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Heißes Blut auf ihren Händen. Rot. Das leuchtendste Rot, das Galya je gesehen hatte. Ihr Kopf kippte zur Seite, und plötzlich sah sie nur noch in einen schwarzen Tunnel.

Nein, jetzt nur nicht ohnmächtig werden.

Sie keuchte, holte gierig Luft und nahm den kupfernen Geruch wahr, der ihr sofort wie eine Faust auf den Magen schlug. Sie schmeckte Galle im Mund und schluckte.

Als sie versuchte, die Glasscherbe herauszuziehen, um deren eines Ende sie als improvisiertes Messer einen Fetzen vom Bettlaken gewickelt hatte, zitterten die Beine des Mannes. Galya schrak zurück. Er hatte die Augen weit aufgerissen. Sie drehte die Scherbe hin und her und spürte, wie sie tief in seinem Hals an etwas Hartem schabte, dann knackte es. Die Klinge glitt aus dem zweiten Mund, den sie dem Mann unterm Kinn eingeschnitten hatte. Hellrotes Blut blubberte heraus, verteilte sich auf seinem litauischen Fußballtrikot und ertränkte das leuchtende Gelb.

Galya machte einen Schritt zurück. Das Blut auf dem Linoleum lief auf ihre nackten Füße zu. Es leckte schon an ihren Zehen, warme Küsse des Sterbenden, dessen Augen sich schon trübten. Er rutschte an der Wand zu Boden.

Aus ihrem Bauch sprang ein Schrei, doch sie presste die freie Hand auf den Mund und fing ihn noch im Mund ab. Die Hand auf ihren Lippen war schmierig, und dann konnte sie es auch schmecken.

Ihr drehte sich der Magen um, zwischen ihren Fingern quoll Erbrochenes hervor. Die Beine sackten ihr weg. Wie ein Zug schoss der Fußboden auf sie zu.

Der Länge nach lag sie in der heißen Pfütze. Sie versuchte herauszukrabbeln, aber das Blut auf ihrer nackten Haut war zu glitschig.

Erneut kam der Schrei hoch, und diesmal konnte sie ihn nicht unterdrücken. Obwohl sie wusste, dass er sie umbringen würde, ließ Galya ihn entfleuchen wie einen verschreckten Vogel, der aus dem Käfig ihrer Brust entkam.

Der Heulkrampf presste ihr den letzten Atem aus den Lungen. Sie rang nach Luft, hustete, rang erneut nach Luft, versuchte, klar zu denken.

Sie lauschte über das Rauschen in ihren Ohren hinweg.

Nichts zu hören außer dem erstickten Blubbern aus der Kehle des Mannes. Dann ein Klopfen an der Schlafzimmertür. Tränen schossen ihr in die Augen, die Tränen eines verängstigten kleinen Mädchens, aber Galya blinzelte sie weg. Sie war kein kleines Mädchen mehr, schon seit dem Tag nicht, als ihr Vater vor über einem Jahrzehnt gestorben war.

Denk nach, denk nach, denk nach!

Immer noch hielt sie die gläserne Klinge in den blutverschmierten Fingern. Die Spitze fehlte, der umgewickelte Stoff war durchtränkt. Vielleicht konnte sie die Kerle ja auf Abstand halten. Sie würden ihren toten Freund sehen und wissen, dass Galya ihnen dasselbe antun konnte.

Noch ein Klopfen, diesmal lauter. Der Türgriff klackte.

»Tomas?«

Angst durchfuhr sie. Nein, mit einer Glasscherbe würde sie die Männer nicht aufhalten können. Wieder drohte ein Weinkrampf. Noch einmal stemmte sie sich dagegen.

»Tomas?« Die Stimme lallte ein paar weitere Worte. Ein wenig Litauisch konnte sie zwar, aber nicht genug, um die betrunkenen Fragen zu verstehen, die von jenseits der Tür hereindrangen.

»Alles in Ordnung da drinnen?« Eine andere Stimme, in dem schroffen, näselnden Englisch, das in diesem fremden, kalten Land gesprochen wurde. »Hinterlass bloß keine blauen Flecken auf dem Mädchen.«

Wie viele waren es? Als sie angekommen waren, hatte Galya sich die Stimmen zu merken versucht. Zwei sprachen Litauisch. Einer davon lag jetzt neben ihr auf dem Boden. Der andere sprach Englisch mit so starkem Akzent, dass sie ihn als Iren identifizieren konnte. Einer der beiden Brüder, vermutete Galya. Die ganze Woche über hatte sie durch die verschlossene Tür ihre Gespräche belauscht und herausbekommen, dass der eine Mark hieß und der andere Sam. Heute Abend war nur einer der beiden da.

»Tomas?« Eine Faust hämmerte gegen das Holz. »Jetzt hör schon auf mit dem Scheiß da drinnen. Wenn du nicht sofort kommst und aufmachst, trete ich die Tür ein.«

Galya kniete sich hin und drückte sich hoch. Ein kalter Luftzug fächelte über ihren nassen Bauch und die Oberschenkel. Das einfache graue Sweatshirt und die Jogginghose, die sie ihr gegeben hatten, lagen auf der Frisierkommode. Sie griff danach und wechselte beim Überstreifen die Scherbe von einer Hand in die andere. Sie spürte, wie das Blut auf dem Stoff klebte. Es mochte vielleicht Unsinn sein, aber angezogen fühlte sie sich irgendwie sicherer.

Bei jedem Schlag vibrierte die Tür. Dahinter fluchte der zweite Litauer.

