HAMBURG, 10. NOVEMBER
Auf dem Weg zum Elbufer hatte Susanne Wagner vor Tagen zufällig gesehen, wie Feg mit einer Armbinde und einer dunkel gelockten jungen Frau vor ihrem Haus stand. Dass die junge Frau ihren langjährigen Freund umarmte, hatte ihr einen Stich versetzt. Anstatt ihn zu besuchen, war sie fern geblieben und hatte mit sich gehadert. Nachdem die Polizei sie über den Vorfall vor ihrem Elternhaus informiert hatte, wusste sie wenigstens, dass seine Verletzung zwar nicht harmlos, aber den Umständen entsprechend glimpflich gewesen war.
Nun stand er vor der Tür. Sie konnte es kaum abwarten, zu erfahren, was ihm passiert war und was es mit dieser jungen Frau auf sich hatte.
»Mein Gott, wie siehst du denn aus? Sag mal, kürzlich – war das deine neue Flamme? Ich hab euch zufällig gesehen …«
»Das war mein Jungbrunnen«, zwinkerte Feg, umarmte Susanne Wagner einarmig und küsste sie.
»Komm rein, du Idiot!«
Sie gingen ins Wohnzimmer und setzten sich gemeinsam auf das große weiße Sofa mit Blick auf die Hafenskyline.
»Und was zum Teufel habt ihr die ganze Zeit gemacht? Ich hatte schon den Eindruck, du wärst untergetaucht«, wollte Susanne Wagner wissen. Feg blickte auf seine Armbanduhr und schaltete den Fernseher ein. »Das haben wir gemacht.«
… Nach Angaben des US-Außenministers gebe es derzeit keinen Anlass, über eine erneute Verstaatlichung der Banken zu spekulieren. EU-Ratspräsident Loyer beruhigte die Bevölkerung, dass eine weitere Sozialisierung möglicher Bankenpleiten undenkbar sei und garantierte, dass es bei der Bargeldversorgung der Bevölkerung keine Probleme geben werde. Dennoch fühlen sich weltweit Kritiker bestätigt, die nach dem Ausbruch der Finanzkrise Reformen angemahnt hatten. Entgegen aller Beteuerungen der Politik berichteten heute mehrere Nachrichtenagenturen, dass in Kürze die vom IWF vorgeschlagene Schuldensteuer umgesetzt und der Kapitaltransfer außerhalb Europas und den Vereinigten Staaten bis auf Weiteres eingefroren werde. Betroffen seien aber lediglich Barvermögen über eine Million Euro, davon ausgenommen blieben Lebensversicherungen und andere Altersabsicherungen. Sämtliche Aktiendepots wären ebenfalls betroffen. Eine solche Maßnahme ließe sich jedoch nicht ohne weitreichende Konsequenzen rechtfertigen. Man müsse jetzt für Transparenz sorgen, damit falsche Nachrichten nicht zu Verwerfungen am Markt führten, sagte Loyer und appellierte an die Medien, mit diesbezüglichen Informationen sorgfältiger umzugehen.
Feg blickte vom Fernseher zum Hafen. Die riesigen Containerschiffe wurden wie immer be- und entladen. Der Wirtschaftsmotor lief einfach weiter, dabei waren auch ihm im Laufe der Ermittlungen die zahlreichen Selbstmorde von Bankern wie die Ankündigung des unausweichlichen Niedergangs erschienen. Diese Leute hatten gewusst, was sie angerichtet hatten, und es würden wohl nicht die Letzten gewesen sein, die aus ihrer Erkenntnis die Konsequenzen zogen. Aber der Countdown war abgelaufen. Der Total Crash war ausgeblieben. Lascaut hatte also doch versagt.
»Was geht denn da vor sich?«, fragte Susanne, die verwirrt in den Fernseher starrte.
»Ich dachte, du bist eine informierte Frau.«
»Quatsch. Guck dir das da doch mal an! Was wird denn das? Geht unser Geld jetzt flöten?«
»Schwer zu sagen, aber keine Sorge, ich hab was beiseitegeschafft. Ansonsten müssten deine Freier eben mit Naturalien bezahlen«, sagte Feg und fing ein Kissen auf, das Wagner nach ihm schmiss. »Wo ist der Wein?«
»Oh Gott, du änderst dich nie. In der Küche, wo sonst? Was beschäftigt dich denn so? Du kommt mir heute so abwesend vor.«
»Lass mal gut sein!«
Feg stand auf und holte eine Flasche aus dem Kühlschrank und ließ sich in einen Sessel ihr gegenüber plumpsen. Er war müde, schaute Wagner schweigend an, bevor er die Augen schloss. Es war vorbei. Er würde sich irgendeinen Job als Sicherheitsberater besorgen und hier ankommen. Auch wenn er sich in so eine Frau wie Rebecca Winter vor langer Zeit verliebt hatte – die Scotland-Yard-Beamtin war nicht Alice. Allerdings war sie so stark wie sie. Sie hatten beschlossen, sich eine Zeit lang nicht mehr zu sehen oder miteinander zu sprechen, um auszuschließen, dass man ihnen doch noch auf die Spur kommen würde. Es war merkwürdig, so ganz wollte er noch nicht glauben, dass das alles war. Dann hätte Lascaut recht behalten. Es käme wieder nur zu ein paar Verhaftungen, und alles ginge weiter wie gehabt.
Doch sie hatten es wenigstens versucht, mehr konnten sie nicht tun, sie hatten Glück, nicht im Knast zu sitzen, jetzt hieß es abwarten.
Wieder schaute er Susanne an. Er hatte sich jahrelang verschlossen, war hart geworden. Anstatt sich für etwas Neues zu öffnen, hatte er dieser einen Frau nachgetrauert. Es war die Sehnsucht nach einer ganz eigenen Qualität von Beziehung und Nähe, die er bisher nur bei Alice erlebt hatte. Doch Susanne Wagner war genau die Frau, auf die er sich immer hatte verlassen können. Es war Zeit, etwas zu wagen, auch wenn es vielleicht nicht ganz seinen ursprünglichen Vorstellungen und Erwartungen entsprach. Ein Freund hatte ihm vor Jahren genau das gesagt. Dass wir Bildern und Vorstellungen hinterherrennen, das erzeugen und festhalten, was uns vorgelebt wurde. Anstatt unsere Motive zu hinterfragen, stolpern wir immer wieder über die gleichen Steine, erwarten aus den immer gleichen Handlungen und Urteilen neue Ergebnisse. Du musst dringend dein Beuteraster ändern, sonst verrottest du, das hatte der Freund ihm eingeschärft.
»Glaubst du, dass wir …«, begann Feg.
Susanne Wagner blickte ihn an. »Frag nicht, mach es einfach!«