HAMBURG, 27. OKTOBER
Erik Feg war nach der Landung auf dem Hamburger Flughafen immer noch verärgert über Rebecca Winter. Was bildete sich diese Frau ein, die auf ihn eher wie eine pummelige Bibliothekarin wirkte, jedoch alles andere als zimperlich war. Er musste sich eingestehen, dass sie aber auch etwas Warmes an sich hatte, ihr Umgang mit dieser merkwürdigen alten Nachbarin war zum Beispiel geradezu rührend gewesen. Merkwürdige Mischung. Egal, es war Zeit, seinem Vorgesetzten beim BND klarzumachen, was man in Berlin mit dieser offensichtlichen Indiskretion angerichtet hatte. Wäre er nicht auf das Honorar angewiesen, hätte er Winter spätestens gestern den Laufpass gegeben, auch wenn er zugeben musste, dass der Fall immer mehr Aspekte hatte, die eine spannende Herausforderung waren. Außerdem verspürte er den Reiz, den Algorithmus vielleicht für eigene Zwecke zu nutzen. Für das System wären es nur ein paar Zahlen, Summen, die in Sekunden vergehen und niemandem wehtun würden, ihm würde es aber aus seiner durchaus angespannten finanziellen Lage helfen.
Mit einem Seufzer verließ er den Terminal, wühlte sich durch Massen von Touristen und Wachpersonal durch die Shoppinghalle. Als er den Ausgang durchschritt, blinzelte er in die Mittagssonne, zündete sich die ersehnte Zigarette an und spürte einen leichten Schauder. Er blickte sich unauffällig um, konnte aber nichts und niemanden erkennen, der seinem geschulten Auge seine Befürchtung bestätigte, vielleicht einen vom britischen Geheimdienst beauftragten Beschatter hinter sich zu haben.
Es dauerte einige Minuten, bis er den Taxistand vor dem Flughafengebäude erreicht hatte. Er öffnete die Tür zu einem Wagen und drehte sich abermals um. Weiter hinten sah er einen Mann mit langem schwarzem Mantel ebenfalls ein Taxi besteigen. Merkwürdig, dass er sich nicht an die Reihenfolge hielt und wie üblich den nächsten Wagen direkt hinter Feg nahm. Noch merkwürdiger war aber, dass der Fahrer offenbar bereit war, seinen Kollegen die Tour wegzunehmen, was immer Ärger nach sich zog. Feg stieg langsam ein.
»Guten Tag. Wo geht die Reise hin?«, fragte ein in die Jahre gekommener Fahrer mit fettigen Haaren.
»Warten Sie noch einen Augenblick. Ich muss erst die Adresse finden!« Langsam tippte Feg auf seinem ausgeschalteten Handy herum, während er im Rückspiegel beobachtete, was hinter ihm geschah. Es tat sich nichts. Der Wagen scherte nicht aus der Reihe.
»Tut mir leid, ich habe was vergessen«, sagte Feg und stieg kurzerhand wieder aus, um in den Ankunftsterminal zurückzukehren. Er blickte zur Seite. Der andere Wagen fuhr weder los, noch stieg der Mann wieder aus.
»Scheiße!«
Feg beschleunigte seinen Schritt, öffnete im Gehen sein bereits ausgeschaltetes Handy, nahm zur Sicherheit auch noch die SIM-Karte heraus und steuerte direkt die S-Bahn unter der Airport Plaza an, nicht ohne sich immer wieder vorsichtig zu vergewissern, dass sein vermeintlicher Verfolger nicht nachkam. Nach einer Minute Wartezeit lief er im Schutz der Menge zum letzten Waggon und stieg ein. Bis zu seiner Abfahrt musterte er die Menschen, ohne etwas Auffälliges entdecken zu können.
Sehe ich jetzt schon weiße Mäuse? Egal, sicher ist sicher, dachte er und setzte sich nach Abfahrt der Bahn auf die letzte Bank am Ende des Waggons.
In Altona stieg er aus und fuhr mit einem Taxi weiter. Am Museumshafen Övelgönne, nur 100 Meter von Wagners Wohnung entfernt, ließ er es halten. Einmal Luft schnappen, das brauchte er jetzt. Auf dem Ponton, der zu den Fähren führte, hörte er das Klappern der Leinen an den Aluminiummasten der Schiffe, das leichte Klatschen der Wellen gegen die Bootswände, das Geplapper der letzten Fahrrad- und Rucksacktouristen, die zügig versuchten, einen der Plätze auf dem Deck der Fähren zu erreichen. Die Sonne wurde immer wieder von vorbeiziehenden Wolken verschluckt, und die kühle Brise trieb Feg diesen lang vermissten milden Salzgeruch des Wassers in die Nase. Noch einmal atmete er tief ein und ging in sein weißes Übergangsdomizil.
