EINUNDDREISSIG

BRÜSSEL, HÔTEL DE LA POSTE, 31. OKTOBER

Die Decke des Festsaals zog viele Blicke auf sich. Eine futuristische Konstruktion aus Stahl und Glas. Erik Feg hatte sich an der Bar niedergelassen und bestellte einen Whisky. Der Saal war von gelbem und rotem Licht durchflutet. Etwa 300 Gäste in Abendgarderobe erzeugten eine quirlige Geräuschkulisse und ließen sich von Dutzenden Kellnern mit Getränken versorgen. In der Mitte des Saales zauberten Köche exquisites Fingerfood und asiatische Gerichte in kleinen handlichen Portionen. Feg erkannte in der Menge zahlreiche Hinterbänkler des europäischen Parlamentes, umgeben von der Meute unbekannter Männer und Frauen, die sicher zu der Flut von Lobbyisten des Giganten BlackRock gehörten – dem Gastgeber dieses Empfangs.

Feg setzte gerade zum ersten Schluck an, als der Wirtschaftsjournalist Philippe Roche auf ihn zukam. Der 65-Jährige arbeitete zurzeit an einer Dokumentation über Goldman Sachs und galt als einer der profundesten Kenner der Brüsseler Lobbyistenszene und der Hintergründe der Finanzkrise. Sie kannten sich seit etlichen Jahren, und Feg versorgte ihn immer wieder mit brisanten Storys von der Börse. Von ihm versprach er sich einige Informationen über die Verstrickungen von Goldman Sachs und anderer Player, die in der Regel weit brisanter waren als Zeitungen oder Sender berichteten.

»Wenn das nicht der passende Rahmen für uns beide ist«, sagte Roche und streckte die Hand aus.

»Tja, hier ist die Welt noch in Ordnung. Die dicksten Männer haben die schlanksten Schönheiten und die größten Konten. Alles wie immer, nicht wahr?« Feg sah Roche an, ihre Blicke zeigten ausreichend Verachtung.

»Sie können davon ausgehen, dass die Hälfte der Frauen gemietet ist.« Roche setzte sich zu ihm und bestellte ein Bier. »Das muss ja was Besonders sein, wenn Sie mich so eilig sehen wollen.«

Feg betrachtete sein Glas. »Sagen wir mal so. Wir könnten diesmal beide gleichermaßen davon profitieren, gewisse Informationen auszutauschen. Sie müssten aber in Vorleistung gehen und abwarten.«

Mit einem vertraulichen Zwinkern hinter seiner Hornbrille machte Roche klar, dass er sich ohne jeden Zweifel daran halten würde. Journalisten wie er waren eine Seltenheit geworden, und hatten es im Mainstream mit ihrem Enthüllungsjournalismus nicht immer leicht. Und wenn sie brisante Reportagen genehmigt bekamen, wurden sie auf Spartensendern zur späten Stunde gesendet und so schlecht honoriert, dass immer weniger bereit waren, sich das anzutun. Aber lieber einen Sendeplatz auf Arte um Mitternacht als gar keinen.

Feg ließ seinen Blick wandern, sah lächelnde Gesichter, schwatzende Münder, alle heiter, als wäre die Welt frei von Sorgen. Neben ihm stand eine dunkelhäutige Frau, ihre grünblauen Augen funkelten ihren Gesprächspartner an, ihr Ausschnitt erlaubte Feg einen tiefen Einblick. Er schaute wieder zu Roche, der sich selbst nach bekannten Gesichtern umzusehen schien. Und dann entdeckte Feg am Eingang eine Frau, die aus der Menge hervorstach. Suchend um sich blickend bahnte sie sich einen Weg durch das Gedränge. Zuerst hatte er nur das Gesicht gesehen, dann den Oberkörper und die Silhouette. Es war zwar die Party von BlackRock, aber es hätte ihr Abend sein können. Sie leuchtete, auch wenn sie sich diese Rolle nicht ausgesucht hatte, sie ragte aus der Masse heraus, weil sie anders war, sich anders bewegte. Und sie trug nicht einmal ein Schmuckstück. Im Vorbeigehen wies sie die Annäherungsversuche eines Mannes zurück. Sie mochte sich selbst nicht wahrnehmen, aber Feg bedauerte in diesem Augenblick, nicht wenigstens zehn Jahre jünger zu sein. Als sie ihn schließlich erblickte, steuerte sie mit sicherem Schritt die Bar an, ohne von den Menschen um sich herum weitere Notiz zu nehmen.

