Robots haben sie ausgewählt. Sie wollten hierher kommen – das habe ich deutlich gespürt. Sie haben etwas vor mit der Gentian-Familie, aber ihr Erscheinen musste zufällig wirken. Sainfoin war ihre Marionette und nicht umgekehrt.«
»Sie hat gemeint, sie hätte sie bei einer Reunion der Dorcus-Familie kennengelernt.«
»Sie haben sich darauf verlassen, dass ein Gentianer vorbeischauen würde. Andernfalls hätten sie eben einen Umweg gemacht. Aber ihr Ziel war es, an Ihrer Reunion teilzunehmen.«
»Was sind sie?«
»Portula! Keine weiteren Fragen mehr!«
Ich nickte knapp. Er hatte mich nicht vollständig überzeugt – weit gefehlt. Doch ich neigte dazu, Hesperus zu vertrauen und ihm zu glauben, was er über Sainfoin gesagt hatte. Und da war noch etwas – eine gebieterische Ausstrahlung, die er zuvor nicht gehabt hatte, und das, obwohl er sich weniger förmlich gab als zuvor.
»Silber«, sagte ich mit schwankender Stimme, »befördere die fixierten Gäste in den Weltraum.«
»Bist du dir sicher, Portula? Das ist ein sehr ungewöhnlicher Befehl.« Das Schiff wollte damit sagen, dass ich in all den Umläufen, bei denen ich das Kommando geführt hatte, noch nie einen solchen Wunsch geäußert hätte.
»Ja, ganz sicher. Gib ihnen so viel Schwung mit, dass sie wenigstens hundert Umläufe lang nicht in die Atmosphäre stürzen. Geschehen wird ihnen dabei nichts.«
»Ich führe den Befehl aus, Portula.«
Ich wartete auf die Ausführungsbestätigung der Silberschwingen.
Und wartete.
»Das ist kein gutes Zeichen«, sagte Hesperus. Er hob mich wieder hoch und rannte weiter. Seine Beine waren wirbelnde goldene Schemen. »Silber«, sagte ich mit erhobener Stimme, um das Rauschen der Luft zu übertönen. »Bestätige die Ausführung der letzten Anweisung.«
Ich bekam keine Antwort.
»Sie haben das Schiff verloren«, sagte Hesperus.
»Nein.« Ich wollte es nicht glauben. Der Hangar der Silberschwingen sah noch so aus wie immer.
»Sie trifft keine Schuld. Sie haben den Befehl gegeben. Wahrscheinlich hatten die beiden Maschinen das Schiff bereits übernommen, als sie fixiert werden sollten. Vielleicht wollten sie einfach nur wissen, was Sie vorhaben.«
»Und jetzt?«
»Ich glaube, sie werden versuchen, Sie zu töten und mich zu zerstören. Ich hoffe aber, dass wir das Shuttle als Erste erreichen.«
»Und was dann?«
»Wir fliegen weg und können nur hoffen, dass die Silberschwingen nicht auf uns schießen wird.«
Bis zum Shuttle war es nicht mehr weit, doch was mich betraf, hätte es noch Kilometer entfernt sein können. Wir kamen an vielen Raumschiffen vorbei, die uns gute Dienste hätten leisten können, wenn sie denn betriebsbereit gewesen und getestet worden wären. Trotzdem war ich versucht, in eines der Schiffe einzusteigen und die Systeme hochzufahren. Die Zuständigkeit Silbers erstreckte sich auch auf den Hangar, jedoch nicht auf die darin befindlichen Raumschiffe. Mit einer gepanzerten Hülle zwischen uns und den Robots würden wir vielleicht lange genug durchhalten, um flüchten zu können. Das Shuttle aber wartete auf uns, und ich hatte den Antrieb im Bereitschaftsmodus belassen. Es war startbereit. Als wir es erreicht hatten, setzte Hesperus mich ab, und ich wies das Shuttle an, uns einzulassen. Als der Rumpf sich hinter uns schloss, wurde ich ein wenig ruhiger.
