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»Die Natur ist ja so säuisch«, sagte Sally und leuchtete mit einer Taschenlampe durch die Luke auf das Schilf. »Ich meine, nimm mal die Schilfkolben. Ich meine, die sind doch absolut archetypisch phallisch. Findest du nicht auch, G?«

»Schilfkolben?« sagte Gaskell, der hilflos auf eine Karte starrte. »Schilfkolben sagen mir nichts.«

»Landkarten auch nicht, wie man sieht.«

»Seekarten, Baby, Seekarten.«

»Was macht schon der kleine Unterschied?«

»Im Augenblick verdammt viel. Wir sind entweder im Froschwasser oder in der Moorbreite. Ich kann nicht sagen, wo.«

»Ach, laß es doch einfach die Moorbreite sein. Ich schwärme einfach für die Breiten. Eva-Herzchen, wie war's mit noch 'ner Kanne Kaffee? Ich bleib die ganze Nacht wach und seh mir an, wie's über den Schilfkolben dämmert.«

»Ja? Na, ich nicht«, sagte Gaskell. »Die letzte Nacht hat mir gereicht. Dieser blöde Kerl mit der Puppe im Bad, und Schei schneidet sich auch noch. Das reicht für einen Tag. Ich kriech jetzt lieber unter die Decke.«

»An Deck kriechst du«, sagte Sally, »du kriechst an Deck unter die Decke, G. Eva und ich schlafen hier unten. Bei dreien ist einer zu viel.«

»Drei? Mit Busen-Baby wären wir mindestens fünf. Okay, ich schlafe an Deck. Wir müssen zeitig aufstehen, wenn wir von dieser verdammten Sandbank runterkommen wollen.«

»Hat Kapitän Pringsheim uns auf Sand gesetzt, Baby?«

»Das liegt an diesen Seekarten. Wenn sie doch bloß die Tiefen genau angäben.«

»Wenn du wüßtest, wo wir sind, würdest du wahrscheinlich sehen, daß sie's tun. Aber es ist natürlich sinnlos zu wissen, es ist drei Meter tief ...» »Faden, Schätzchen, Faden.«

»Drei Faden tief im Froschwasser, wenn wir in Wirklichkeit in der Moorbreite sind.«

»Na egal, wo wir sind, du solltest mal lieber hoffen, daß es 'ne Flut gibt, die uns hochhebt und wegträgt.«

»Und wenn's keine gibt?«

»Dann müssen wir uns was anderes einfallen lassen. Vielleicht kommt jemand vorbei und schleppt uns ab.«

»Mein Gott G, du bist doch ein Weltmeister«, sagte Sally. »Ich meine, warum konnten wir nicht einfach draußen in der Mitte bleiben? Aber nein, du mußtest ja diesen Dreckskahn auf 'ne Sandbank schippern, und das alles wegen was? Wegen Enten, gottverdammten Enten.«

»Gänsen, Baby, Graugänsen. Nicht bloß Enten.«

»Okay, dann eben wegen Graugänsen. Bloß weil du sie fotografieren willst, sitzen wir jetzt fest, wo niemand mit einem Boot hinfährt, der richtig im Kopf ist. Was meinst du, wer hier herkommen soll? Die Möwe Jonathan?«

In der Kombüse kochte Eva Kaffee. Sie trug den knallroten Kunststoff-Bikini, den ihr Sally geliehen hatte. Er war eigentlich zu Wein für sie, so daß sie rundrum peinlich rausquoll, und er lag ordinär eng an, aber letztlich war es besser, als nackt rumzulaufen, auch wenn Sally sagte, Nacktheit hieße Freiheit, und guck dir die Indianer am Amazonas an. Sie hätte ihre eigenen Sachen mitnehmen sollen, aber Sally hatte furchtbar auf Eile gemacht, und nun war alles, was sie hatte, der zitronengelbe Hausanzug und der Bikini. Also ehrlich, Sally war so autora .. . autora-dingsbums ... na ja, eben herrisch.

»Mehrzweck-Plastik, schurzmäßig, Baby«, hatte sie gesagt, »und G hat dieses Faible für Plastik, nicht wahr, G?«

»Bio-abbaumäßig, ja.«

»Bio-abbaumäßig?« fragte Eva in der Hoffnung, in irgendein neues Geheimnis der Frauenemanzipation eingeführt zu werden.

