38

Die Polizisten winkten Herkus in den Verkehr hinein. Bei diesem Detective witterte er Ärger. Einem Polizisten wie dem war Herkus schon einmal in Wilna begegnet. Der lag jetzt im Wald beerdigt, gar nicht weit weg von Herkus’ Frau.

Er wählte Arturas’ Nummer. »Ich bin auf dem Weg«, sagte er.

»Wurde auch Zeit.«

»Die Cops haben mich angehalten«, sagte Herkus. »Sie haben mich so lange festgehalten, bis ein Detective auftauchte. Sein Name war Lennon.«

»Breitschultrig, blondes Haar?«

»Ja«, bestätigte Herkus.

»Der war heute Morgen hier.«

»Er weiß Bescheid über die Hure«, sagte Herkus. »Er weiß, dass sie Tomas getötet hat, und er weiß, dass wir sie suchen.«

»Überhaupt nichts weiß der«, sagte Arturas. »Der streckt nur seine Fühler aus.«

»Er weiß genug«, widersprach Herkus. »Er hat den Pass, mit dem sie hergekommen ist. Es gibt heute noch zwei Flüge nach Brüssel. Einen von Belfast und einen von Dublin. Einen davon solltest du nehmen und von hier verschwinden, bis Gras über die Sache gewachsen ist.«

»Ich habe es meiner Mutter versprochen«, erklärte Arturas. »Ich habe ihr versprochen, dass ich diese Hure finde. Willst du ihr etwa erzählen, dass wir weggelaufen sind?«

Einen Moment lang versuchte Herkus, sich das vorzustellen. Er war Laima Strazdiené erst einmal begegnet. Da war er nicht einmal ein Jahr in Belgien gewesen. In Brüssel mühte er sich mit dem Französischen ab, und kaum setzte er dann einen Fuß aus der Stadt heraus, brachte er es mit Flämisch durcheinander.

Damals hatte er in einem Bordell in der Nähe des Gare Bruxelles-Central gearbeitet, dessen Kunden Geschäftsreisende und Diplomaten waren, die über diesen Bahnhof pendelten. Sein Aufgabenfeld war einfach: an der Tür stehen, jeden abweisen, der nach Ärger aussah, und jeden zusammenschlagen, der drinnen Zoff machte.

An jenem Abend war zwar einiges los gewesen, aber nichts Außergewöhnliches, bis ein englischer Freier – ein Politiker namens Edward Hargreaves, wenn Herkus sich richtig erinnerte – Rabatz machte, weil eines der Mädchen ihm Geld aus der Brieftasche genommen hatte. Herkus ging auf ihr Zimmer und stellte sich zwischen die Hure und den Freier. Das Mädchen stritt alles ab. Hargreaves’ Gesicht war zornesrot.

»Sie sagen, sie nix nehmen«, erklärte Herkus auf Englisch.

»Und ob sie das hat«, widersprach der Freier und zog sich die Hosen hoch. »Als ich hier reinkam, hatte ich siebenhundert Euro dabei. Als ich dann das Geld rausholen und sie bezahlen wollte, waren es nur noch dreihundert. Das heißt, vierhundert Euro fehlen.«

Herkus wandte sich zu dem Mädchen um. Wie ein Wasserfall zeterte sie auf Französisch los. Das einzige Wort, das er verstehen konnte, war enculer, was nichts Gutes war, soviel wusste er. Nach seiner Reaktion zu urteilen kannte Hargreaves es auch.

Ein schroffes Räuspern von der Tür her brachte Hargreaves zum Schweigen. Als Herkus sich umdrehte, sah er Laima Strazdiené ins Zimmer kommen. Sie reichte ihm nur bis zur Schulter und hatte eine schmale, elfengleiche Figur. Trotzdem wusste er, dass mit ihr nicht zu spaßen war.

