DREIUNDSECHZIG

LONDON, CANARY WHARF, 9. NOVEMBER

Die Zentrale von Reuters in der South Colonnade kannte keinen Stillstand. Am Haus des Nachrichtenimperiums liefen Tag und Nacht internationale Börsennotierungen auf Flatscreens. Im Eingangsbereich über der Rezeption flimmerte von einem überdimensionalen Bildschirm das aktuelle Weltgeschehen. Krieg, Sport und Wirtschaft zur gleichen Zeit. Eine Milliarde Menschen erreichte der Nachrichtendienst jeden Tag. Über zweitausend Mitarbeiter in 131 Ländern arbeiteten für den Giganten. Das Nachrichtengeschäft, das Paul Julius Freiherr von Reuter 1850 mit einer 200-köpfigen Brieftaubenstaffel aufgebaut hatte, verlor zunehmend an Bedeutung. Richtig Geld verdiente Reuters in der Finanzwelt mit der Abschaffung von Raum und Zeit. Börsennotierungen wurden im Moment ihrer Entstehung weltweit in Millisekunden versendet und erreichten Broker und automatische Handelssysteme wie in einer vierten Dimension: einem ewigen Jetzt.

In der Realität handelte es sich dabei um ein ultraschnelles Kabelnetz, durch das der Konzern jeden Tag etwa 30000 Nachrichten und Hintergrundinformationen zu mehr als 40 000 Unternehmen, Kauf- und Verkaufsorders, Börsennotierungen und alle relevanten Nachrichten für die Wertentwicklung einer Aktie jagte. Weltweit waren über 400000 Broker mit dieser digitalen Rennbahn verbunden. Großbanken und Börsenhändler waren so zur gleichen Zeit an über 258 internationalen Handelsplätzen.

Der grenzenlose Appetit der Händler nach relevanter Information in Echtzeit würde nun einen Adrenalinkick wie bei einem Bungeesprung über den Niagarafällen bekommen, freute sich der junge Informatiker Jonathan Frazer beim Anblick des Umschlags, der ihn völlig unerwartet aus Brüssel an seiner Londoner Privatadresse erreicht hatte. Anscheinend ist die Gruppe trotz Formers Tod noch handlungsfähig, dachte er, während er das Kuvert öffnete. Als er den USB-Stick in der Hand hielt, begann sie zu zittern. Auch wenn er das Geld schon vor Wochen über einen Mittelsmann Formers in bar erhalten hatte, zuverlässig und üppig, kamen Zweifel auf. Würden alle anderen mitziehen? Konnten die Programmierer ihr Versprechen halten, dass es nicht nachvollziehbar wäre, wie und von welchem Rechner die Nachrichten in das System geschleust wurden?

Frazer hatte sein Honorar binnen Tagen über einen Strohmann in Immobilien festgelegt, alles Cash musste verschwinden, bevor es zum Crash kommen würde. Obwohl es keine Garantie gab, ob es wirklich funktionierte. Er steckte den Stick in den Server und wartete ab. Die ersten Dokumente öffneten sich. Die Quellen waren ein wahrer Knaller. Und doch war es nur ein Bruchteil dessen, was schon bald mit einer kleinen Verzögerung durchsickern würde – dann aber geballt, gnadenlos über den Globus verteilt, in Echtzeit im Jetzt: Eine Auflistung verbotener Absprachen, abgehörte Gespräche zwischen Zentralbankern und Managern von Hedgefonds, Namen, Summen und Methoden, wie Zinsen, Währungen und Goldpreise weiter manipuliert werden, Lobbyprotokolle, die Politiker als Handlanger entlarvten, alles, um die Anleger weltweit zu prellen.

Ein Stockwerk über Jonathan Frazer versah ein junger Redakteur die gefälschten Nachrichten mit einem Countdown, bevor er seinen Arbeitsplatz nie wieder betreten würde. Er öffnete den Newsdesk von Reuters und speiste die Meldungen ein. Für die ersten Nachrichten gab es Belege von äußerster Brisanz, niemand würde daran zweifeln, und die Stimmung würde in die gewünschte Richtung gehen. Zeitgleich würden die News von verschiedenen Stellen auf der Welt in die Echtzeitautobahn des globalen Netzes eingespeist. Danach könnt ihr so viele Börsenfeiertage machen, wir ihr wollt, ihr Penner!