In dem hanseatischen Anwesen angekommen, warf er achtlos seine Jacke auf einen Garderobenhaken und ging in die Küche, wo es sich am besten arbeiten ließ. Er war bereit, den Algorithmus des Geldes genauer zu analysieren. Besonders einige Verlinkungen zu relevanten Nachrichtenagenturen, Börsenaufsichten und Regierungsstellen hatten ihn stutzig gemacht. Wozu sollten die dienen? Zudem waren Teile der Daten am Ende in sich geschlossene, voneinander unabhängige Handelsstrategien, die sich losgelöst vom Rest vielleicht am Markt einsetzen ließen. Doch die Wechselwirkungen der verschiedenen Ansätze könnten zu einem Mikrocrash, einem kurzzeitigen Einbruch der Kurse, führen oder zu einem fatalen Trend, dem andere Systeme folgen würden. Mittlerweile wurde aber an allen Börsen mit leichten Unterschieden der Handel automatisch ausgesetzt, sobald der Markt ungewöhnlich schnell einbrach, und erst nach einer Prüfung oder Beruhigung für die Händler wieder freigegeben. Dennoch, auch mit diesen Intervallen konnte Geld, viel Geld verdient werden, wusste Feg. Eine Simulation hatte eine entscheidende Schwäche: Sie unterschätzte die spontane Kreativität des Menschen. Wenn er mehr über den Algorithmus herausfinden wollte, musste er ihn, so riskant es auch war, direkt am Markt einsetzen.
Feg hatte sich lange mit den aktuell verwendeten Algorithmen beschäftigt. Sie analysierten gezielt das Handelsverhalten der Marktkonkurrenten, um daraus Rückschlüsse auf das Vorhandensein von anderen Algorithmen zu ziehen. Waren diese gefunden, konnte wiederum für den eigenen Handel ein Vorsprung erreicht werden, indem das vermeintliche Handelsverhalten durch Prognosen antizipiert und Wettbewerber »ausgebootet« wurden. Der Fokus lag immer auf einem Informationsvorsprung. Es wurde im Prinzip die ganze Zeit getestet, gepokert, nur noch ein Bruchteil der übermittelten Aufträge in den Orderbüchern wurde auch tatsächlich ausgeführt. Feg wusste genau, dass alle großen Institute, trotz immenser Risikovorschriften der Aufsichtsbehörden, in einem grauen Bereich operierten und der normale Anleger an der Nase herumgeführt wurde, da er nicht über die Kapazitäten und die Handelsgeschwindigkeit verfügte, um mithalten zu können.
Er musste jemanden mit einer heiklen Mission betrauen, jemanden, der sich verdeckt mit dem Algorithmus an die Börse wagen konnte, ohne wirklich Schaden anzurichten. Der wusste, wann es Zeit war, rauszugehen und das auf eine Art und Weise, wie es Feg irgendwie in die Hände spielen könnte nicht zuletzt, um sich durch einen schnellen Erfolg den nötigen Respekt bei Rebecca Winter und auch bei seinen Vorgesetzten in Berlin zu verschaffen.
Er zog jenen Teil des Quellcodes in ein anderes Programm, dessen Algorithmus er gleich am Anfang im Büro des britischen Geheimdienstes zu erkennen geglaubt hatte. Warum soll ich es mir immer schwer machen?, dachte Feg. Er selbst konnte wegen der Ermittlungen gegen ihn unmöglich von seinen Rechnern arbeiten. Er ging ins Wohnzimmer und setzte sich an das alte grüne Festnetztelefon. Als er die Wählscheibe ansah, musste er lachen. Wahrscheinlich war dieses Fossil wirklich das Sicherste, was es zurzeit auf dem Markt gab, überlegte er und wählte bedächtig eine Ziffer nach der anderen.
»Jochen, alter Freund. Pass auf. Ohne langes Quatschen. Ich schicke dir gleich was über die alte Verbindung. Probier das mal aus. Du musst nichts befürchten, alle anderen Infos siehst du gleich, protokolliere alles und schick es mir zurück!«
»Was zahlst du?«
»Wie immer gut, verlass dich drauf. Teste es bitte um Punkt 17 Uhr in Frankfurt.«
»Geht in Ordnung. Punkt 17 Uhr.«
»Danke dir, bis bald.«
Feg öffnete einen der vor Überwachung noch sicheren IRC-Chats und sandte die Daten in mehreren Paketen weiter an seinen alten Freund. Sie kannten sich aus der Hamburger Uni, als es noch an der Tagesordnung war, zum Spaß die Sicherheitslücken von Programmen zu finden und nicht wie heute nur noch mit der Abwehr von Angriffen der Geheimdienste und organisierter Kriminalität beschäftigt zu sein. Der Spaßfaktor war nach 9/11 ohnehin für immer verloren gegangen, das Netz zu einem Kriegs- und Spionageschauplatz verkommen. Wenn es darum ging, den Dienst nach Vorschrift zu umgehen, war sein Freund immer zuverlässig, half ihm, seine eigenen Lücken zu schließen und zu verbergen.