»Plastikflaschen, die sich auflösen, statt rumzuliegen und einen ökologischen Morast zu erzeugen«, sagte Sally, öffnete eine Luke und warf eine leere Zigarrenschachtel über die Reling. »Das ist Gs Lebensbeschäftigung. Das und Recycling. Unendliches Recycling.«

»Genau«, sagte Gaskell. »Wir haben schon eine eingebaute Obsolenz im Automotionssektor, wo er unmodern geworden ist. Also ist, was wir nun brauchen, die eingebaute bio-abbau-tnäßige Deliqueszenz auf dem allgemeinen Verbrauchssektor.«

Eva hörte verständnislos, aber mit dem Gefühl zu, sich irgendwie im Zentrum einer intellektuellen Welt zu befinden, die weit über die von Henry und seinen Freunden hinausging, die so langweilig über neue Leistungskurse und ihre Schüler redeten.

»Wir haben ganz hinten im Garten einen Komposthaufen«, sagte sie, als sie endlich verstand, worüber geredet wurde. »Ich tu die Kartoffelschalen und den ganzen Müll drauf.«

Gaskell hob die Augen zum Kabinendach. Pardon, zur Kajütdeckung. »Da wir gerade von Müll reden«, sagte Sally, und strich zärtlich über Evas Hintern, »wie mag Henry wohl mit Judy zurechtkommen.«

Eva zuckte zusammen. Der Gedanke daran, wie Henry und die Puppe im Bad lagen, quälte sie noch immer.

»Ich weiß einfach nicht, was in ihn gefahren war«, sagte sie und sah Gaskell mißfällig an, als er kicherte. »Ich meine, es ist doch nicht so, daß er jemals untreu gewesen ist oder irgend sowas. Und 'ne Masse Ehemänner sind das. Patrick Mottram geht dauernd fremd und hat Affären mit anderen Frauen, aber Henry war in dieser Hinsicht immer sehr zuverlässig. Er mag ja still und nicht sehr unternehmend sein, aber niemand könnte von ihm sagen, er war ein Windhund.« »Oh, sicher«, sagte Gaskell, »er hat bestimmt *ne Sendepause sexmäßig. Mir blutet das Herz für ihn.«

»Ich verstehe nicht, warum ihr behauptet, daß mit ihm was nicht in Ordnung ist, bloß weil er treu ist.«

»G hat das nicht so gemeint, nicht wahr, G?« sagte Sally, »er meinte, in einer Ehe muß es echte Freiheit geben. Kein Herrschen, keine Eifersucht, kein Besitzenwollen. Richtig, G?«

»Richtig«, sagte Gaskell.

»Der Beweis wahrer Liebe ist, wenn man seiner Frau dabei zusehen kann, wie sie's mit einem anderen treibt, und sie immer noch liebt«, fuhr Sally fort.

»Ich könnte Henry nie zusehen ...«, sagte Eva. »Nie.«

»Also liebst du ihn nicht. Du bist unsicher. Du vertraust ihm nicht.«

»Ihm vertrauen?« sagte Eva. »Wenn Henry mit 'ner anderen ins Bett ginge, versteh ich nicht, wie ich ihm vertrauen könnte. Ich meine, wenn es das ist, was er will, warum hat er mich dann geheiratet?«

»Das«, sagte Gaskell, »ist die Goldene Quizfrage.«

Er nahm seinen Schlafsack und ging an Deck. Eva flennte schon wieder. »Is ja gut«, sagte Sally und legte den Arm um sie. »G hat doch bloß Spaß gemacht. Er hat's überhaupt nicht so gemeint.«

»Das ist es doch nicht«, sagte Eva, »ich verstehe bloß überhaupt nichts mehr. Es ist alles so kompliziert.«

»Großer Gott, du siehst schrecklich aus«, sagte Peter Brain-tree, als Wilt vor seiner Haustür stand.

»Ich fühle mich auch schrecklich«, sagte Wilt. »Alles der Gin.«

»Willst du damit sagen, Eva ist nicht zurück?« sagte Brain-tree und ging durch den Flur voran zur Küche.

