28
Lennon klopfte an die Tür und wartete. Am Knauf hing ein »Bitte nicht stören«. Ein Zimmermädchen, das einen mit Laken und Handtüchern beladenen Rollwagen vorbeischob, lächelte ihn an.
Ein Stück den Flur hinunter verließ, eine Aktentasche in der Hand, ein elegant gekleideter Mann mittleren Alters den Lift. Er sah auf das Hinweisschild mit dem Etagenplan, offenbar auf der Suche nach einer bestimmten Zimmernummer, dann näherte er sich der Tür, vor der Lennon wartete. Der Mann schlug zweimal mit den Fingerknöcheln gegen die Tür. Sofort ging sie auf, und er trat ein.
»Entschuldigen Sie«, sagte Lennon.
Die Tür wurde ihm vor der Nase zugeschlagen. Wer sie geöffnet hatte, konnte er nicht erkennen, sondern er erhaschte nur einen Blick auf die Suite dahinter, mit Ledersesseln und einem riesigen Flachbildschirm.
Er schlug mit der Faust gegen die Tür.
Der Mann im Anzug machte auf. »Kann ich Ihnen helfen?«
Lennon spähte über die Schulter des anderen. »Ich bin Detective Chief Inspector Jack Lennon, Kriminalpolizei. Ich muss mit Mr. Strazdas sprechen.«
Der Mann versperrte mit seinem Körper den Türrahmen. »Ihren Ausweis.«
Lennon roch förmlich den Anwalt. Er zog seine Brieftasche heraus und zeigte seinen Ausweis.
»Ich bin David Rainey«, sagte der Mann. »Ich vertrete Mr. Strazdas. Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen?«
»Es geht um etwas Persönliches.« Lennon lehnte sich vor und versuchte, mehr vom Inneren zu erkennen.
Rainey richtete sich zu seiner vollen Größe auf und versperrte Lennon die Sicht. »Ich genieße Mr. Strazdas’ volles Vertrauen.«
»Trotzdem würde ich gern mit Mr. Strazdas persönlich sprechen. Ich fürchte, ich habe eine schlechte Nachricht für ihn.«
»Na schön.« Rainey trat einen Schritt zurück. »Bitte kommen Sie herein.«
Lennon betrat das Wohnzimmer der Suite. Hohe Decken und opulente Polster. Arturas Strazdas saß mit übereinandergeschlagenen Beinen mitten auf einem Sofa, die Arme lagen über der Rückenlehne. Er beobachtete Lennon aus kalten blauen Augen, die unter buschigen Brauen in seinem blassen Gesicht saßen. Auf seiner Stirn lag ein Schweißfilm, und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Seine Nasenflügel waren gerötet.
»Hübsche Suite«, sagte Lennon. »Ich glaube nicht, dass ich so was schon mal betreten habe. In meinem Metier wird man üblicherweise eher in Bruchbuden gerufen.«
»Hier hat Sie niemand gerufen«, entgegnete Strazdas mit starkem Akzent.
»Nein«, bestätigte Lennon. »Darf ich mich setzen?«
Strazdas antwortete nicht. Lennon sah Rainey an, der auf einen Sessel auf der anderen Seite des Couchtischs wies, seinem Mandanten gegenüber.
Im Hinsetzen sagte Lennon: »Ich habe eine sehr schlechte Nachricht für Sie, Mr. Strazdas.«
»Sprechen Sie«, sagte Strazdas.
»Ihr Bruder ist Tomas Strazdas, richtig?« Lennon beobachtete die Augen des anderen.
»Richtig«, sagte Strazdas.
»Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Tomas gestern Nacht tot in der Dufferin Road aufgefunden wurde, auf dem Hafengelände. Er wurde anhand eines litauischen Führerscheins in seiner Brieftasche identifiziert.«
Strazdas zuckte nicht, er schnappte nicht nach Luft, er reagierte überhaupt nicht.
»Vorbehaltlich einer Leichenschau durch das Staatlich-Pathologische Institut gehen wir zunächst davon aus, dass Tomas ermordet wurde. Höchstwahrscheinlich wurde er woanders getötet, in einer Wohnung am Rande von Bangor, wie wir vermuten. Anschließend wurde seine Leiche dorthin gebracht, wo wir sie gefunden haben. Wir glauben, dass seine Mörder – einer oder mehrere – die Leiche ins Wasser werfen wollten, dabei aber von einem Beamten der Hafenpolizei gestört wurden, den sie tätlich angriffen und dann flohen.«
Strazdas starrte vor sich hin. Kurz kam seine Zunge zum Vorschein, befeuchtete die Lippen und verschwand wieder.
Rainey räusperte sich. »Das ist in der Tat eine traurige Nachricht, Inspector. Mr. Strazdas dankt Ihnen, dass Sie ihn in Kenntnis gesetzt haben. Und nun würden wir uns, falls Sie nichts einzuwenden haben, gern die Zeit nehmen, sie zu verarbeiten.«
Er zog eine Karte aus der Tasche und brachte sie Lennon. »Wenn Sie Mr. Strazdas darüber hinaus zu sprechen wünschen, rufen Sie doch bitte diese Nummer an, und ich versichere Ihnen, dass er Ihre Ermittlungen in vollem Umfang unterstützen wird.«
Lennon nahm die Karte und ließ sie auf den Couchtisch fallen. »Danke. Ein paar Fragen habe ich sofort, wenn es Ihnen recht ist.«
Rainey lehnte sich zu ihm vor und sagte mit gedämpfter Stimme: »Mr. Strazdas braucht ein wenig Ruhe, um diese schreckliche Nachricht zu verdauen. Ich muss Sie jetzt wirklich bitten zu …«
»Mr. Rainey, Sie verstehen sicher, dass bei den Ermittlungen eines solchen Mordes der Zeitfaktor ganz entscheidend ist. Je eher Mr. Strazdas meine Fragen beantwortet, desto früher können wir herausfinden, wer seinen Bruder getötet hat. Sie möchten doch sicher nicht den Eindruck erwecken, als würden Sie oder Ihr Mandant die Ermittlungen behindern, oder?«
Rainey richtete sich auf und sah Strazdas an.