»Guten Abend, Herr Kollege«, begrüßte ihn Rebecca.

Feg war angesichts ihrer Erscheinung für einen Moment sprachlos. Nie hätte er geglaubt, dass sie sich auf einem Parkett wie diesem so selbstsicher und mühelos bewegen könnte.

»Über Kleidergrößen müssen wir uns noch mal unterhalten«, flüsterte sie ihm ins Ohr, bevor sie sich dem Mann neben Feg zuwandte und ihm die Hand reichte. »Guten Abend, Rebecca Winter.«

»Ich bin hocherfreut. Philippe Roche«, strahlte er sie an und nahm ihre Hand. Er deutete auf einen Raum am anderen Ende des Saales. Die separate Lounge mit einer kleinen Bar war mit schweren dunklen Ledersesseln und ebenso massiven Mahagonitischen bestückt, Schwarz-Weiß-Fotos französischer und belgischer Sehenswürdigkeiten in massiven Stahlrahmen schmückten die Wände. Nur zwei Pärchen hatten sich hierher verirrt, um dem lauten Treiben im Saal zu entgehen.

»Setzen wir uns hier«, sagte Roche und schob Winter einen Sessel zurecht. »Ich hatte leider keinen anderen Termin frei. Sie können hier übrigens jede Menge Leute treffen, die, sagen wir mal, gerade um ihre Zukunft bangen, obwohl ihre Konten so voll sind wie nie zuvor!«

Feg ließ sich in einen der Sessel fallen.

Winter fühlte sich in ihrem ungewohnten Outfit nicht wirklich unwohl, schaute sich durch die Glasfront die Frauen im Festsaal an, die den Männern buchstäblich zu Füßen lagen, obwohl sie gar nicht zu ihnen passten. Höchstwahrscheinlich keine von authentischer Liebe getragenen Beziehungen, dachte sie in einem Anflug von Ironie. Jede Nutte, die sie in London kannte, war sicher ehrlicher als diese Frauen hier, die Männern folgten, die in ihrer Hässlichkeit und Verlebtheit kaum zu überbieten waren.

Wie ein Haufen Pinguine wanderten sie durch den Saal. Vereinzelt sah sie auch ältere Frauen. Sie wirkten maskenhaft und lebten vermutlich in einer ebenso frustrierenden Ehe wie einst ihre Mütter. Nur eine ältere Lady fiel ihr auf, die sich herzhaft lachend mit zwei jüngeren Männern unterhielt und wohltuend aus dem Rahmen fiel. Immer wieder hatte sie diese Arten von Partys gemieden, da sie stets das gleiche Bild von Oberflächlichkeit boten. Sie vermutete, dass sich Feg, wenn auch aus für sie noch unergründlichen Motiven, in den Rotlichtvierteln deshalb wohlfühlte, weil es dort sicher nicht tiefsinnig, aber ehrlicher zuging, obgleich das Geschäft mit dem Sex knallhart war. Genau wie hier, dachte sie und lauschte wieder Feg und Roche.

»Wie weit sind Sie mit Ihren Recherchen?«

Roche beugte sich nach vorne, blickte kurz zu dem etwas weiter entfernt sitzenden Pärchen. »Das Thema ist komplex, aber es geht gut voran. Ich versuche, es zusammenzufassen«, sagte er und wartete ab, bis ein eilig herangetretener Kellner die Bestellungen aufnahm.