Trotz meiner blauen Flecken und meiner verschwommenen Sicht rannte ich nach vorn, nahm auf dem Pilotensitz Platz und streckte die Hände aus wie ein Ritter, der darauf wartet, dass man ihm die Panzerhandschuhe überstreift. Das Shuttle bildete die Steuerung aus und schob sie mir folgsam in die Hände. Ich löste die Feldklammern und fuhr den Antrieb auf Minimalleistung hoch. Dann schwenkte ich den Bug herum, bis er genau auf das rechteckige Tor wies, das in den Lücken zwischen den Raumschiffen in fast sieben Kilometern Entfernung zu sehen war. Ich hatte das durch einen Schutzschirm vor Druckabfall geschützte Tor offen gelassen, weil ich nicht lange an Bord hatte bleiben wollen.
»Ich glaube, wir können es schaffen«, sagte ich und steuerte das Shuttle langsam darauf zu. Hätte ich freie Bahn gehabt, hätte ich mehr Schub geben können, doch ich musste mich durch das Labyrinth der Raumschiffe und deren Andockvorrichtungen schlängeln. Wäre ich zu schnell geflogen, hätte Gefahr bestanden, dass ich mit einem grö ßeren und stärkeren Raumschiff oder einer ortsfesten Installation zusammenstieß.
»Sie wissen, was wir vorhaben«, sagte Hesperus.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Das Tor beginnt sich zu schließen.«
Ich blickte hinüber, konnte aber nicht feststellen, ob sich die Öffnung in der Zwischenzeit verengt hatte. Das war auch schwer zu erkennen, da ich einen Slalom um die Raumschiffe herum steuerte und sich der Blickwinkel ständig änderte. »Sind Sie sich sicher, Hesperus?«
»Ja. Soll ich das Steuer übernehmen?«
»Es geht schon, danke.«
»Ich bin schneller. Ich werde nicht durch ein peripheres Nervensystem behindert. Die Rechenkraft meines Daumens entspricht der Ihres gesamten Schädelinhalts.«
»Danke für das Kompliment.«
»Das war eine nüchterne Feststellung. Wenn Sie mir die Steuerung überlassen, erreichen wir das Tor eher.«
Jetzt konnte auch ich erkennen, dass die Öffnung schmaler wurde. Das offene Rechteck war noch immer drei Kilometer breit, aber weniger als zwei Kilometer hoch. Vielleicht waren es auch nur noch anderthalb Kilometer.
Ich riss die Hände von den Instrumenten zurück und sagte: »Ich übergebe das Kommando bis auf Widerruf an meinen Passagier.« Dann warf ich mich zur Seite und sagte: »Bitte sehr. Sie sind dran. Strengen Sie sich an, denn ich habe uns bis hierher gebracht.«
Hesperus nahm meinen Platz ein, sein breiter Rücken verdeckte mir die Sicht auf die Konsole. »Danke, Portula. Ich werde mein Bestes tun.«
Wir wurden schneller. Wir wurden erheblich schneller, schwenkten um Hindernisse herum, rasten durch die Lücken zwischen den Andockvorrichtungen hindurch und fädelten uns im Millimeterabstand an den Hürden vorbei. Hesperus nahm die Kurskorrekturen mit einer solchen Geschwindigkeit vor, dass die Dämpferfelder Mühe hatten, mit ihm Schritt zu halten. Ich spürte die Trägheitskräfte: Phantomfinger trachteten danach, mich zu Brei zu zerquetschen.
