DREIUNDFÜNFZIG

LONDON, 4. NOVEMBER

Reuters – Nach Angaben des Wall Street Journal verändern derzeit zahlreiche Banken und Hedgefonds ihre Strategie und wetten im großen Stil auffallende Kurse. Auch die US-Börsenaufsicht bestätigte, dass es Hinweise gebe, dass sogenannte Short-Positionen auf den amerikanischen Leitindex S&P 500 auf 200 Prozent ausgebaut wurden. Short-Papiere sind Leerverkäufe, mit denen ein Anleger von fallenden Kursen profitieren kann. Im Falle eines Börsencrashs würden große Investoren um ein Vielfaches von diesem Einsatz profitieren.

Dem widersprachen heute Analysten der Wall Street und warnten vor Panikmache. Ihrer Meinung zufolge stünde keine neue Krise bevor. Richtig sei aber, dass viele Investoren den Börsenaufschwung der vergangenen Jahre für trügerisch gehalten hätten. Denn die Aktienkurse hätten sich zuletzt von der wirtschaftlichen Entwicklung der Unternehmen entkoppelt. Schuld an der Kursrallye seien den Analysten zufolge die Notenbanken. Sie hätten die Zinsen auf ein Rekordtief gesenkt und die Märkte mit billigem Geld geflutet. Hier habe sich aus Sicht der Wall-Street-Analysten eine Spekulationsblase gebildet, die bald platzen könnte. Denn die US-Notenbank Fed habe damit begonnen, die Liquiditätsspritzen zu reduzieren.

Als weitaus dramatischer wurden heute von den Märkten Gerüchte aufgenommen, wonach der Hedgefondsgigant BlackRock und zahlreiche »Too-big-to-fail-Banken« Zugang zu geheimen Plänen der Zentralbanken gehabt hätten, die Leitzinsen zu erhöhen. Sollte sich dieser Verdacht bestätigen, wäre es der größte Insiderhandel der Geschichte und müsste nachhaltige Konsequenzen haben, sagte der Börsenkritiker Dave Moran.

Die U.S. Securities and Exchange Commission (SEC) wollte sich bisher nicht zu solchen Gerüchten äußern. BlackRock hatte bereits 2008 unter Verdacht gestanden, durch private Beziehungen zu leitenden Personen der Zentralbanken und der US-Regierung von Insiderinformationen profitiert zu haben. Zahlreiche private Anleger kehrten dennoch heute großen Finanzinstituten den Rücken, die Kurse gaben zum Teil um bis zu fünf Prozent nach. Der Pressesprecher von BlackRock wies die Vorwürfe als völliges Fantasiegebilde zurück.

Jack Connor schloss seinen Newschannel, stand von seinem Schreibtisch auf, ging ans Fenster und blickte nachdenklich auf die Themse. Die Warnung des Leiters der Londoner Börse hatte keinen prophetischen Charakter mehr, es braute sich wirklich etwas zusammen. Er war nur zuständig für die Sicherheit, gegen Spekulationen konnte er nichts tun. Ganz anders verhielt es sich mit dem geplanten Anschlag. Unfassbar, dass eine Scotland-Yard-Beamtin bessere Arbeit geleistet haben sollte als der Geheimdienst. Noch beunruhigender war die schonungslose Analyse des IT-Leiters der Londoner Börse. Man hatte mit dem Aufspüren des Algorithmus also nur Zeit gewonnen. Seine Experten waren mal wieder anderer Meinung, glaubten, nach Analyse der Algorithmen sicher zu sein, dass man auch am 9. November auf Angriffe dieser Art vorbereitet sei, selbst für den Fall, dass der Code von unerwarteter Stelle eingesetzt werden könnte.

Die Liste der angeblichen Helfer Dan Formers wurde von einem Team des Geheimdienstes in Cheltenham in Zusammenarbeit mit dem MI6 abgearbeitet. Sie standen unter Beobachtung, ihre Rechner und Telefone wurden in Echtzeit überwacht. Aber keinem konnte irgendein Kontakt zu Former nachgewiesen werden. Darauf allein wollte sich Connor nicht verlassen, er hielt an seinen Plänen fest, die fünf größten Börsen an diesem Tag geschlossen zu halten. Auf Druck der Ministerien hatten die Aufsichten widerwillig zugestimmt. Und die Öffentlichkeit, Anleger und Journalisten reagierten ungewöhnlich gelassen auf die Pressemitteilungen einer notwendigen Übung. Ganz im Gegenteil – einige Medien sprachen von einer längst überfälligen Maßnahme, solch ein Manöver über alle wichtigen Handelsplätze hinweg spiegele nur die reale Gefahr wider. Einige US-Senatoren nutzten die Gunst der Stunde und verteidigten die Überwachungstechnologien der Geheimdienste, die sich nun abermals bewährten.

Connor ging wieder an seinen Schreibtisch, schenkte sich aus einer Thermoskanne frischen Tee in seinen Becher und studierte die Einsatzpläne für die kommende Woche, als sein Telefon klingelte. Es war der anonyme Informant.

»Wenn ich nicht dankbar sein müsste für Ihren Tipp, würde ich Sie jetzt jagen lassen. Wie ich sehe, sitzen Sie in Brüssel!«

Es war wieder schwierig, der verzerrten Stimme zu folgen.

»Sie werden mit den Maßnahmen den Einschlag nur verschieben. Sie müssen die Hintermänner finden!«

Connor trommelte genervt mit den Fingern auf dem Schreibtisch. »Hören Sie, es reicht. Wir sind Herr der Lage. Die Börsen werden nach dem 9. November ganz normal wieder ihren Handel aufnehmen!«

»Sie verstehen nicht. Dan Former hat vor seinem Tod weltweit Leute in Stellung gebracht, um seinen Plan zu verwirklichen«, sagte die Stimme.

Connor wurde aufmerksamer, als er hörte, dass es eine Liste von Leuten geben müsse, die vor Ort in das Geschehen eingreifen und die Handelssysteme infizieren würden. Alle Verteidigungsmaßnahmen würden scheitern, würde man ihrer nicht habhaft werden. Er war sich trotz der Warnungen seines offensichtlich gut informierten Whistleblowers nicht im Klaren, was hier für ein Spiel ablief.

»Beruhigen Sie sich. Wir haben die Liste der Leute, und wir beobachten diese sehr genau. Wir gehen davon aus, dass ihre Rechner angegriffen wurden und man ihre Identitäten gestohlen hat und damit die Zugangsdaten zu den Handelssystemen.«

Es war still auf der anderen Seite.

»Hallo?«

»Sie haben die Liste?«

»Ja!«, antwortete Connor barsch.

Der Hörer wurde aufgelegt.