Roche holte weit aus. Er fing bei der Gründung der EU an und ab welchem Zeitpunkt Goldman Sachs aus dem Club seiner Ehemaligen wichtige Leute an zentrale Positionen in Politik und transnationale Konzerne gebracht hatte, um die Deregulierung der Banken voranzutreiben und die Konzerne so mächtig wie möglich zu gestalten. Es hatte in den 90er-Jahren begonnen. Eine entscheidende Figur war der frühere stellvertretende US-Finanzminister Robert Rubin gewesen, nicht der erste Ehemalige von Goldman Sachs in der US-Regierung, aber einer mit dem größten Einfluss auf den US-Präsidenten und seine Wahl. Dazu kamen Leute wie Robert Zoellick, der nach seiner Karriere bei Goldman Sachs ausgerechnet Präsident der Weltbank wurde.

Doch die Rolle von Goldman Sachs beschränkte sich nicht nur auf Amerika. Mario Monti wurde Ministerpräsident von Italien in einer Zeit, in der es darum ging, die Ursachen der Finanzkrise zu vertuschen und eine starke Regulierung der Banken zu verhindern, während die Politik das Gegenteil verlauten ließ und Stück für Stück von Lobbyisten zurückgedrängt wurde.

Etwa 20 Leute aus dem Führungskader von Goldman Sachs waren in Europa an entscheidenden Stellen platziert worden. Wer in diesem Club versagte, wurde rücksichtslos ausgesondert, die Tüchtigen aber bekamen großzügige Unterstützung. Die schillerndste Figur war Mario Draghi. Ausgerechnet der Mann, der unter Verdacht stand, in Goldman Sachs’ Machenschaften um den Bilanzbetrug Griechenlands verwickelt gewesen zu sein, wurde Präsident der Europäischen Zentralbank. Er startete die größte Enteignung der Menschen, kaufte den Banken ihre giftigen Papiere ab. Weder in der Bevölkerung noch in den Medien gab es einen Aufschrei, da offenbar keiner kapierte, was hier vor sich ging.

Der Journalist hielt kurz inne, als der Kellner die Getränke vor ihnen auf den Tisch stellte, und fuhr dann fort:

»Der letzte Knaller ist, dass ein Ehemaliger aus der Kaderschmiede von Goldman Sachs, Adam Storch, zuständig für laufende Untersuchungen bei der US-Börsenaufsicht SEC wurde.«

Feg hatte sich eine Zigarette angezündet und sich weit in den Sessel zurückgelehnt. Genau jene Institution also, die nun mit ihrer Geldpolitik sukzessive die Bürger enteignete. Und die Bevölkerung sitzt wie der Frosch im warmen Wasser und wartet, bis es zu heiß wird, dachte er ärgerlich, ohne deren Widerstand können sie das einfach durchziehen. Die Effekte dieser Enteignung würden erst in einem oder zwei Jahrzehnten mit voller Wucht durchschlagen. »Hat Storch etwa dafür gesorgt, dass nach dem Ausbruch der Krise nicht gegen Goldman Sachs ermittelt wurde?«

»Warten Sie«, mischte sich Winter ein. »Rubin … Rubin. Moment. Auf Denvers Rechner war ein Dokument, das beschrieb, wie Rubin in den 90er-Jahren Einfluss auf die Verhandlungen der Welthandelsorganisation über die globalen Finanzdienstleistungen nahm, dass sie im Endspiel wären und wie man die WTO nutzen könnte, um den unregulierten Handel von Derivaten weltweit durchzusetzen. Und wenn Storch auch die Ermittlungen gegen Former zu verantworten hätte …«

»Ganz genau«, sagte Feg und freute sich insgeheim, dass Rebecca Winter offenbar langsam erkannte, dass sie bisher viel zu schnell geurteilt und die wahren Machtverhältnisse nicht erkannt hatte. »Player wie Denver oder Former sind nur kleine Pisser, die sich aber mit Insiderwissen vielleicht zur Wehr setzen wollten. Ich denke, sie versuchen die Dinge, die bisher an die Öffentlichkeit gelangt sind, zu ergänzen, um die ganze Tragweite zu verdeutlichen!«

Winter neigte den Kopf zur Seite, als würde sie darüber nachdenken.