»Sie war nicht da, als ich heimkam. Bloß ein Brief, in dem stand, sie führe mit Pringsheims weg, um über alles nachzudenken.« »Um über alles nachzudenken? Eva? Worüber denn?«

»Na ja . ..«, begann Wilt und besann sich eines Besseren, »die Sache mit Sally, wahrscheinlich. Sie sagt, sie wird mir nie verzeihen.«

»Aber du hast doch mit Sally nichts gemacht. Hast du mir jedenfalls erzählt.«

»Klar, hab ich nicht, aber da liegt ja der Hund begraben. Wenn ich getan hätte, was dieses nymphomanische Miststück wollte, dann hätt's diesen ganzen Scheiß Ärger nicht gegeben.«

»Das verstehe ich nicht, Henry. Ich meine, wenn du gemacht hättest, was sie wollte, hätte Eva was zu meckern gehabt. Ich kapier aber nicht, warum sie explodiert sein sollte, wenn du gar nichts gemacht hast.«

»Sally muß ihr gesagt haben, ich hätte was gemacht«, sagte Wilt, der entschlossen war, die Geschichte mit der Puppe im Badezimmer nicht zu erwähnen.

»Meinst du das Flötensolo?«

»Ich weiß selber nicht, was ich meine. Was ist überhaupt ein Flötensolo?«

Peter Braintree guckte verdutzt aus der Wäsche.

»Das weiß ich nicht so ganz genau«, sagte er, »aber es ist offenbar etwas, was der Mann nicht tun sollte. Wenn ich nach Hause käme und Betty erzählte, ich hätte ein Flötensolo gemacht, dächte sie bestimmt, ich hätte jemandem ein Ständchen gebracht.«

»Überhaupt wollte ich es sowieso nicht machen«, sagte Wilt. »Sie wollte es bei mir machen.«

»Vielleicht heißt es, jemandem einen ablutschen«, sagte Braintree und setzte Wasser auf. »So hört es sich für mich ah.«

»Na, für mich hat sich's nicht so angehört«, sagte Wilt mit Schaudern. »Bei ihr klang's so, als wollte sie mir mit 'ner Trompete in die Ohren tuten. Du hättest mal ihren Blick sehen sollen.«

Er setzte sich verzagt an den Küchentisch.

Braintree musterte ihn neugierig. »Du siehst ja aus, als wärst du im Krieg gewesen«, sagte er.

Wilt sah an seinen Hosen runter. Sie waren schlammverschmiert und an seinen Knien klebten runde Lehmplacken. »Ja ... äh ... also, ich hatte auf dem Weg hierher 'ne Panne«, erklärte er wenig überzeugend, »ich mußte einen Reifen wechseln und habe mich hingekniet. Ich war ein bißchen blau.« Peter Braintree grunzte mißtrauisch. Das hörte sich für ihn nicht sehr überzeugend an. Der arme, alte Junge war offenbar ein bißchen aus dem Tritt.

»Wasch's dir halt in der Spüle aus«, sagte er.

Wenig später kam Betty Braintree die Treppe herunter. »Entschuldige, aber ich habe mit angehört, was du über Eva gesagt hast«, sagte sie. »Das tut mir ja so leid, Henry. Ich würde mir aber keine Sorgen machen. Sie kommt bestimmt zurück.«

»Da wäre ich nicht so sicher«, sagte Wilt düster, »und überhaupt bin ich mir nicht sicher, ob ich will, daß sie wiederkommt.«

»Ach, Eva ist doch in Ordnung«, sagte Betty. »Sie kriegt diese plötzlichen Rappel, aber die dauern doch nie lange. So ist sie halt nun mal. Eva ist schnell begeistert, aber es legt sich auch schnell wieder.«

»Ich glaube, das machte Henry ja gerade Kummer«, sagte Braintree, »daß sie schnell begeistert ist und sich schnell hinlegt.«

»Nein, bestimmt nicht. So ist nun Eva ganz und gar nicht.«

Wiltsaß am Küchentisch und nippte an seinem Kaffee. »Bei der Sippschaft, in der sie jetzt verkehrt, bin ich auf alles bei ihr gefaßt«, murmelte Wilt kummervoll. »Erinnert ihr euch noch, was war, als sie diese Phase mit der makrobiotischen Schonkost hatte? Dr. Mannix sagte mir damals, ich war fast der schwerste Skorbutfall, den er seit dem Bau der BurmaEisenbahn zu Gesicht bekommen hätte. Und dann diese Geschichte mit dem Trampolin. Sie ging zu einem »Halt-dich-f it«-Kursus an der Volkshochschule in Bulham und kaufte sich so ein Scheiß Trampolin. Ihr wißt ja, die alte Mrs. Portway hat sie mit dem Ding ins Krankenhaus gebracht.«

»Ich weiß, es hat irgend'n Unfall gegeben, aber Eva hat mir nie erzählt, was wirklich passiert ist«, sagte Betty.