Es war nicht die Art, wie sie ihren Hosenanzug und die für ihre Finger viel zu großen Ringe trug, wie sie beim Durchqueren des Raumes die Schultern durchdrückte oder ihre Lippen zusammenpresste. Es war die dunkle Kälte in ihren Augen, die wie Kohlen in den Höhlen lagen.

»Wo liegt das Problem?«, fragte sie in perfektem Englisch.

So gut er konnte, berichtete Herkus unter den beständigen Protesten und Zwischenrufen des Freiers ebenso wie der Hure.

Laima nickte einmal kurz und lächelte höflich. »Einen Moment«, sagte sie.

Herkus, das Mädchen und Hargreaves sahen ihr nach, wie sie das Zimmer verließ.

»Wo ist sie hin?«, fragte Hargreaves.

Noch bevor Herkus antworten konnte, kehrte Laima mit einem Bündel Hundert-Euro-Scheinen in der Hand zurück. Sie zählte vier Scheine ab und reichte sie dem Freier.

»Ihr heutiger Besuch wird natürlich nicht berechnet«, erklärte sie.

»Danke«, sagte Hargreaves.

Jetzt, wo er sich nicht mehr auf seine Empörung stützen konnte, war der Mann ganz auf das schäbige Geschäft reduziert, wegen dem er hergekommen war. Rasch zog er sich an und dankte Laima noch einmal.

»Bitte führ den Herrn hinaus«, wies sie Herkus an.

Er gehorchte und brachte Hargreaves aus dem Zimmer. Laima schloss hinter ihnen die Tür. Auf dem Weg zum Ausgang sprachen er und der Engländer keinen Ton miteinander. Sie wechselten auch dann noch keinen Blick, als die ersten Schreie aus dem Raum drangen, den sie gerade verlassen hatten.

Nachdem der Freier weg war, blieb Herkus draußen vor der Tür stehen. Er hatte keine Lust, das Geschrei noch deutlicher zu hören. Die anderen Mädchen versammelten sich im Flur und warfen einander ängstliche Blicke zu, manche zuckten bei jedem neuen Schrei zusammen.

Bald schon wurde aus dem Geschrei ein Gejammer. Dann herrschte Stille, nur noch durchbrochen von angestrengtem Ächzen. Mit Tränen in den Augen huschten die Mädchen auf ihre Zimmer zurück, weil sie das, was sie gehört hatten, nicht länger ertragen konnten.

Irgendwann tauchte Laima wieder auf. Keuchend wischte sie sich mit einem Taschentuch die Stirn ab. Der spitzenbesetzte Stoff hinterließ eine rote Schliere auf ihrer Stirn. Herkus wollte es ihr eigentlich sagen und anbieten, ihr ein sauberes Papiertaschentuch zu holen, aber dann bemerkte er die Ringe. Einzelne Haarsträhnen hingen von ihnen herab wie Zuckerwatte. An den Diamanten klebten Hautfetzen.

»Diese junge Dame arbeitet nicht mehr für uns«, erklärte Laima. »Bitte entferne sie aus meinem Haus.«

Von dort, wo Herkus das Mädchen zurückließ, konnte es allein zum Ambulanzeingang des Krankenhauses kriechen. In dieser Nacht brauchte er fast eine ganze Flasche Wodka, um einschlafen zu können.

»Nein«, sagte er, »das will ich ihr lieber nicht erzählen.«

»Also, dann bleiben wir da«, sagte Arturas. »Und außerdem, wenn dieser Detective wirklich etwas in der Hand hätte, hätte er einen von uns inzwischen schon längst vorgeladen. Such weiter.«

»In Ordnung«, sagte Herkus. »Aber es ist gefährlich.«

»Keine Sorge. Ich werde diesmal zu Weihnachten großzügig zu dir sein.«

»Wie großzügig?«

Eine Pause entstand. Dann sagte Arturas: »Sehr großzügig.« »Okay.« »Aber zuerst bringst du mir, was ich haben wollte.« Das Hotel kam in Sichtweite. »Gleich«, sagte Herkus.

Racheengel
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