Strazdas nickte so unmerklich, dass Lennon sich nicht einmal sicher war, ob er es wirklich beobachtet hatte.
»Na gut«, sagte Rainey. »Beeilen Sie sich. Und wenn ich sage: Schluss, dann ist Schluss, einverstanden?«
»Okay«, sagte Lennon.
Rainey zog sich in eine Ecke zurück.
Lennon zog seinen Notizblock und einen Stift aus der Tasche. »Mr. Strazdas, was machte Ihr Bruder zum Zeitpunkt seines Todes in Nordirland?«
»Tomas war Bürger der Europäischen Union«, erklärte Strazdas. »Er hatte das Recht, ungehindert innerhalb der EU zu reisen und zu leben. Genau wie ich.«
»Natürlich«, sagte Lennon. »Aber das war nicht meine Frage. Warum war Tomas hier? Beruflich? Zum Vergnügen?«
»Ich interessiere mich dafür, in dieser Stadt zu investieren.« Strazdas machte eine ausladende Handbewegung in Richtung der Fenster, als seien die Gebäude dahinter umsonst zu haben. »Deshalb bin ich gestern Abend hergeflogen. Tomas war schon eine Weile vorher da und schaute sich in meinem Auftrag verschiedene Grundstücke an, einige zur Erschließung und eines als möglichen Standort für mein Kerngeschäft.«
»Ihr Kerngeschäft«, wiederholte Lennon. »Wie ich höre, betreiben Sie eine Arbeitsagentur. Sie vermitteln Gastarbeiter an einheimische Firmen.«
»Das ist richtig.«
»Dann wird Tomas wohl in Kontakt mit Immobilienmaklern und dergleichen gewesen sein. Mit wem könnte er gesprochen haben?«
»Das kann ich bestätigen«, meldete sich Rainey aus seiner Ecke. »Ich habe mir gemeinsam mit ihm mehrere Objekte in der Stadt angesehen. Falls nötig, kann ich Ihnen eine Liste der Makler besorgen.«
Lennon ignorierte ihn. »Kannte Tomas zwei Brüder namens Sam und Mark Mawhinney?«
Strazdas zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht.«
»Welche Verbindung hatte Tomas zu paramilitärischen Gruppen der Loyalisten in Belfast?«
»Soweit wir wissen, gar keine«, sagte Rainey. »Inspector, wenn die Vernehmung weiter in diese Richtung läuft, muss ich Sie bitten zu gehen.«
»Tomas wurde mehrmals wegen Störung der öffentlichen Ordnung verhaftet«, fuhr Lennon fort. »Er neigte zu Handgreiflichkeiten.«
»Tomas war ein Heißsporn.« Es schien Strazdas nicht aufzubringen, dass man den Charakter seines Bruders verunglimpfte. »Das hatte er von unserem Vater. Manchmal hat ihm das Ärger eingebrockt.«
»Vielleicht hat er sich ja gestern Abend den Falschen für eine Schlägerei ausgesucht.«
»Vielleicht.«
»Hat Tomas in Ihrem Auftrag Frauen ins hiesige Rotlichtmilieu eingeschleust?«
Einige lange Sekunden lang herrschte Schweigen.
Dann durchquerte Rainey das Zimmer und wies lächelnd zur Tür. »Danke, Inspector, das wäre dann alles.«
Lennon nahm die Karte des Anwalts vom Couchtisch und stand auf. »Ich melde mich wieder.«
»Davon bin ich überzeugt.« Rainey trat einen Schritt zurück, um Lennon vorbeizulassen, dann begleitete er ihn hinaus bis in den Flur.
»Inspector«, rief er ihm nach, als Lennon schon auf dem Weg zum Lift war.
Lennon drehte sich um.
»Ich werde nicht zulassen, dass mein Mandant schikaniert wird.« Er bedachte Lennon mit dem zornigsten Funkeln, dessen er fähig war.
Lennon kehrte zu Rainey zurück und trat ganz nah an ihn heran. »Und ich werde über Weihnachten keinen gottverdammten Bandenkrieg zulassen. Bis jetzt komme ich auf vier Tote in weniger als vierundzwanzig Stunden. Soweit ich es beurteilen kann, waren es allesamt Mistkerle, die sich da gegenseitig an die Gurgel gegangen sind, aber ein junger Polizeibeamter ist bei der Sache im Krankenhaus gelandet. Was auch immer hier los ist, es sollte besser sofort aufhören. Sobald noch eine Leiche auftaucht, ist Ihr Mandant der Erste auf meiner Liste, der verhört wird. Verstanden?«
»Wenn Sie meinen Mandanten noch einmal vernehmen wollen, müssen Sie das vorher ankündigen«, sagte Rainey und verschränkte die Arme vor seiner schmalen Brust.
»Das lässt sich machen«, sagte Lennon.