»Natürlich nicht. Es war ein verfluchtes Wunder, daß wir nicht angezeigt worden sind«, sagte Wilt. »Es fetzte Mrs. Portway einfach durchs Treibhausdach. Überall lag Glas auf dem Rasen, und Mrs. Portway war ja auch nie gerade die Gesündeste.«

»Hatte sie nicht diese rheumatische Gelenkentzündung?«

Wilt nickte bekümmert. »Und die Schmisse in ihrem Gesicht«, sagte er, »das war unser Gewächshaus war das.«

»Ich muß schon sagen, ich kann mir bessere Orte für'n Trampolin vorstellen als Gewächshäuser«, sagte Braintree. »Das war doch kein sehr großes Gewächshaus, gelt?«

»Es war auch gottseidank kein sehr großes Trampolin«, sagte Wilt, »sonst war sie sonst wohin geflogen.«

»Also, das zeigt doch nur«, sagte Betty, die die Sache von der heiteren Seite nahm, »Eva stellt vielleicht irrsinnige Dinge an, aber sie wird schnell davon geheilt.«

»Aber Mrs. Portway nicht«, sagte Wilt, der nicht zu trösten war, »sie lag sechs Wochen im Krankenhaus, und die Hautverpflanzungen wuchsen nicht an. Seither hat sie sich nicht mehr an unser Haus rangetraut.«

»Du wirst sehen, Eva hängt diese Pringsheim-Clique in ein oder zwei Wochen aus dem Hals. Das ist eben wieder so'ne Laune von ihr.«

»Eine Laune mit 'ner Masse Vorteilen, wenn ihr mich fragt«, sagte Wilt, »Geld, gesellschaftliches Ansehen und Gruppensex. Alles, was ich ihr nicht bieten könnte, und alles hochgemotzt mit 'ner Menge intellektuellem Blabla über Frauenemanzipation und Gewalt und die Intoleranz der Toleranz und die Revolution der Geschlechter, und man ist nicht richtig reif, wenn man nicht bi ist. Da kommt einem doch der Kaffee hoch, aber das ist eben der Quark, auf den Eva reinfällt. Ich meine, sie würde sogar verfaulte Heringe kaufen, wenn irgend so ein Clown, der gesellschaftlich höher steht, ihr sagte, das wäre das Raffinierteste, was man essen könnte. Erzählt mir was von Leichtgläubigkeit!«

»Es ist halt so, daß Eva einfach zu viel Energie hat«, sagte Betty. »Du solltest sie mal zu überreden versuchen, daß sie 'n Ganztagsjob annimmt.«

»'n Ganztagsjob?« sagte Wilt. »Sie hat mehr Ganztagsjobs gehabt als ich warme Mahlzeiten. Natürlich, das besagt heutzutage nicht viel. Was ich kriege, ist immer bloß ein kaltes Abendbrot und ein Zettel, auf dem steht, daß sie zum Töpfern oder zur Transzendentalen Meditation oder etwas ähnlich Halbgarem gegangen ist. Und überhaupt ist Evas Vorstellung von einem Job, gleich die ganze Fabrik zu übernehmen. Erinnert ihr euch an Potters, diese Maschinenbaufirma, die vor ein paar Jahren nach einem Streik pleite ging? Also, wenn ihr mich fragt, war das Evas Schuld. Sie hatte so'n Job bei einer Beratungsfirma, die die Rentabilität untersuchte, und die schickten Eva in die Fabrik, und sofort darauf hörte man, daß sie streiken wollten.«

Sie redeten noch eine Stunde weiter, bis Braintrees ihn aufforderten, zum Schlafen dazubleiben. Aber Wilt wollte nicht. »Ich hab morgen einiges zu erledigen.«

»Und das wäre?«

»Zum Beispiel den Hund füttern.«

»Du kannst doch jederzeit rüberfahren und das tun. Clem wird über Nacht schon nicht verhungern.«