»Verdammt noch mal«, rief der Ire.

Galya blinzelte, als die Tür im Rahmen erzitterte und ihr Wumm! im Schlafzimmer widerhallte. Sie verkroch sich in der hintersten Ecke und hielt das gläserne Messer ausgestreckt. Noch ein Wumm!, das die Glühbirne über ihrem Kopf schwanken ließ. Galya drückte sich noch tiefer in den Winkel. Die Scherbe vor ihren Augen zitterte.

Sie betete zu ihrer Großmutter, der Frau, die sie und ihren Bruder stets beschützt hatte, seit sie beide Waisen geworden waren. Solange Galya sich erinnern konnte, war die alte Frau immer ihre Mama gewesen. Jetzt lag Mama Hunderte Kilometer weit weg unter der Erde und konnte ihnen keinen Schutz mehr bieten. Obwohl sie an solche Sachen eigentlich nicht glaubte, rief Galya jetzt Mamas dahingeschiedene Seele an. Sie flehte, Mama möge auf ihre Enkelin herabschauen und sich erbarmen. O bitte, Mama, bitte komm und hol mich hier weg, o bi…

Die Tür flog auf, schlug gegen die Wand und prallte wieder zurück. Der Litauer bremste sie beim Eintreten mit der Schulter ab. Der Ire folgte. Als sie den Toten sahen, blieben sie wie angewurzelt stehen.

Der Litauer bekreuzigte sich.

Der Ire sagte: »Ach du Scheiße.«

Galya drückte sich noch weiter in die Ecke und machte sich so klein wie möglich, als würde niemand sie sehen, solange sie dort hockte.

Der Litauer fluchte kopfschüttelnd, seine Augen wurden feucht. Mit seiner großen Pranke wischte er sich über den Mund.

»Mein Gott, Darius, ist er tot?«, fragte der Ire.

»Sieht aus ja«, sagte Darius.

»Was machen wir jetzt?«

Darius schüttelte den Kopf. »Weiß nicht.«

»Scheiße«, sagte Sam. Das musste Sam sein, Galya war sich sicher.

»Wir alle tot«, sagte Darius.

»Was?«

»Arturas«, sagte der Litauer. »Er töten uns beide. Deinen Bruder auch.«

Sam begehrte auf. »Aber wir haben doch gar nichts …«

»Egal. Wir alle tot.« Er deutete mit seinem wulstigen Finger in die Ecke. »Wegen ihr.«

Sam drehte sich um und sah Galya an. Sie hob ihre gläserne Klinge und durchschnitt damit vor sich die Luft.

»Warum du das tun?«, fragte Darius, das Gesicht eingesunken vor lauter Verzweiflung.

Sie fauchte, und die Scherbe sauste vor seinen Augen vorbei.

»Spar dir die Worte«, sagte Sam. »Die spricht kein Englisch.«

Galya verstand jedes Wort. Angesichts der Verstellung musste sie beinahe ein Kichern unterdrücken. Sie spürte ihren Geist flattern wie eine Fahne im Wind, die sich jeden Moment losreißen konnte. Einen Moment lang war sie versucht, einfach loszulassen und sich vom Wahnsinn davontragen zu lassen, aber so leicht aufzugeben, dazu hatte Mama sie nicht erzogen. Galya fletschte die Zähne und drohte erneut mit der Scherbe.

»Was sollen wir jetzt machen?«, fragte Sam.

»Ihm loswerden«, erklärte der Litauer.

Sam riss die Augen auf. »Wie, ihn einfach irgendwo abladen?«

»Wir sagen Arturas, dein Bruder kommen her, nehmen sie mit und kommen nicht zurück. Wenn Arturas fragen, wohin, wir sagen, wissen nichts.«

»Glaubt der uns das denn?«

Der Litauer zuckte die Achseln. »Wir sagen Wahrheit, wir tot. Arturas nicht glauben, wir auch tot. Wo ist Unterschied?«

Sam nickte in Richtung Zimmerecke. »Und was ist mit der da?«

»Was du denken?«, fragte der Litauer.

Sam blinzelte verwirrt und starrte Darius an. »Los.«

Der Litauer trat beiseite. »Nimm ihr weg Stiklas

»Was soll ich ihr wegnehmen?«, fragte Sam.

»Stiklas, Stiklas.« Der Litauer suchte nach dem richtigen Wort. »Glas. Nimm ihr weg.«

Sam näherte sich mit erhobenen Händen. »Nur ruhig Blut, Schätzchen.«

Galya stach auf ihn ein und erwischte ihn fast am Unterarm.

»Scheiße!« Sam fuhr zurück.

Darius stieß ihn wieder vor. »Nimm ihr weg.«

»Ach, leck mich. Nimm es ihr doch selbst weg.«

Fluchend rempelte der Litauer den anderen zur Seite. Galya fuchtelte mit der Scherbe vor ihm hin und her, doch er packte mit einer schnellen Bewegung ihr Handgelenk, verdrehte es unsanft, und die Scherbe fiel zu Boden. Wie eine Schlange legte sich sein dicker Arm um ihren Hals, und bei ihrem letzten Atemzug roch sie Leder und billiges Aftershave. Dann versank alles in der Finsternis.

Sie träumte von Mamas rauen Händen, von warmem Brot und einer Zeit, als sie von Belfast nur gewusst hatte, dass es eine jämmerliche Stadt war, die manchmal im Radio erwähnt wurde.

Racheengel
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