NEUN

LONDON, 24. OKTOBER

In der Wohnung Jarod Denvers hatte ein Dutzend Beamte der Spurensicherung gerade die Arbeit beendet und packte seine Sachen. Es war später Nachmittag, und die Männer wollten spürbar nach Hause. Rebecca Winter steckte die kurze Nacht noch immer in den Knochen, und sie musste sich für einen Moment orientieren.

Die Wohnung war im japanischen Stil eingerichtet, sehr spartanisch, aber durch die Präsenz der seltenen Einzelstücke wirkte sie fast surreal. In einem Raum stand nur ein schwarzes Bett, dessen Rahmen mit Klavierlack veredelt war. Gegenüber ein dazu passender Kleiderschrank. In den ebenfalls schwarz lackierten Fächern befanden sich nur zwei weiße Hemden, zwei Paar Socken, zwei Boxershorts und ein nagelneuer Anzug. Winter schaute sich seine Marke an. Kilgour, French & Stanbury. Ein großer Name in der Londoner Savile Row, der goldenen Meile des guten Geschmacks, wie ihr Vater einmal geschwärmt hatte, als er noch über Geld, sehr viel Geld verfügte. Von gekrönten Häuptern bis zur Hollywood-Prominenz ließ sich alles, was Rang und Namen hatte, dort die Kleider auf den Leib schneidern – einschließlich Jarod Denver. Er hatte also tatsächlich noch die Nerven besessen, dort einzukaufen? Für einen Moment fröstelte es sie bei dem Anblick seiner Habseligkeiten. Ein großer Flatscreen dominierte das Wohnzimmer. Eine schwarze Ledercouch und ein Schreibtisch mit Stuhl. Das war alles.

Der Kühlschrank in der Küche war offen, bis auf eine Champagnerflasche und ein Glas Oliven aber leer. Alles deutete auf eine kurzfristige Anmietung, ein Asyl auf Zeit. Auf dem Schreibtisch war an einem leichten Staubrechteck zu erkennen, dass hier bis vor Kurzem ein Laptop genutzt wurde. Sämtliche Schubladen waren geöffnet und ausgeräumt. Auf dem Tisch lag ein Montblanc-Füller, und am Lederstuhl klebte hinten noch ein Firmenetikett. Alles wirkte wie soeben erst gekauft. Jemand, der so lebt, hat keine Freunde, dachte Winter und ging auf einen Beamten zu.

»Guten Tag, Rebecca Winter, Scotland Yard. Chief Inspector Allington hat mich geschickt. Was haben Sie gefunden?«

»Madam, John Bellham, ich leite die Spurensicherung. Ihren Ausweis, wenn ich bitten darf. Sonst darf ich Ihnen keine Auskunft geben.« Der bullige Mann mit leicht fettigen dunklen Haaren und einem zerknitterten Sakko, musterte sie von oben bis unten. In ihrer ausladenden Hose und dem unförmigen Pullover schien sie nicht dem Bild zu entsprechen, das der Mann von einer Scotland-Yard-Beamtin hatte.

Winter tastete vergeblich nach Ihrem Portemonnaie, wo sie ihren Dienstausweis aufbewahrte. »Ach, der liegt im Auto«, sagte sie schließlich entschuldigend.

»Dann würde ich vorschlagen, Sie holen ihn.«

Winters Gesichtszüge verfinsterten sich. Was sollte das Spiel? Der Leiter der Spurensicherung wusste ganz genau, dass Allington sie geschickt hatte. »Ich habe nicht die Zeit, noch einmal runterzugehen. Sie können ja meinen Vorgesetzten anrufen, wenn Sie eine Rückversicherung brauchen. Also, was haben Sie gefunden?«

Der Mann behielt seinen prüfenden Blick bei. »Dann mache ich mal eine Ausnahme, aber gewöhnen Sie sich so etwas nicht an. Wir haben nur eine Festplatte gefunden. Sie war relativ schwer einsehbar im Rahmen des Kleiderschranks angeklebt. Wir hätten sie fast nicht entdeckt. Ist sicher verschlüsselt, Arbeit für die Freaks«, sagte der Beamte in Anspielung auf die IT-Abteilung von Scotland Yard und reichte ihr den Datenträger.

Für einen Moment stand Winter unschlüssig im Raum. Mit einem Mordfall hatte sie es noch nie zu tun gehabt, und dass sie nun mit einer Mordkommission zusammenarbeiten musste, missfiel ihr. Die Kräfte, die hinter Denvers Tod standen, waren absolute Profis. Sie musste schnell an mögliche Motive gelangen. Die Spurensicherung hatte Zeit, die ihr nicht blieb.

»Sonst nichts?«, hakte sie nach.

Der Beamte rümpfte die Nase. »Nein, alles aalglatt, nur diese Notiz hier noch. Merkwürdiger Mensch. Wir haben nicht mal was im Bad gefunden. Ich denke, der war nur ein oder zwei Mal hier. Die Fingerabdrücke prüfen wir noch«, sagte er knapp, gab Winter den Zettel und begann nach irgendwas in seiner Spurensicherungstasche zu kramen.

Winter betrachtete die Notiz.

Smollenskys, Reuters Plaza um Mitternacht.

Für Unterhaltung ist gesorgt.

Jack Coldwyne

Winter kannte diese Bar von ihren nächtlichen Beutezügen nach Informationen. Inoffiziell war es ein Anlaufpunkt für Luxusescorts. Passt zu diesem miesen Typen, dachte sie und musterte die schwarz verkleidete Festplatte. Auch an ihr waren keine Gebrauchsspuren zu entdecken.

Sie nahm ihr Handy und rief einen Kollegen bei Scotland Yard an.