Aber Wilt steckte zu tief im Selbstmitleid, um sich überreden zu lassen, und außerdem machte er sich noch immer wegen der Puppe Gedanken. Er könnte nochmal versuchen, das Ding aus dem Loch zu holen. Er fuhr heim und ging in einem Kuddelmuddel aus Laken und Decken zu Bett. Er hatte es am Morgen nicht gemacht. »Der arme, alte Henry«, sagte Betty, als Peter und sie nach oben gingen. »Er sah ja ziemlich grauslich aus.«

»Er sagte, er hatte 'ne Panne und mußte das Rad wechseln.«

»Ich meinte nicht seine Sachen. Sein Gesichtsausdruck hat mir Angst gemacht. Meinst du nicht auch, er ist kurz vorm Zusammenklappen ?«

Peter Braintree schüttelte den Kopf. »Du sähst auch so aus, wenn du zehn Jahre jeden Tag deines Lebens Gasinstallateure III und Gipser II hättest und dir dann deine Frau wegliefe«, sagte er.

»Warum lassen sie ihn nicht was Besseres unterrichten?«

»Warum? Weil die Berufsschule unbedingt 'ne Berufsfachschule werden soll, und sie dauernd neue Leistungskurse einrichten und nur Leute mit -'m Doktor als Lehrer einstellen, für die sich dann keine Schüler melden, und also sind sie vollgepfropft mit Spezialisten wie Dr. Fitzpatrick, der alles weiß, was man über die Kinderarbeit in vier Baumwollspinnereien in Manchester im Jahre 1837 wissen kann, und sonst gar nichts. Stell den vor eine Klasse Lehrlinge, die einen Tag für die Schule frei gekriegt haben, und es war der Teufel los. Ich muß sowieso einmal die Woche in seine FortgeschrittenenKlassen rein und denen sagen, sie sollten gefälligst die Schnauze halten. Henry dagegen wirkt sanft, aber er wird mit Rowdies fertig. Er ist sehr gut in seinem Job. Das ist seine Schwierigkeit, und außerdem ist er kein Arschlecker, und das ist an der Schule dein Tod. Wenn du niemandem den Arsch leckst, kommst du nicht vorwärts.«

»Weißt du«, sagte Betty, »der Unterricht dort hat Schreckliches mit deiner Ausdrucksweise angerichtet.«

»Er hat Schreckliches mit meiner Lebensauffassung angerichtet, von meiner Ausdrucksweise ganz zu schweigen«, sagte Braintree. »Es langt, daß ein Mann zum Trinker wird.«

»Bei Henry sieht's ganz so aus. Er stank nach Gin aus dem Mund.«

»Er kommt schon drüber weg.«

Aber das tat Wilt nicht. Er wachte am Morgen mit dem Gefühl auf, irgendwas laufe verkehrt, von Eva mal ganz abgesehen. Diese verfluchte Puppe. Er lag im Bett und versuchte, darüber nachzudenken, wie er das Ding beseitigen könne, ehe die Arbeiter am Montagmorgen auf die Baustelle kamen, aber außer daß er eine Kanne Benzin in das Loch gießen und anzünden könnte, was bei näherer Überlegung der allerbeste Weg schien, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß er eine Plastikpuppe in den Kleidern seiner Frau da reingeschmissen hatte, fiel ihm nichts Brauchbares ein. Er mußte halt auf sein Glück vertrauen.

Als die Sonntagszeitung kam, stand er auf, ging runter und las sie neben seinem Müsli. Dann fütterte er den Hund und lömerte im Schlafanzug im Haus herum, ging runter in die Gaststätte »Zum Fährweg« Mittag essen, machte am Nachmittag ein Nickerchen und saß den ganzen Abend vor der Glotze. Dann machte er das Bett, legte sich hin und verbrachte eine schlaflose Nacht damit, daß er darüber brütete, wo Eva sein könne, was sie wohl gerade mache, und warum er, der so viele Stunden ergebnislos darüber nachgegrübelt hatte, wie er sie sich durch Mord vom Halse schaffen könne, jetzt auch nur im geringsten besorgt sein sollte, wo sie freiwillig gegangen war.