»Das Tor schließt sich immer schneller«, sagte Hesperus erstaunlich gelassen, während seine Hände umherhuschten wie die eines rasenden Zauberkünstlers. »Offenbar haben sie gemerkt, was wir vorhaben, und einen Notfallmechanismus ausgelöst.«
»Können Sie noch schneller fliegen?«
»Dann würde ich ein erhöhtes Risiko eingehen. Aber ich glaube, wir haben keine andere Wahl mehr, oder was meinen Sie?«
»Tun Sie, was Sie tun müssen. Ich ergebe mich in mein Schicksal und schließe die Augen.«
»Beim nächsten Mal sollten Sie vielleicht etwas näher am Ausgang parken.«
»Ich habe nur an Sie gedacht. Ich dachte, es wäre praktisch, wenn Kadenz und Kaskade Sie nicht so weit bis zur nächsten Flitzkabine schleppen müssten, denn ich wollte unnötige Beschädigungen vermeiden.«
»Dann verneige ich mich vor Ihrer weisen Voraussicht und entschuldige mich für die unangebrachte Kritik.«
Hesperus kurvte um ein paar weitere Ecken, im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinn. Das Shuttle streifte ein paar Hindernisse und schrammte daran entlang. Ich weiß nicht, ob es ein Versehen war, oder ob er dies in seine Berechnungen einbezogen hatte. Ich wusste nur, dass wir schneller geworden waren und dass das Tor sich beharrlich schloss, bis nur noch ein dunkler Spalt offen blieb, durch den wir zu entkommen hofften.
Endlich hatte Hesperus die größten Hindernisse hinter sich gelassen, und wir hatten freie Bahn bis zum nur noch zwei Kilometer entfernten Tor. Die Öffnung verengte sich immer weiter, doch jetzt konnte er stärker beschleunigen. Die Wände des Hangars huschten immer schneller vorbei, und ich hoffte schon, wir würden es schaffen.
Doch ich täuschte mich. Plötzlich ruckte und schwankte das Shuttle, als hätte es sich in einem unsichtbaren Netz verfangen. Hesperus gab mehr Schub, dennoch wurde das Shuttle langsamer, nicht schneller. Rote Lichter begannen zu blinken, und es ertönte ein monotones Warnsignal.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Feldwechselwirkungen«, antwortete Hesperus und drehte kurz den Kopf zu mir herum. »Das war meine größte Sorge. Die Silberschwingen hat offenbar den parametrischen Antrieb eingeschaltet. Die Felder interferieren mit unserem Antrieb, und das Shuttle dürfte dabei den Kürzeren ziehen.«
»Können wir denn gar nichts tun?«
»Sie müssten das eigentlich besser wissen als ich, Portula. Wenn ich mehr Schub gebe, kommt es entweder zu einer Sicherheitsabschaltung, oder der Antrieb explodiert. Ich weiß nicht, welche Möglichkeit ich vorziehen würde.« Hesperus hantierte wieder an der Steuerung, langsamer als zuvor. »Es tut mir leid, Portula, aber ich glaube, das war’s dann.«
»Das Tor hat sich fast vollständig geschlossen. Selbst wenn der Antrieb noch arbeiten würde, würde die Zeit nicht mehr reichen.«
Die Silberschwingen änderte anscheinend den Kurs. Während die Lücke immer schmaler wurde, gelangte Neume in Sicht. Der Planet schrumpfte zusehends. Bei einer Beschleunigung von tausend Ge legte man in der ersten Minute achtzehntausend Kilometer zurück. Nach einer weiteren Minute waren es bereits siebenundzwanzigtausend Kilometer – der doppelte Kreisumfang Neumes. Alle Menschen, die ich kannte, alle, die mir etwas bedeuteten, befanden sich auf dem schrumpfenden Planeten. Während die Beschleunigung ihn mir entriss, musste ich mich beherrschen, sonst hätte ich die Hand ausgestreckt und ihn festzuhalten versucht. Das Tor hatte sich geschlossen. Hesperus schaltete den Antrieb auf Bereitschaft.
»Ich glaube, jetzt sitzen wir in der Patsche.«
Der Luftwiderstand des Hangars hatte das Shuttle gestoppt. »Wir können nicht einfach tatenlos hier abwarten«, sagte ich.
»Rechts von Ihnen ist eine Lücke. Ich werde ein bisschen Schub geben und uns dort reinbugsieren.«
Trotz der blinkenden Warnlichter und des gellenden Alarms gelang es Hesperus, das Shuttle in die Box zu lenken. Mit einem dumpfen Geräusch schnappten die Feldklammern zu.