»Dave. Finde bitte alles über einen Mann namens Jack Coldwyne heraus und schick es mir. Danke!« Mit einem kurzen prüfenden Blick wandte sie sich wieder dem Beamten zu, der gerade dabei war, sich auf einem Block Notizen zu machen. »Sie sagten, die Festplatte war im Kleiderschrank angeklebt?«

»Ja, das sagte ich. Angesichts der gleichen Farbe und Oberfläche doch gar nicht mal so blöd, nicht wahr?«, erwiderte der Beamte in herablassendem Tonfall.

»So, finden Sie?« Winter zog sich dünne weiße Stoffhandschuhe über, die sie aus ihrer Manteltasche hervorgekramt hatte.

Bleib ruhig, Rebecca, ermahnte sich Winter. Es war hart genug, sich in diesem Job als Frau Respekt zu verschaffen, aber ihre weiteren Handicaps waren ihre steile Karriere und ihr Alter. Bis auf Allington, der sie meist mit Respekt und auf Augenhöhe behandelte, spürte sie immer wieder in der Abteilung subtile Ablehnung oder gar Angst vor ihr. Ihre Genauigkeit und Hartnäckigkeit waren ihre einzige Versicherung gegen Schmalspurbeamte, deren kriminologischer Spürsinn eher dem eines erkälteten Dackels im Dachsbau glich. Mit einem Seufzer blickte sie sich um. Hier stimmte was nicht. Wer klebt sich denn eine kleine Festplatte in den Schrank, so ein Blödsinn!

Sie ließ den Beamten stehen und ging einmal zügig durch die Wohnung. Dann musterte sie die Einrichtung langsam und genau, schaute im Schlafzimmer selbst in den Kleiderschrank, strich ihn komplett mit den Händen ab. Sie ging ins Bad, öffnete die Schranktüren, blickte hinter das WC, öffnete eine Abzugsluke über der Dusche, leuchtete sie mit einer kleinen Taschenlampe aus. Im Wohnzimmer tastete sie ebenso akribisch den Schreibtisch ab. Nichts.

»Wir haben alles bereits gründlich durchsucht«, sagte der Beamte, der ihr die Festplatte überreicht und sie seitdem nicht mehr aus den Augen gelassen hatte.

»Ich weiß, aber ich möchte mich trotzdem noch einmal selbst vergewissern.«

Für seine lauernde Art hätte sie ihm am liebsten die Festplatte in den Arsch geschoben. Ansonsten lag er nicht unbedingt falsch. Die Platte war wirklich schwer zu entdecken gewesen, dennoch erschien ihr dieses Versteck zu trivial. Denvers Profil deutete eher darauf hin, dass er alles Wichtige, wie die großen Mengen Bargeld, die man im Jacket des Erhängten gefunden hatte, lieber bei sich trug.

Ihr Blick blieb an dem massiven Bett hängen. Sie kniete sich nieder und entdeckte am hinteren Ende der Wand eine winzige Lücke zwischen Holzfußboden und Scheuerleiste. Sie erhob sich und versuchte, das Bett von der Wand wegzuziehen.

Ein junger Beamter machte sich wortlos daran, ihr zu helfen. Mit einigen ruckartigen Bewegungen zogen beide das schwere Möbelstück. Mit großen Augen sah er, wie Rebecca Winter eine zweite Festplatte der gleichen Bauart hinter der Leiste hervorfingerte. Der junge Mann schürzte anerkennend die Lippen.

»Tja, das ist die Methode: Ich lege eine Spur und lenke vom Wesentlichen ab«, grinste Winter und eilte zur Tür, nicht ohne dem Leiter der Spurensicherung noch ein »Gründlich sieht anders aus!« zuzurufen. »Und sollten Sie noch was finden, was ich nicht glaube, wissen Sie ja, wohin Sie es schicken sollen.«

Was immer auf dieser Festplatte war – sie musste schnell an die Daten kommen. Bei Scotland Yard mit seinen über 750 verschiedenen IT-Systemen herrschte pures Chaos. In Sachen Auswertung und effektive Ermittlung saß die berühmte Polizeibehörde im europäischen Vergleich eher auf der Ersatzbank, während man mit über 20000 Kameras ganz London überwachte und damit zahlenmäßig weltweit an der Spitze lag. Aber Gott sei Dank kannte sie eine Stelle, die ihr helfen konnte, schneller ans Ziel zu gelangen. Während sie die Treppen hinuntereilte, zog sie ihr Handy aus der Tasche.

»Spreche ich mit Bharat Sarif?«

»Wer sind Sie? Woher haben Sie meine Durchwahl?«, fragte ein Mann mit indischem Akzent.

»Inspector Winter, Scotland Yard. Ich habe keine Zeit für lange Erklärungen. Ich brauche schnellstens Ihre Hilfe. Die Formalitäten erledigen wir später. Ich bin in zwei Stunden da.« Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Es war bereits nach fünf. Das würde wieder mal ein 16-Stunden-Tag werden.

»Madam. Ihre Abteilung und Ihren ganzen Namen bitte, dann kann ich sehen, was sich machen lässt.«

Im Laufschritt hatte Winter ihren Wagen erreicht und knallte beim hastigen Einsteigen prompt mit dem Kopf gegen den Rahmen.

»Au, verdammt! Ich bin Rebecca Winter, Abteilung für schwere Wirtschaftsdelikte. Ich ermittle in einem internationalen Betrugsfall.«

Sie warf das Handy auf die Konsole, legte die Hand auf den Kopf, um den Schmerz zu lindern, schaltete mit der anderen die Sirene ein und raste Richtung Cheltenham.