VIER MEILEN VOR PORT HERCULE, 25. OKTOBER
Das kleine Motorboot näherte sich mit rasender Geschwindigkeit der White Horizon. Derek Simon hatte Mühe, sich festzuhalten und vor dem Sprühregen der Bugwellen zu schützen.
Es gab nicht viele Orte auf der Welt, wo eine 120-Meter-Jacht nicht sonderlich auffiel. Der Hafen Port Hercule in Monaco war einer davon. Hier lagen sie aneinandergereiht wie eine Perlenkette. Für den Hedgefondsmanager Dan Former der Platz, an dem er genügend Inspiration fand, um sich neuen Spekulationsobjekten und Ideen widmen zu können. Aber seit Monaten war er gezwungen, vier Meilen vor dem Hafen vor Anker zu liegen. Wäre da nicht diese Sache mit Jarod Denver, wäre der heutige Tag eine Erlösung für Former, wusste Simon, denn er hatte auch gute Nachrichten für ihn.
Ein muskulöser Steward in weißer Kleidung half Simon über die Messingbegrenzungen des schwimmenden Anwesens. Das Luxusbollwerk war streng bewacht, ein Dutzend Sicherheitsleute hielt sich im Hintergrund für den Fall der Fälle bereit. Auf dem Vorderdeck sah Simon einige nackte Frauen, die Former wohl als angemessenes Angebot für seine nicht selten vergnügungssüchtigen Gäste an Bord hatte, um den einen oder anderen Deal schneller einfädeln zu können. Leicht verstört blickte er wieder zu seinem Helfer.
»Kommen Sie schon. Sie werden erwartet«, sagte der Steward.
»Moment! Ihr Handy bitte«, mischte sich ein drahtiger Sicherheitsmann ein. Er reichte Simon einen weißen Beutel. »Ausgeschaltet. Brav! Sie denken mit.«
»Sparen Sie sich Ihre dummen Kommentare!«, maßregelte Simon diese aus seiner Sicht entschieden zu flapsige Bemerkung gegenüber einem Mann, der in Brüssel in den vergangenen zehn Jahren mehr für die Finanzindustrie getan hatte, als etliche Lobbyisten zusammen. Unter anderem war es ihm zu verdanken, dass die so oft angekündigten Finanzmarktreformen zulasten der übrigen Wirtschaft Jahre nach dem Lehman-Crash nicht auf den Weg gebracht worden waren. Allerdings hatte er die Konsequenzen seines Handelns unterschätzt. Lascaut und einige Rebellen in Privatbanken hatten auch ihm die Augen geöffnet und ihm das gigantische Netzwerk der Finanzindustrie, ihren Machthunger, wirklich klargemacht. Dennoch war es keine leichte Entscheidung, seine lukrative Lobbyarbeit für Europas Banken zu beenden. Und egal, für wen er seine Leistungen auch immer erbrachte, es war ihm der nötige Respekt zu zollen.
Er blickte in Richtung des Empfangssalons. Er kannte das Schiff von etlichen Besuchen, bei denen er immer wieder Debatten mit Former über die Zukunft des Geldsystems geführt hatte. Neben dem Saal gab es eine Cocktailbar und eine eigene Krankenstation. Auf dem Vorderdeck befanden sich ein imposanter Pool und ein Whirlpool, darunter eine Sauna mit Massagesesseln und Masseuren, die sich in der Regel rund um die Uhr zur Verfügung hielten. Die Jacht glich einer Festung, mit zahlreichen Abwehrmöglichkeiten gegen Paparazzi oder Angreifer. Aber vor allem bot sie viele Annehmlichkeiten. Die Gäste konnten sich auf Motorbooten und Jet-Skis vergnügen und zur Anreise auf einem Hubschrauberplatz landen. In den Kabinen war Platz für mehr als 50 Gäste. Neben der Saunalandschaft gab es ein Kino, das auch als Konzertsaal diente. Es arbeiteten ständig rund 60 Leute an Bord, um Former und seine oft geheimen Gäste diskret zu bedienen, darunter Köche, Kellner, ein Arzt, Computerexperten, Handwerker und nicht zuletzt Escortgirls.