Roche nickte und führte weiter aus, dass Rubin erst die Regeln im Casino des globalen Finanzsystems umgebaut hätte und nur wenige Wochen nach seinem Ausscheiden aus der Regierung Chef der damals größten US-Bank Citigroup geworden war. Er schüttelte sich. »Das ist für mich das höchste Maß an korruptem Verhalten, das ich mir vorstellen kann. Aber es gibt bisher zu wenig Beweise.«

»Ja, aber das war doch 1997!« Winter erkannte mit einem Mal, dass genau seit dem Zeitpunkt die globalen Banken so groß wurden, bis sie eben zu groß geworden waren, um sie bei einer Pleite fallen lassen zu können. Aber welche Rolle spielte dabei Dan Former?

Winter holte ihr Blackberry aus der Handtasche. Feg deutete kurz auf das Handy, doch bevor er fragen konnte, winkte sie ab. »Keine Bange, die Karte ist draußen.«

Sie zeigte Roche eines der Dokumente aus Denvers Bestand auf ihrem Smartphone. Interessiert betrachtete er es. »Mit der Aufgabe der Deregulierung waren neben Rubin auch andere fleißig beschäftigt«, sagte sie, die Brisanz dieses Dokumentes begreifend. Auch der damalige Unterstaatssekretär im Finanzministerium Timothy Geithner gehörte dazu, der später als Chef der Federal Reserve Bank in New York die Soforthilfen für Wall-Street-Banken im Zusammenhang mit dem gescheiterten Versicherer AIG ausgezahlt hatte, und dann Finanzminister unter Obama wurde.

»1997 hat er dieses Memo geschrieben.« Winter zeigte es Roche, der es auf dem kleinen Display ihres Handys mühsam vergrößerte und hin und her schob. Darin forderte er auf, dass sich die führenden Bankmanager jetzt einigen sollten. Geithner fungierte auch als US-Botschafter bei der Welthandelsorganisation und wandte nicht unbedingt die feinsten Methoden an, um Staaten von der Deregulierung des Wertpapierhandels zu überzeugen. Nur Brasilien weigerte sich standhaft, was dem Land bis heute die schwersten Folgen der Finanzkrise von 2008 ersparte.

»Ich fass es nicht. Würden Sie mir das überlassen?«

»Alles mit der Zeit, Roche, wie besprochen.« Feg winkte den Kellner heran, um sich einen weiteren Whisky zu bestellen.

»Aber es gibt doch Politiker, die …«, sagte Winter.

»Wer finanziert denn die Wahlen in den USA?«, unterbrach sie Feg. »Und wer ist im Besitz der meisten Medien?« Er machte eine Kunstpause, um dann pathetisch fortzufahren: »Die gehören doch alle Mitgliedern der Oligarchie! Und die hat mittlerweile einen solchen Einfluss, dass es quasi keine Gewaltenteilung mehr gibt. Das ist zwar alles nicht neu, aber was hier jetzt zutage tritt, hat ganz neue Dimensionen, das darf niemand mehr ignorieren. Und wer weiß, was wir in Denvers Daten noch so finden. Er nahm den Whisky entgegen und trank einen kräftigen Schluck, bevor er sich wieder dem Journalisten zuwandte.

»Zur Sache, Roche – was an diesen Fakten ist jetzt wirklich noch unbekannt oder brisant? Können Sie sich vorstellen, dass es in diesem System große Verlierer gibt, die bereit sind, persönliche Risiken einzugehen? Anzeichen für einen internen Widerstand gegen Lobbyisten in Brüssel oder so etwas?«

Roche nahm seine Hornbrille ab, zog ein Taschentuch hervor und putzte sie. »Ich weiß nur, dass die europäischen Banken hier in Brüssel und in den USA um ihre Vorherrschaft kämpfen.« Er erklärte, dass das offizielle Geplänkel über die Maßnahmen zur Regulierung des Finanzsektors alles nur Gerede für die Öffentlichkeit sei. In Wirklichkeit tobe hinter der Fassade ein gnadenloser Machtkampf, in dem die USA versuchten, mit höheren Auflagen die europäischen Banken vom Markt zu verdrängen. Deswegen würde Brüssel angetrieben, die ohnehin schon halbherzige Regulierung wieder aufzuweichen, um gegen die US-Banken konkurrenzfähig zu bleiben. »Außerdem strecken sie jeden Stresstest für die Banken in die Länge oder verändern die Bedingungen des Tests zugunsten der Banken. Die haben noch zu viele faule Eier in den Bilanzen. Was ist, wenn sich herausstellt, dass eine größere Zahl von Banken zusätzliches Kapital in nennenswertem Umfang benötigt? Woher soll das kommen? Aber fragen Sie mich nicht, wie ein Plan B aussehen kann.«

