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Edwin Paynter hatte nicht den geringsten Zweifel, dass er entkommen würde. Von dem Moment an, wo die ersten Beamten mit gezückten Waffen die Kellertreppe hinabgestolpert waren, bis zu dem Moment, wo er auf einer Liege in einem Krankenhausflur lag, wusste er, dass sie ihn keine Sekunde länger festhalten konnten, als er festgehalten werden wollte.

Die Frage war einfach nur, den richtigen Zeitpunkt abzupassen und bis dahin keinen Widerstand zu leisten, sondern sich ruhig und willfährig zu verhalten. Früher oder später würden die zwei Polizisten, die ihn bewachten, einen Fehler begehen, und dann war Edwin Paynter weg, noch bevor sie seinen Namen wussten.

Sie hatten keine andere Wahl gehabt, als ihn ins Krankenhaus zu bringen. Das Mädchen hatte ihm mit dem Stuhl eine Platzwunde am Kopf verpasst, aber Paynter wusste, dass Kopfwunden immer heftig bluteten. Mit anderen Worten, ohne eingehende Untersuchung war es nicht möglich festzustellen, ob die Verletzung nicht doch ernster war.

Mit der freien Hand drückte er sich einen Gazebausch an die Schläfe und presste ihn fest auf die Wunde, um die Blutung zu stillen. Die andere Hand war mit Handschellen an die Liege gekettet. Wenn er gewollt hätte, hätte er einfach die Beine herunterschwingen, wegmarschieren und die Rolltrage hinter sich herziehen können.

Aber das wollte er gar nicht. Sein Abgang würde besser geplant sein.

Die Notaufnahme des Krankenhauses war unterbesetzt und übervoll. Es erstaunte Paynter immer wieder, dass die meisten Leute den Tag des Herrn damit begingen, die Arbeit zu scheuen und zu viel zu trinken. Da war es doch kein Wunder, dass so viele Belfaster Säufer in der Notaufnahme landeten und nicht genügend Ärzte und Schwestern da waren, die sie behandelten.

Deshalb also fand sich Edwin Paynter nun an eine Trage gefesselt im Flur wieder und hörte sich das Gestöhne des Abschaums der Stadt an, während das wenige ärztliche Personal, das Dienst tat, sich die Hacken ablief bei dem Bemühen, sich um alle zu kümmern.

Krankenhäuser waren ihm immer schon fremd und furchteinflößend vorgekommen, ganz besonders die Notaufnahme mit ihren Geräuschen und Gerüchen. Den Dingen, die sich hinter zugezogenen Vorhängen abspielten, dem Geraschel und Getrappel, das nichts mit einem selbst zu tun hatte. Den versammelten Familien, die fürchteten, ihrer Liebsten beraubt zu werden. Den Greisen, die einen vom anderen Ende der Station aus mit leeren Blicken anstarrten.

Hier war es nicht anders. Betrunkene krakeelten und beschimpften, sobald sie allmählich wieder nüchtern wurden, die Polizisten. Kleine Kinder schrien, ihre Eltern sorgten sich. Andere schauten auf die Uhr und schimpften wütend über ihre Krankenkassenbeiträge, weil sie so lange darauf warten mussten, dass man ihre kleinen Wehwehchen behandelte. Lauter bedeutungsloses Getriebe und Gelärme.

Das meiste konnte er, gefesselt an seine schmale Pritsche, nur erahnen. Sollen sie doch leiden, dachte er.

Am Fuß der Liege tauchte eine Schwester auf, dicht gefolgt von einem Pfleger.

»Mr. Paynter?«, sprach sie ihn an.

»Ich heiße Crawford«, sagte er. »Billy Crawford.«

Verwirrt sah sie die Polizisten an.

Derjenige, der ihr am nächsten stand, zuckte die Achseln. »Mir haben sie gesagt, er heißt Edwin Paynter. Ist mir egal, wie Sie ihn anreden. Hauptsache, ich komme bald nach Hause.«

Die Schwester richtete ihr unsicheres Lächeln wieder auf Paynter.

»Mr. …«

»Crawford«, sagte Paynter.

»Mr. Crawford, wir haben leider noch keine Behandlungsnische frei, aber wir besorgen Ihnen so bald wie möglich eine. Wir werden Sie jetzt aber aus dem Flur rollen. In der Orthopädie ist Platz. In Ordnung?«

Paynter gab keine Antwort.

Er legte den Kopf auf das mit einem dünnen Papier bedeckte Kissen zurück, und im nächsten Moment zog schon die Decke über ihm vorbei. Rollen und Schuhsohlen quietschten auf dem Vinylfußboden, und er wurde durch eine breite Tür in einen Raum gefahren, mit Betten und Vorhängen, einem Leuchtkasten an der Wand und einer Reihe von Schubladenschränken, auf denen Schachteln mit Verbandsmaterial lagen.

»Hier sind Sie fürs Erste gut aufgehoben«, sagte die Schwester, während der Pfleger die Liege an einen freien Platz schob. »Was macht die Blutung?«

Sie nahm Paynters Hand weg und begutachtete seine Schläfe. »Sie werden es überleben«, sagte sie. »Also, bleiben Sie schön hier liegen. Es dauert nicht mehr lange.«

Die Schwester huschte aus dem Zimmer, der Pfleger trottete hinter ihr her und ließ die zwei Polizisten an der Liege stehen.

Einer der beiden setzte sich auf die Kante des nächstbesten Bettes, der andere wanderte auf und ab, wobei er immer wieder aus Paynters Blickfeld verschwand. Paynter registrierte, dass ihre Waffen sowohl der sehr ähnlich sahen, die er dem Ausländer abgenommen hatte, als auch der, mit der dieser Polizist Lennon am frühen Abend auf ihn gezielt hatte.

Der Cop, der auf dem Bett saß, sah auf seine Armbanduhr und hob die Augenbrauen. »Scheiße. Na dann frohe Weihnachten«, sagte er.

Racheengel
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