Aber der eigentliche Grund, warum er kaum noch an Land lebte, war für Dan Former, dass er vor der Küste der glücklichste Mensch war. Das hatte er Simon bei ihrer ersten Begegnung versichert. Keiner belästige ihn und er müsse nicht, wie in seiner Villa an Land, Angst vor Neidern und Einbrechern haben. Dass er seit geraumer Zeit auch befürchten musste, von den Ermittlungsbehörden festgesetzt zu werden, sobald er Land betrat, verdrängte er lieber und genoss die Zeit in seiner maritimen Parallelwelt.
Simon betrat den Empfangssalon. Neben dem Eingang hatte sich ein stämmiger Steward platziert, ein weiterer verließ gerade den Saal. Der Raum wurde dominiert von einem massiven Mahagonitisch, in dessen Mitte ein Messingkompass eingelassen war, nur eine Flasche Sekt, ein paar Gläser, eines halb gefüllt, und ein weißer Briefumschlag waren auf dem Tisch, um den sich wuchtige weiße Ledersofas gruppierten, die auf schwerem dunkelblauem Teppichboden platziert waren. An den Wänden standen Schränke im Kolonialstil, weiter hinter im Raum befand sich ein massiver Schreibtisch mit Formers Rechnern und Zugang zu allen relevanten Börsen der Welt.
Former zog sich gerade vor einem der Ledersofas stehend einen weißen Pullover über. Es roch nach Sonnencreme. Simon wusste nicht viel über ihn, aber der Hedgefondsmanager war lange ein Star der New Yorker Börse gewesen. Der ehemalige Absolvent der London School of Economics war für Simon schwer einzuschätzen. Mit beeindruckender Geschwindigkeit hatte er sich nach Ausbruch der Finanzkrise 2008 und ersten Ermittlungen gegen seinen Fonds der neuen Situation angepasst. Er verlasse sich dabei nur auf seinen Instinkt, hatte er Simon gesagt, aber die Zeit der Spiele sei vorbei. Was er damit wirklich meinte, behielt der begnadete Spekulant für sich.
Verändert schien er sich jedenfalls nicht zu haben, dachte Simon, Dan Former war dafür bekannt, weder Gesetze noch Partner zu respektieren, so es denn solche überhaupt gab. Nur mit diesem Lascaut schien ihn so etwas wie eine vertraute Freundschaft zu verbinden. Egal, was geschah – er strahlte stets eine merkwürdige Ruhe aus, die fast an Teilnahmslosigkeit grenzte. In einem ersten Gespräch vor bald einem Jahr, als Lascaut ihn zur Verteidigung seines Freundes angeworben hatte, hatte Former ihm seine Regeln gepredigt. Die gewöhnlichen Gefühle der Spieler an den internationalen Börsen wie Angst, Panik oder Gier könnte er sich nicht leisten. Er hielt den größten Teil der Menschen für eine Herde Schafe, die man mit der Spieltheorie des Kalten Krieges leicht berechnen konnte. Natürlich waren es Militärstrategen, die sich dieser Theorie bedienten, um den nächsten Schritt des Gegners berechnen zu können. Für ihn war es ein Segen, dass man diese Theorie des maximalen Nutzens, nach der jeder nur handelt, in die Wirtschaft übertragen hatte und er ein Teil jener Elite war, deren Macht sich immer durch persönliches Vermögen ausdrückte. Doch heutzutage machten sich auf dem Schachbrett Leute zu schaffen, die dort nichts zu suchen hatten, die nur noch in Algorithmen und Millisekunden, die sie schneller waren als die Konkurrenz, dachten, um schnell Kasse zu machen, ohne wirklich etwas geleistet zu haben.
»Was haben Sie erreicht?«, begrüßte Former den Anwalt und bedeutete Simon mit einer Geste, auf dem Sofa Platz zu nehmen.