Er schaltete sein Handy wieder ein, stand auf und ging zu einem seiner Koffer, die immer noch im Flur herumstanden, so, wie auch der Rest seiner Sachen wild in der Wohnung verteilt war wie sein Leben an etlichen Orten der Welt. An der Tür zum Wohnzimmer hingen ein neues, schneeweißes Hemd und ein dunkles Sakko. Feg zog sich um, schlug den Kragen des Hemdes hoch, ließ die oberen beiden Knöpfe offen, streifte das Sakko und einen grauen Flanellmantel über. Mit einem Spaziergang an der Elbe konnte er seine Anspannung vertreiben, bis sein alter Kumpan an der Frankfurter Börse aktiv werden würde. Und am Abend wollte er gegen jede innere Stimme der Vernunft dem Kiez einen Besuch abstatten. Sorgfältig schloss er die Tür hinter sich. Wieder atmete er tief durch. Als würde ihm der Sauerstoff helfen, diesem ständigen Stress zwischen Job und seinen Exzessen standzuhalten. Ein leichter Wind kühlte seinen Kopf.
Kaum hatte er die Elbe erreicht, surrte das Handy. Eigentlich hatte er gehofft, einen Tag vor dieser britischen Nervensäge Ruhe zu haben. Sie sollte doch in Brüssel mit diesem Naravan eigentlich genug zu tun haben.
»Lassen Sie mich raten. Sie wollen mit mir Ihre neuesten Erkenntnisse teilen. Wie wäre es mit …«
Rebecca Winter ging nicht auf Fegs sarkastische Frage ein. »Haben Sie schon was gefunden?«
»Ich bin noch am Testen, das geht nicht von einem Augenblick auf den anderen. Ich weiß noch nicht mal, ob es sich simulieren lässt. Machen Sie denn Fortschritte?«
»Dieser Bill Naravan ist schon ausgeflogen. Er hat seine Wohnung hier vor ein paar Tagen geräumt, aber den Wohnsitz nicht abgemeldet. Das riecht demnach verdammt danach, dass er direkt an der Sache beteiligt ist«, sagte Winter und erklärte weiter, dass eine gewisse Karen Hudes, zu der Denver ebenfalls Kontakt gehabt hatte, ihr jedes Gespräch verweigerte, ja sogar ziemlich ungehalten reagierte und behauptete, niemals mit Denver etwas zu tun gehabt zu haben. Wie sich herausgestellt habe, sei Hudes früher bei der Weltbank angestellt gewesen.
Feg hatte den Eindruck, dass die emsige Polizistin wohl nie zur Ruhe kommen würde, obwohl ihre Stimme weitaus friedvoller klang als bisher. Bei dem Namen Hudes wurde er allerdings neugierig. »Was kann Denver von einer angeblichen Whistleblowerin der Weltbank gewollt haben?«
»Sie kennen sie?«
»Kann man so sagen. Ihr wird Indiskretion vorgeworfen. Vielleicht hatte Denver mehr im Sinn als nur Erpressung auf eigene Rechnung. Das ist interessant. Um mehr zu erfahren, müssen wir Denvers Leben auf den Kopf stellen.«
»Okay. Was schlagen Sie vor?«
»Dass Sie alle möglichen Perspektiven und Motive im Auge behalten und sich nicht nur auf Denvers oder Formers Betrugsversuche versteifen. Irgendetwas ist da nicht stimmig«, sagte Feg und erklärte, dass die bislang ermittelten Kontaktpersonen Denvers großteils Akteure seien, denen es ein Dorn im Auge sei, dass die Welthandelsorganisation, der IWF und die Weltbank eine Hochburg des neoliberalen Dogmas waren. »Zumindest gehört Hudes dazu, und wer weiß, was noch in diesen Datensalat aus Mails und Dokumenten schlummert. Jedenfalls zwingen diese Ideologen des freien Marktes allen durch die Finanzkrise verschuldeten Ländern die Privatisierung fast aller öffentlichen Güter auf, um so ihre Interessen durchzusetzen.« Hier gab und gäbe es viele Verlierer und Menschen, die erpressbar wären. Aber vielleicht hätten ein paar mächtige Akteure etwas mehr Verantwortungsgefühl und sähen, welches Leid und Revolutionspotenzial in dieser radikalen Politik steckte. »In Brüssel, Berlin und Frankfurt sitzen Feuerwehr und Brandstifter an einem Tisch. Das finden einige, die die Hintergründe verstehen, vielleicht gar nicht lustig – selbst wenn sie bisher davon profitiert haben!«
»Was meinen Sie damit? Eine etwas waghalsige These.«
Feg lief weiter in Richtung Hafenskyline und blickte von Ferne auf einen Motor des Kapitalismus: Den Hafen in seiner futuristischen Geschäftigkeit, wo 24 Stunden am Tag Güter ver- und entladen wurden und Menschen für magere Löhne Schwerstarbeit verrichteten in der Hoffnung, das Rentenalter zu erreichen, anstatt vorher sozialverträglich zu sterben.