»Offenbar wollen sie das Neume-System verlassen«, sagte er. »Das ist eins der schnellsten Schiffe Ihrer Familie, nicht wahr?«
»Ja, zumal nur noch einundfünfzig Raumschiffe übrig sind. Deshalb wollten Kaskade und Kadenz es ja unbedingt haben.«
»Das habe ich befürchtet. Ihre Mitsplitterlinge werden somit Mühe haben, uns einzuholen, zumal das Überraschungsmoment auf Seiten der beiden Robots liegt.«
»Wir dürfen nicht aufgeben und uns damit abfinden, dass wir mitfliegen. Wir wissen nicht einmal, wohin die Reise geht.«
»Ich bezweifle sehr, dass die Robots die Absicht haben, uns mitzunehmen. Wenn das System erst einmal hinter ihnen liegt und sie eventuelle Verfolger abgeschüttelt haben, werden sie sich um uns kümmern.«
»Und dann?«
»Sie werden eine Möglichkeit finden, uns zu eliminieren. Ich werde mich bemühen, Sie nach Kräften zu schützen, aber ich bin auf mich allein gestellt.«
»Was haben sie vor?«
»Irgendwohin zu fliegen.«
»Aber sie brauchten nicht extra nach Neume zu kommen, um ein Raumschiff zu finden. Wenn Sie Recht haben, dann haben sie das schon lange vor dem Angriff geplant.«
»So sieht es aus.«
Er hatte sich von der Konsole abgewandt. Die goldene Maske seines Gesichts wirkte so gelassen und einnehmend wie eh und je, doch ich hatte das Gefühl, etwas übersehen zu haben.
»Sie wissen mehr, als Sie sagen, Hesperus. Den Eindruck habe ich, seit Sie wieder aufgewacht sind. Was ist auf Neume passiert?«
»Wir sollten über unsere Lage beratschlagen«, sagte er, ohne auf meine Frage einzugehen. »Verfügt das Shuttle über Stasiskammern?«
»Nein. Die werden nicht gebraucht.«
»Das habe ich mir gedacht. Einstweilen macht das nichts, aber wir sollten dennoch in ein großes Raumschiff umziehen, das sich besser verteidigen lässt. Falls wir eins mit Waffen und Realschubantrieb finden, könnten wir gewaltsam einen Ausgang aus dem Hangar öffnen. Gibt es hier ein solches Schiff?«
»Lassen Sie mich mal nachdenken. Das Tor ist verdammt massiv – es wird mehr als ein, zwei Laser brauchen, um da durchzukommen.«
»Ich bin gespannt, was Sie anzubieten haben.«
»Na schön«, sagte ich nervös, denn ich hatte immer noch Mühe, mit den Ereignissen Schritt zu halten. Ich hatte mich vor der Übergabe der Silberschwingen gefürchtet, doch jetzt hätte ich diesen Stress mit Freuden auf mich genommen, wenn ich mein Schiff nur als freier Splitterling hätte verlassen können. »Das kommt alles ein bisschen plötzlich für mich, Hesperus. Das müssen Sie mir nachsehen. Ich besitze ein peripheres Nervensystem und brauche eine Weile, um mich auf einen solch radikalen Paradigmenwechsel einzustellen.«
»Ihnen sehe ich alles nach, Portula.« Er drehte sich zur Konsole herum und nahm ein paar Einstellungen vor. »Ich lasse den Antrieb in Bereitschaft, für den Fall, dass sich eine Fluchtgelegenheit bieten sollte. Aber darauf sollten wir uns nicht verlassen.«
»Das tue ich auch nicht. Glauben Sie, die anderen Splitterlinge haben bemerkt, was los ist?«
»Bestimmt.«
»Und was werden sie tun?«
»Sie werden Mühe haben, sich einen Reim darauf zu machen. Vielleicht werden sie annehmen, Sie würden das Schiff entführen und nicht die Robots.«
»Das glaube ich nicht.« Kaum hatte ich es gesagt, wusste ich auch schon, dass er Recht hatte. »Ich hätte Campion Bescheid gegen sollen.«