»Scotland Yard und ein Experte vom Bundesnachrichtendienst ermitteln. Es gibt bisher keine heiße Spur, wer Denver umgebracht haben könnte … außer, nun ja …«
Former drehte sich um und blickte durchs Fenster zu den Mädchen draußen aufs Deck, die gerade ihre Silikonbrüste mit Öl einschmierten. Er wusste, dass er nun erneut in den Fokus von Ermittlungen rücken würde. »Derek, ich bezahle Sie verdammt gut. Und ich erwarte von Ihnen, dass Sie dafür sorgen, dass man mich nicht einmal im Ansatz damit in Verbindung bringt! Auch wenn ich nicht sagen kann, dass ich über diesen Tod besonders unglücklich bin. Dieser Drecksack. Aber damit sollte der Spuk ein Ende haben.«
»Das mit dem Ende ist nicht sicher«, sagte Simon, lehnte sich tiefer ins Sofa und schlug die Beine übereinander. »Wir wissen nicht, wie weit er seine Drohungen, Sie zu belasten, hätte umsetzen können. Ich muss mehr über Ihre Beziehung zu Denver wissen und warum Sie ihm so lange geholfen haben, nicht gefunden zu werden. Immerhin war das der Deal: Ich verteidige ihn und Sie entlohnen ihn fürstlich dafür, dass er eine überschaubare Zeit ins Gefängnis wandert.«
Former beugte sich vor, nahm das Glas Sekt in die Hand und drehte es hin und her. Er stellte es wieder ab, nahm ein zweites Glas, schenkte ein und reichte es Simon. »Hier, nehmen Sie. Woher wissen Sie von seinen Drohungen?«
»Verraten Sie mir den Algorithmus Ihrer Handelsstrategie?«, fragte der Anwalt unvermittelt.
Former hob den Zeigefinger in Richtung Simon, schwenkte ihn warnend hin und her, begann schallend zu lachen und trank sein Glas in einem Zug aus. Die schnellen Ergebnisse von Simons Intervention, seine Beziehungen zu den Behörden beeindruckten ihn dennoch, sicher könnte Lascaut damit etwas anfangen.
»Ich habe immerhin noch eine gute Nachricht. Die SEC lässt sich in den nächsten Tagen auf den Deal mit Ihnen ein, damit Sie mal wieder an Land können«, sagte Simon und lächelte.
»Was hat Scotland Yard bei Denver gefunden?«
»Offenbar etwas, das so viel Aufmerksamkeit erfordert, dass man einen Experten für Cyberabwehr aus Deutschland hinzugezogen hat, und alles liegt nun beim Geheimdienst zur Auswertung.« Simon glättete seinen Schnäuzer. »Sie müssen sich doch keine Sorgen machen, wenn Sie Ihre Finger nicht im Spiel hatten«, setzte er hinzu.
Das war das Letzte, was Former gebrauchen konnte. Es war also tatsächlich nur noch eine Frage der Zeit, bis gegen ihn weitere Verdachtsmomente auftauchen könnten. Er versuchte, ruhig zu bleiben, und griff nach seinem bereits geleerten Sektglas. Das alles ging diesen blässlichen Schnurrbartträger überhaupt nichts an. Sein Job war, ihn bei der SEC rauszuhauen, und das war gelungen.
»Sind Sie eigentlich mein Anwalt oder mein Ankläger? Ich wollte von Ihnen nur eine Einschätzung, ob Denver irgendeinen Blödsinn verzapft hat, der mir wieder gefährlich werden könnte, alles andere hat Sie nicht zu kümmern.«
»Ich wäre kein guter Anwalt, wenn ich nicht auch ein guter Ankläger wäre!«, entgegnete Simon.