»Ich meine, wenn ich nicht wollte, daß das passiert, warum habe ich dann dauernd drüber nachgedacht, wie ich sie umbringen könnte«, dachte er um zwei. »Normale Menschen gehen nicht mit einem Neufundländer spazieren und hecken dabei Pläne aus, wie sie ihre Frau umbringen, wenn sie sich genauso gut auch scheiden lassen könnten.« Aber wahrscheinlich gab es irgendeinen verwickelten, psychologischen Grund dafür. Wilt konnte sich selber mehrere vorstellen, eigentlich fast zu viele, um entscheiden zu können, welcher der passendste war. Auf jeden Fall verlangte eine psychologische Erklärung einen Grad an Selbsterkenntnis, von der Wilt, der nicht mal sicher war, ob er überhaupt ein Selbst hatte, fühlte, daß sie ihm versagt war. Zehn Jahre mit den Gipsern II und dem »Ausgeliefertsein an die Unkultur« hatten ihm zumindest die Erkenntnis vermittelt, daß es eine Antwort auf jede Frage gab und es ziemlich egal war, welche Antwort man gab, solange man sie überzeugend gab. Im 14. Jahrhundert hätte man gesagt, der Teufel habe ihm solche Gedanken in den Kopf gesetzt, jetzt, in der Nach-Freudschen Zeit, mußte es ein Komplex oder, um wirklich zeitgemäß zu sein, ein chemisches Ungleichgewicht sein. In hundert Jahren würden sie mit irgendeiner völlig anderen Erklärung rausrücken. Mit dem tröstlichen Gedanken, daß die Wahrheiten des einen Zeitalters die Absurditäten eines anderen seien und daß es nicht viel ausmache, was man dächte, so lange man das Richtige täte, und seiner Meinung nach tat er das, schlief Wilt schließlich ein.

Um sieben schreckte ihn der Wecker hoch, und um halb neun hatte er schon seinen Wagen auf dem Parkplatz hinter der Schule abgestellt. Er ging an der Baustelle lang, wo die Arbeiter bereits an der Arbeit waren. Dann fuhr er ins Lehrerzimmer rauf und sah aus dem Fenster. Das Bretterviereck lag noch an seinem Platz und verdeckte das Loch, aber die Bohrmaschine hatten sie schon zurückgesetzt. Offenbar waren sie damit fertig.

Um fünf vor neun nahm er fünfundzwanzig Exemplare »Shane« aus dem Schrank und ging damit rüber zu KFZ III. »Shane« war ein ideales Schlafmittel. Es würde die Bestien ruhighalten, während er dasaß und beobachtete, was da unten vor sich ging. Der Raum 593 im Maschinenbauflügel gestattete ihm eine Aussicht wie von der Haupttribüne. Wilt machte die Eintragung ins Klassenbuch, verteilte die »Shane«-Exem-plare und sagte der Klasse, sie sollten damit weitermachen. Er sagte es sehr viel energischer, als es selbst für einen Montagmorgen üblich war, und die Klasse machte sich daran, über die traurige Lage der Siedler nachzulesen, während Wilt, von einem aktuelleren Drama in Anspruch genommen, aus dem Fenster starrte.

Ein Lastwagen mit einer Mischtrommel mit flüssigem Beton war auf der Baustelle eingetroffen und fuhr jetzt langsam rückwärts auf das Bretterviereck zu. Er hielt an und es entstand eine quälende Pause, in der der Fahrer aus dem Führerhaus kletterte und sich eine Zigarette ansteckte. Ein anderer Mann, offenbar der Polier, kam aus einer Holzbaracke und marschierte rüber zu dem Lastwagen, und binnen kurzem hatte sich eine kleine Gruppe um das Loch zusammengefunden. Wilt erhob sich von seinem Pult und ging ans Fenster. Warum verdammt nochmal machten sie nicht ein bißchen Dampf? Endlich stieg der Fahrer wieder in sein Führerhaus, und zwei Männer schoben die Bretter weg. Der Polier gab dem Fahrer ein Zeichen. Die Schüttrinne für den Beton schwenkte in ihre Position. Ein weiteres Zeichen. Die Trommel begann sich zu neigen. Der Beton kam heraus. Wilt sah, wie er langsam die Schüttrinne hinunterkroch, und genau in dem Moment sah der Polier in das Loch runter. Ein Arbeiter tat das gleiche. Im nächsten Augenblick war der Teufel los. Der Polier gestikulierte und schrie wie wahnsinnig. Vom Fenster aus sah Wilt die offenen Münder und das Armegefuchtel, aber der Beton floß weiter. Wilt schloß die Augen und erschauerte. Sie hatten diese verfluchte Bumspuppe gefunden.