Roche griff nach seinem Glas und fuhr fort. »Es gibt zurzeit panische Angst vor jeder weiteren Eskalation durch neue Skandale. Jeder weitere Whistleblower ist eine Gefahr, weil wir mit ihnen beweisen könnten, dass bei einer erneuten Pleitewelle wieder auf Steuergelder zurückgegriffen werden müsste – und zwar massivst. Erik, wenn ich recht habe, sind da noch mehr als 70 Billionen miese Derivate in den Bilanzen, die keiner mehr kauft!«

War an der Selbstmordserie unter Bankern doch mehr dran, als er glaubte?, überlegte Feg. Die Summe von 70 Billionen Dollar war alles andere als ein Pappenstiel. Die verantwortlichen Händler oder Bankmanager hatten zu viel angerichtet und wurden vielleicht nicht mehr gedeckt. Wenn solche Leute in der Kiste lagen, bevor die Wahrheit ans Licht kommen würde, konnte man es seelenruhig den Toten in die Schuhe schieben – ein grausamer Verdacht. In so einer Phase wie jetzt waren in der Tat alle weiteren Negativnachrichten schlecht zu gebrauchen.

Er blickte zu Winter, sah ihren verkniffenen Gesichtsausdruck. Sie atmete tief ein, als würde sie kaum noch zuhören können.

»Doch das eigentliche Problem ist unser Gastgeber«, sagte Roche, zog einen Zettel aus seinem Sakko und fuhr fort. Während die großen Banken im Scheinwerferlicht von Börsenkontrolle und Öffentlichkeit stünden, liefe ein großer Teil des Finanzgeschäfts im Verborgenen. BlackRock-Chef Laurence Fink könnte Unternehmen und Politiker nach seiner Pfeife tanzen lassen. Nach der ersten Eskalation der Krise sei das Geld in undurchsichtige Schattenbanken und Fondsgesellschaften abgewandert. Allein BlackRock arbeite am Markt mit über vier Billionen Dollar. Roche war überzeugt, dass die Öffentlichkeit sich in einer falschen Sicherheit wiege. Wer kannte denn schon Finanzkonzerne mit den Namen BlackRock oder KKR? Ginge das alles so weiter, stünde das Ende der Sozialen Marktwirtschaft vor der Tür und damit der weltweite Sieg des neoliberalen Netzwerkes. Auch Fink war nach Roches Recherchen bestens vernetzt. Er nannte Draghi seinen Freund und telefonierte regelmäßig mit dem US-Finanzminister.

»Was jetzt geschieht, ist der Aufbau einer neuen Adelsschicht. Unternehmen und Banken haben ein System gebildet, in dem jeder beim anderen beteiligt ist. Durch diese Strukturen schützen sie sich gegenseitig und lösen mit einer Krise nach der anderen sukzessive den Staat auf!«, fuhr Roche fort.

»Aber warum tut niemand etwas dagegen?!«, fragte Winter aufgebracht.