Er stand am Ufer, schaute in die sich dem Horizont nähernde Sonne, die kaum noch Wärme versprach, und auf die Elbphilharmonie, die für die Stadt und erst recht für den Steuerzahler ein kostspieliges Desaster war, auch wenn es in Summe mit nichts zu vergleichen war, was an den internationalen Märkten vernichtet wurde.
Natürlich hatte er sich mit Karen Hudes befasst. Sie hatte den Medien und dem Europaparlament Beweise über die Machenschaften bei der Weltbank und der Federal Reserve Bank liefern wollen. Es ging irgendwie darum, dass alle Zentralbanken zusammen mit weltweit operierenden Unternehmen dabei wären, die Welt in eine oligarchische Struktur umzubauen. Doch Hudes hatte die Fakten nie geliefert. Das alles klang zu sehr nach Verschwörungstheorie. Was aber hatte Jarod Denver von ihr gewollt oder sie von ihm? Trotz fehlender Beweise war Feg selbst längst davon überzeugt, dass die Welt aus den Fugen geriet und in dunklen Händen lag, denen das Gemeinwohl völlig egal war. Er hatte genug von den radikalen Gedanken dieser Eliten in den vergangenen Jahren aufgenommen.
Feg spürte eine alte Wut emporkriechen, die ihn einst angetrieben hatte, gegen die Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur zu opponieren, um dann, Jahre später, resigniert aufzugeben, da ihm die Rolle des Partymenschen besser gefiel als die eines Windmühlenkämpfers für Menschen, die sich nicht ändern wollten und ändern konnten. Was für eine Zeit, dachte er, und diese überraschend agil handelnde Polizistin forcierte die Erinnerung an die Jahre, als er alles aufgesaugt hatte, was es an systemkritischem Material gab.
»Denver ist vielleicht nur ein Schoßhund mit dem zweitwichtigsten Motiv für ein Verbrechen nach der Gier, nämlich Rache«, erklärte er Winter. »Wenn ihn jemand womöglich mit brisanten Informationen versorgt hat, dann war das auf keinen Fall eine Wohlfahrtsaktion, sondern zielgerichtet, vielleicht von einflussreichen Leuten, die bisher von dem System selbst profitiert haben und nun vom Sockel gestoßen wurden. Wir müssen nach den großen Verlierern im Casino suchen.«
»Warum denn nach den Verlierern?«, hakte Winter nach.
»Weil Gewinner sich so nicht verhalten. Hören Sie, ich war gerade im Begriff, ein paar Stunden auszuspannen. Was die Algorithmen angeht, tue ich, was ich kann, und ich werde Bharat Sarif helfen, die Dokumente schneller zu entschlüsseln. Wir reden morgen weiter. Machen Sie sich mal einen flotten Abend in Brüssel.«
»Das werde ich tun, und ich kann mir auch schon vorstellen, was Sie unter ›ausspannen‹ verstehen. Wenn ich morgen komme, bringe ich besser Aspirin mit«, sagte Winter und legte auf.
So eine blöde Kuh! Feg schaltete sein Handy wieder aus. Für einen Moment hörte er von der anderen Seite der Elbe mit ihren gigantischen Hafenanlagen den Sirenen der riesigen Schiffsentlader zu, die einen abgeladenen Container nach den anderen zum weiteren Transport vorbereiteten. Langsam drehte er sich um, ging den Strandweg am Elbufer wieder zurück und war sich in der Sekunde sicher, dass er die Silhouette jenes Mannes, der ihm schon am Flughafen aufgefallen war, kurz vor dem Fußweg zu seinem Domizil um eine Hecke huschen sah.
Das kann doch jetzt nicht wahr sein, dachte er, hat mich meine reizende Auftraggeberin etwa unter Beobachtung stellen lassen? Wahrscheinlicher erschien ihm jedoch, dass der BND ihn beschatten ließ. Vielleicht sollte er den Kerl einfach stellen. Er beschleunigte seinen Gang.
Plötzlich wurde ihm mulmig. Hätte er besser nicht mit seinem Freund telefonieren sollen?