Auf der Baustelle draußen knallten die Mißverständnisse aufeinander.

»Was ist los? Ich schütte so schnell, wie ich kann«, schrie der Fahrer, der die wilden Zeichen des Poliers falsch verstand. Er zog den Hebel noch weiter raus, und die Betonflut stieg. Im nächsten Moment war ihm klar, daß er irgendeinen Fehler gemacht hatte. Der Polier riß an der Führerhaustür und schrie Zeter und Mordio.

»Halt, um Gottes willen, halt«, schrie er. »Eine Frau ist in dem Loch unten!«

»Eine was?« fragte der Fahrer und stellte den Motor ab.

»Eine Frau, verdammte Scheiße, da, sieh dir an, was du verflucht nochmal gemacht hast. Ich sage dir, halt, ich sage dir, keinen Beton mehr, und du machst weiter. Du hast einfach so zwanzig Tonnen flüssigen Beton auf sie gekippt.« Der Fahrer stieg aus seinem Führerhaus und ging zu der Schütte, von der noch die letzten Zementbröckchen gemächlich in das Loch rutschten. »Eine Frau?« sagte er. »Was? Da unten? Was macht sie da?«

Der Polier starrte ihn wie besessen an. »Macht?« brüllte er, »was meinst du, was sie da macht? Was würdest du denn machen, wenn gerade zwanzig Tonnen flüssiger Beton auf dich drauf geplumpst wären? Elend ersaufen tätste.«

Der Fahrer kratzte sich am Kopf. »Ja, also, ich habe ja nicht gewußt, daß sie da unten ist. Wie sollte ich denn das wissen? Hättste mir sagen sollen.«

»Dir sagen?« kreischte der Polier. »Habe ich dir doch gesagt. Ich hab dir gesagt, du sollst aufhören. Du hast nicht zugehört.«

»Ich dachte, du wolltest, daß ich schneller schütte. Ich könnt nicht hören, was du gesagt hast.«

»Also, alle anderen Arschlöcher konnten«, zeterte der Polier.

Wilt in Raum 593 allerdings auch. Er hatte erregt aus dem Fenster gestarrt, während die Panik sich ausbreitete. Neben ihm hatte KFZ III jedes Interesse an »Shane« verloren. Sie klebten dichtgedrängt am Fenster und glotzten.

»Bist du ganz sicher?« fragte der Fahrer.

»Sicher? »'türlich bin ich sicher«, schrie der Polier. »Frag Barney.«

Der andere Arbeiter, offensichtlich Barney, nickte. »Sie war da unten, klar. Kann ich beeiden. Ganz zusammengekrumpelt war sie. Sie streckte eine Hand in die Luft hoch und ihre Beine waren ... «

»Ogottogott«, sagte der Fahrer, sichtlich erschüttert. »Zum Teufel, was machen wir denn jetzt?« - Das war die Frage, die Wilt schon die ganze Zeit quälte. Die Polizei rufen, vermutlich. Der Polier bestätigte ihm seine Ansicht.

»Die Bullen holen, 'n Krankenwagen holen. Die Feuerwehr holen und 'ne Pumpe holen. Um Gottes willen, holt 'ne Pumpe.«

»Pumpe taugt nix«, sagte der Fahrer, »du kannst den Beton da nie rauspumpen, nie im Leben. Sowieso würde's nix nützen. Sie ist doch inzwischen tot. Totgequetscht. Ersäuft doch nicht mit zwanzig Tonnen Beton drauf. Warum hat sie bloß nix gesagt?«

»Hätte das was geändert, wenn sie was gesagt hätte«, fragte der Polier heiser. »Du hättest trotzdem weitergeschüttet.«

»Also, wie ist sie da überhaupt runtergekommen?« fragte der Fahrer, um das Thema zu wechseln.