»Die Frage ist, was man dagegen tun kann. Damit haben sich Leute wie Denver und Former anscheinend intensiv beschäftigt.« Ohne auf den Gemütszustand Winters zu achten, legte Feg nach. »Menschen sind im digitalen Zeitalter wie Algorithmen berechenbar. Banken und Staaten könnten mit diesen Algorithmen alles steuern, auch den Grad des Widerstands oder wann dieser einzusetzen droht.« Er zündete sich eine Zigarette an, schmiss die Schachtel auf den Tisch. »Und für den Fall, dass es schiefgeht, werden Aufstände im Keim erstickt, und zwar mit Einsatzplänen von Armeen und Polizeibehörden, die die Menschen längst komplett überwachen können. Der Mensch wird in diesem Spiel des Neoliberalismus genau da gepackt, wo man ihn am besten benutzen kann: Bei seiner Eitelkeit, seiner Gier und vor allem aber bei seiner Angst vor sozialem Abstieg. Die neuen Regeln dieser Weltordnung werden von niemand anderen als den Banken und ihren treuen Politikern durchgesetzt. Der Staat wird dabei immer weiter zurückgedrängt und die Verlierer mit minimalen Sozialleistungen abgespeist. Ist doch ’ne tolle Abschreckung, oder? Und die, die noch Arbeit haben, bekommen gerade genug, um ausreichend konsumieren zu können. Die Oligarchien werden immer reicher und mächtiger, und die Demokratie plumpst in den Orkus …« Feg nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette.

»Ihr Zynismus ist kaum zu überbieten«, zischte Winter.

»So läuft das eben, und deswegen begehrt auch niemand auf. Ist doch ganz einfach. Vielleicht gibt es ja einige in diesem Spiel, die gegen diese neue Weltordnung von innen her aufbegehren, da sie sehen, dass die Bevölkerung zu schwach ist. Und da wären wir bei Denver und Former.« Fegs Zweifel, dass die Todesserie etwas mit diesem Fall zu tun haben könnte, hatten sich nun aufgelöst. Doch da immer noch längst nicht alle brisanten Dokumente entschlüsselt waren, hatte er keine Ahnung, auf welcher Bombe sie wirklich saßen, und auch Roche musste sich darüber im Klaren sein, dass seine Recherchen nicht ungefährlich waren.

Winter stand auf und verließ wortlos den Raum.

»Sie braucht sicher frische Luft, bisschen viel für so eine junge Seele«, sagte Feg. »Was haben Sie noch, Roche?«

»Vor ein paar Wochen habe ich eine Investmentbankerin kennengelernt. Sie hatte mir ein Interview versprochen. Über die Machenschaften am Rohstoffmarkt. Angeblich hat sie Kontakt zu einer Gruppe, die noch mehr Informationen über die globale Vernetzung hat und handeln will. Sie sagte, dass diese Leute planten, die totale Machtübernahme der Konzerne und Banken zu verhindern, und das dafür nicht mehr viel Zeit bliebe. Die Handelsabkommen zwischen Europa, den USA und Kanada seien ein Witz gegen das, was im Hintergrund läuft. Sie heißt Devona Müller. Das Interview hat sie plötzlich abgesagt, aber ich habe ihre Adresse.«

Feg schaute sich um, er verspürte den Impuls, Rebecca Winter nachzugehen. Eine Minute später kehrte sie zurück. Ihr Gesichtsausdruck spiegelte ungefähr die gleiche Empörung und Verachtung wieder wie bei Fegs Festnahme in Hamburg.

»Gut, Philippe, ich denke, das reicht für heute.«

Roche erhob sich kurz und rückte ihr den Sessel zurecht. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, ich hab nur kurz durchatmen müssen.«

Winter setzte sich wieder und versuchte, sich mit einem kräftigen Schluck Crémant zu beruhigen. Feg registrierte ihre Anspannung, ihren Blick, der fast hasserfüllt war. Er kannte diese Reaktion zu gut. Alles, was er in den letzten Jahrzehnten aus der Politik, seinen Begegnungen mit Diplomaten und Geheimdienstagenten erfahren hatte, hatte ihm lange genug genau diesen Blick ins Gesicht getrieben, bis zu dem Zeitpunkt, als er glaubte, begriffen zu haben, dass er nichts dagegen tun konnte, nichts zu bewegen imstande war, ohne seine Karriere oder gar sein Leben zu gefährden. War sich diese junge Frau eigentlich im Klarem darüber, wie gefährlich dieser Job für sie werden könnte?

»So, ich werde mich jetzt von Ihnen und Ihrer zauberhaften Begleiterin verabschieden. Kommen Sie nächste Woche in mein Büro, dann kann ich Ihnen sicher noch mehr Informationen geben«, sagte Roche, und gab ganz nach alter Schule Rebecca Winter einen Handkuss, die ihn fast teilnahmslos entgegennahm.