Vor allem bist du ein kleines arrogantes Arschloch, dachte Former insgeheim. Er hatte nie wirkliches Vertrauen zu Simon gewonnen, obwohl er beste Zeugnisse und Referenzen vorweisen konnte. Ja, seine im Vergleich zu den Giganten kleine Kanzlei, hatte Bemerkenswertes erreicht, zahlreiche ehrenwerte Manager vor dem sicheren Gefängnis bewahrt. Seit seinem Seitenwechsel fürchteten nun die, denen er zuvor geholfen hatte, seine Expertisen vor Gericht oder den Behörden. Doch selbst Lascaut hatte in der letzten Zeit Zweifel an Simons Qualitäten. Trotz dessen Erfolgen hatte Lascaut den Eindruck, irgendwas an Simon wäre nicht mehr stimmig, er erschien nicht mehr engagiert und loyal genug. Dass ein Mann wie Denver einfach umgebracht wurde, und das in einer so brisanten Phase, in der es darum ging, das Vertrauen zu wichtigen Herren nicht zu beschädigen, war ein Albtraum. Aber Simon tat so, als hätte er alles im Griff. Former hatte nicht das Gefühl, dass er mit offenen Karten spielen konnte. Wusste der Anwalt vielleicht mehr als er? Am Morgen hatte ihn die Nachricht von Naravan erreicht, er solle in diesen Chat gehen und ihm helfen. Wusste Simon davon etwas, gar, wo der Programmierer abgetaucht war?
»Was ist mit Naravan?«, erkundigte sich Former scharf.
»Ich habe keine Ahnung, vermutlich hat er es mit der Angst zu tun bekommen. Den Rest müssen Sie Lascaut fragen«, sagte Simon und stellte sein Glas wieder auf den Tisch.
»Okay, hab schon verstanden. Dort in dem Umschlag liegt Ihr Geld. Ich brauche Sie nicht mehr. Danke für alles!«
Simon schaute völlig entgeistert. »Was soll das heißen?«
»Lassen Sie Scotland Yard doch ermitteln. Das spart uns eine Menge Arbeit. Der Rest erledigt sich vielleicht von selbst. Es ist eh zu spät.« Former lehnte sich in seinem Sofa zurück.
»Aber …«
»Machen Sie es gut, Derek! Es ist in Ordnung so. Sie haben nichts zu befürchten. Ich habe zwei weitere Anwälte an Bord, sollte es zu weiteren Turbulenzen kommen. Genießen Sie Ihr Leben, bevor es zu spät ist. Ich weiß, was ich sage.«
Mit einem Handzeichen winkte Former einen der Stewards, der sich diskret am Ausgang postiert hatte, heran. »Bringen Sie Mr Simon wieder an Land.«
Derek Simon schaute auf den Umschlag. Er fand es stillos, ja herblassend, so seine letzten Honorare beglichen zu bekommen, aber er nahm das Geld.
»Wenn Sie wieder mal meine Dienste brauchen – immer gern. Alles Gute.« Simon drehte sich um, ging hinaus und wagte einen letzten Blick zu den Nackten Richtung Pool. Eins der Mädchen zwinkerte ihm herablassend zu.
Ihr fühlt euch immer noch zu sicher, dachte Simon und kletterte ungelenk hinunter ins Boot, das ihn zurück an Land bringen würde. Ich werde nicht zusehen, wie ihr und diese Herren glauben, mich verarschen zu können. Was denkt ihr, wer ihr seid!
Dan Former nahm sein vergoldetes Smartphone und tippte auf eine Funktion zur Verschlüsselung. »Patrice. Wir haben ernstere Probleme, als ich befürchtet hatte. Treffen wir uns wie gewohnt.«
Am anderen Ende der Leitung war es kurz still.
»Warte ab, Dan! Ich kümmere mich darum. Ich hab von Simon alles bekommen, was ich brauche. Behalt jetzt bloß die Nerven. Ich habe gute Kontakte.«
»Ich fürchte, genau Simon könnte ein Problem werden.«
»Ach, Quatsch. Bleib ruhig!«
Former legte das Handy auf den Tisch und starrte hinaus auf das Meer.