»Sie würden annehmen, Sie hätten einen Vorwand erfunden und würden nur behaupten, die Robots führten Böses im Schilde.«
»Das tun sie doch auch.«
»Aber auf Neume weiß das keiner.«
»Abgesehen von Campion. Er würde mir vertrauen. Er würde mir glauben, ganz gleich, wie phantastisch die Erklärung klingt.«
»Dann tut es mir leid, dass wir Campion nicht anfunken konnten. Auf lange Sicht hätte das aber auch nicht viel geändert.« Hesperus legte mir seine goldene Hand auf die Schulter. Seine Finger fühlten sich kalt und hart an, gleichzeitig aber auch sanft. »Wahrscheinlich hätte es ohnehin nichts genützt. Wenn die Robots bereits die Kontrolle über das Schiff übernommen hatten, bevor Sie versucht haben, sie von Bord werfen zu lassen – inzwischen erscheint mir das immer wahrscheinlicher -, hätten sie keine Mühe gehabt, Sie daran zu hindern, mit Neume Kontakt aufzunehmen.«
Ich schloss meine trüben, schmerzenden Augen und wünschte, das ganze Universum würde sich zu einem Bündel zusammenfalten und in der Ecke verstecken. Als ich die Augen wieder öffnete, warteten Hesperus und das Universum jedoch immer noch darauf, dass ich etwas sagte.
»Ich habe Angst«, sagte ich. »Ich habe noch nie erlebt, dass mir die Kontrolle entglitten wäre. Selbst als wir uns dem Luftgeist gestellt haben, war das unsere freie Entscheidung.«
»Irgendwann passiert das jedem von uns.« Er nahm seine Hand von meiner Schulter und berührte blitzschnell mit Daumen und Zeigefinger meine Augenlider. Wäre er langsamer gewesen, wäre ich zurückgezuckt, doch so verspürte ich lediglich die Berührung kalten Metalls und einen Stich, der zu kurz war, um ihn als Schmerz zu bezeichnen. Dann ließ er seine Hand auch schon wieder sinken.
»Ich habe Ihre Augen repariert. Im rechten Auge hatte sich teilweise die Netzhaut gelöst. Beide hatten beschädigte Kapillaren. Ich hoffe, Sie können jetzt wieder schärfer sehen.«
Erstaunlicherweise war es so.
»Wie haben Sie das gemacht?«
Er hielt mir seinen Zeigefinger vor die Nase. Am Ende des goldenen Fingernagels ragte ein kleines, harpunenartiges Gebilde hervor. Es war ein spitzes Werkzeug von fraktaler Komplexität, dessen Details verschwammen, da es immer wieder unscharf wurde, als ob es zwischen verschiedenen Dimensionen hin und her wechselte. »Ich habe Sie geheilt«, sagte Hesperus. »Es war ganz einfach.«
»Waren Sie schon immer dazu imstande?«
»Von dem Moment an, da wir uns begegnet sind.«
»Aber da steckt doch noch mehr dahinter, oder? Sie haben sich verändert.«
»Ich habe keine neuen Fähigkeiten erworben, aber ich sehe die Dinge jetzt in einem neuen Licht. Und ich weiß sehr viel mehr als vorher.«
»Weil der Geist Ihr Gedächtnis wiederhergestellt hat?«
»Ich habe vieles erfahren, Portula. Das habe ich noch nicht alles verarbeitet.«
»Aber jetzt ist kein guter Moment, um darüber zu reden.«
»Erst müssen Sie entscheiden, ob wir hier bleiben oder versuchen sollen, an Bord eines anderen Raumschiffs zu gelangen.«
»Die Entscheidung muss ich treffen, nicht wahr?«
»Ich weiß vieles, aber nur Sie kennen die Raumschiffe hier im Hangar. Überlegen Sie gut, Portula, denn von Ihrer Entscheidung hängt vieles ab.«
»Dann sollten Sie mich nicht unter Zeitdruck setzen«, sagte ich.