»Philippe, seien Sie vorsichtig, ich möchte nicht, dass es Ihnen wie David Bird ergeht«, sagte Feg und klopfte ihm auf die Schulter.

Winters Neugier erwachte. »David Bird … das ist doch dieser verschollene Wall-Street-Journalist, oder? Haben Sie etwa Ihre Meinung über die Selbstmordserie geändert?«

»Vielleicht.«

Feg schaute Winter an. Sie sah blendend aus, und doch war etwas nicht in Ordnung – der Blick, die zusammengepressten Lippen, eine für Feg schwer zu ergründende innere Schwere, die sie davon abhielt, das Leben so zu nehmen, wie es kam. Nur im direkten Wettstreit der Meinungen funkelten ihre Augen. Wurde sie aber nachdenklich wie jetzt, war sie verbissen. Dabei konnte sie richtig reizvoll sein wie zu Beginn des Abends.

In diese Gedanken mischte sich ein weiterer, der ihn seit Hamburg nicht losgelassen hatte: Es war nicht fair, ihr die seltsame Begegnung mit dem Franzosen länger zu verschweigen. Aber der kurze Schrecken, mit einem fast schon verdrängten Ereignis erpressbar zu sein, hatte seine Wirkung hinterlassen. Dieser Unfall im Treppenhaus des Puffs, in dem Susanne Wagner gearbeitet hatte, den man auch als Mord hätte auslegen können: Er hatte gehört, wie sie von einem Freier angepöbelt worden war. Besoffen und zugekokst, wie er gewesen war, hatte sich Feg auf den Mann gestürzt und ihm derart eins in die Fresse geschlagen, dass er kopfüber die Treppe hinuntergepoltert war. Das war’s dann gewesen für den Ehegatten einer Rechtsanwältin. Sie hatten die Geschichte so weit vertuschen können, dass die Polizei die Ermittlungen einstellte, doch in der Szene wussten einige, dass Feg an dem Abend zu Wagner gewollt hatte, und so wurde der Vorfall je nach Stimmungslage als Mord oder Unfall interpretiert. Zwar hatte diese Geschichte die beiden für immer zusammengeschweißt, aber die Befürchtung, dass die Wahrheit irgendwann rauskommen würde, war nie gewichen.

»Herr Feg ändert seine Meinung. Das ist doch mal ein Fortschritt.« Sie lächelte schief. Offenbar schien der BND-Mann die Art, wie Menschen beherrscht werden, auch nur wie einen Algorithmus zu betrachten. In ihr wuchs hingegen die Furcht vor einer völlig unberechenbaren Zukunft, angesichts der Abhängigkeit der Menschen von einem so instabilen System. »Ich hoffe, es ist keine Schande, wenn ich zugebe, dass ich mir die Dinge einfacher vorgestellt habe.«

Feg legte seine Hand auf ihre. »Nein, ist es nicht, Rebecca, genau das wollte ich erreichen: Dass Sie etwas mehr Respekt vor der Aufgabe bekommen. Umso mehr kann ich Ihnen vertrauen.«

Er registrierte erneut ihre verblüffende Verwandlung an diesem Abend.

»Warum haben Sie eigentlich keinen Mann an Ihrer Seite?«

Winter zeigte keine Regung.

»Aber anscheinend geht es Ihnen auch so ganz gut«, setzte er schnell hinzu.

»Und was ist mit Ihnen?«

Feg zog seine Hand zurück und starrte in den brechend vollen Saal.

»Ich bin wohl zu viel unterwegs. New York, Tokio, London, Singapur, überall, wo es gerade an den Börsen brennt – das macht es nicht gerade leicht, ein geregeltes Leben zu führen. Dazu kommt ein geheimes Leben, über das man nur unter seinesgleichen sprechen kann.«

»Noch nie Ihr Herz verloren?«

Fegs Gesicht verschloss sich. »Einmal.«

»Ein schwieriges Thema offenbar …«

»Ja, offenbar für uns beide.«

In dem Augenblick hörten sie von der Straße zwei Schüsse.