»Woher soll ich verflucht nochmal das'n wissen? Sie muß reingefallen sein ... » »Und wohl die Bretter wieder drübergezogen haben«, sagte Barney, der offenbar praktisch denken konnte. »Sie ist verdammt nochmal umgebracht worden.«

»Das wissen wir doch alle«, kreischte der Polier. »Von Chris hier. Ich habe ihm gesagt, er soll nicht mehr weiterschütten. Ihr habt's gehört. Jeder 'ne halbe Meile weit muß es gehört haben, bloß Chris nicht. Nein, er muß weitermachen . . .«

»Sie ist ermordet worden, ehe sie ins Loch geschmissen wurde«, sagte Barney. »Die Holzabdeckung war nicht dagewesen, wenn sie selber reingefallen war.«

Der Polier wischte sich das Gesicht mit einem Taschentuch und sah auf das Bretterviereck. »Das stimmt«, murmelte er. »Keiner kann sagen, wir hätten keine ordentlichen Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Du hast recht. Sie muß ermordet worden sein. O mein Gott!«

»Lustmord, höchstwahrscheinlich«, sagte Barney. »Erst vergewaltigt, dann erwürgt. Das, oder es war die Geliebte von jemand. Denkt an meine Worte. Sie war völlig zusammengekrumpelt, und diese Hand .. . Diese Hand vergeß ich nie, und wenn ich hundert werde.«

Der Polier starrte ihn kreidebleich an. Er schien außerstande mitzuteilen, was er empfand. Wilt auch. Er ging wieder an sein Pult und saß da, den Kopf in die Hände gestützt, während die Klasse zum Fenster rausgaffte und aufzuschnappen versuchte, was gesagt wurde. Wenig später heulten Sirenen in der Ferne und wurden lauter. Ein Polizeiauto kam angefahren, vier Feuerwehrwagen rasten auf den Parkplatz, ein Krankenwagen folgte. Als immer mehr uniformierte Männer sich dort versammelten, wo mal nichts als ein Loch in der Erde gewesen war, wurde klar, daß die Puppe da runterzukriegen verdammt viel einfacher gewesen war als sie wieder rauszuho-len.

»Der Beton da bindet in zwanzig Minuten ab«, erklärte der Fahrer, als zum ixten Male eine Pumpe vorgeschlagen wurde. Ein Polizeiinspektor und der Feuerwehrchef starrten auf das Loch runter.

»Sind Sie sicher, Sie haben da unten die Leiche einer Frau gesehen?« fragte der Inspektor. »Sind Sie davon überzeugt?«

»Überzeugt?« polterte der Polier, »'türlich bin ich überzeugt. Sie glauben doch nicht.. . Erzähl's ihnen Barney. Er hat sie auch gesehen.«

Und Barney erzählte dem Inspektor alles noch plastischer als vorher. »Sie hatte so Haare, ne, und ihre Hand zeigte nach oben, als wollte sie um Hilfe bitten, und dann diese Finger . . . Ich sage Ihnen, es war grauslich. Es sah nicht normal aus.«

»Nein, na, das kann's jawohl auch nicht«, sagte der Inspektor teilnahmsvoll.

»Und Sie sagen, es lag ein Brett oben auf dem Loch, als Sie heute morgen herkamen.«

Der Polier fuchtelte stumm mit den Armen, und Barney zeigte ihm die Bretter. »Ich habe auch mal drauf gestanden«, sagte er. »Hier war alles in Ordnung, so wahr mir Gott helfe.«

»Die Sache ist, wie kriegen wir sie wieder raus?« sagte der Feuerwehrchef. Das war ein Problem, das dem Leiter der Baufirma vorgetragen wurde, als er endlich erschien.

»Das weiß der Himmel«, sagte er. »Es gibt keine einfache Möglichkeit, den Beton nun wieder rauszuholen. Wir müßten Bohrer einsetzen, um zehn Meter runterzukommen.«

Eine Stunde später waren sie der Lösung des Problems noch keinen Schritt näher. Als sich KFZ III von diesem aufregenden Schauspiel losriß und zum Technischen Zeichnen ging, sammelte Wilt die »Shane«-Exemplare ungelesen wieder ein und ging total mit den Nerven fertig rüber ins Lehrerzimmer. Der einzige Trost, der ihm in den Sinn kam, war, daß sie mindestens zwei oder drei Tage brauchten, um sich nach unten zu graben und zu entdecken, daß das, was ganz so wie die Leiche einer ermordeten Frau ausgesehen hatte, in Wirklichkeit eine aufblasbare Puppe war. Oder mal gewesen war. Wilt zweifelte eigentlich daran, daß sie jetzt noch aufgeblasen sei. Dieser flüssige Beton hatte was schrecklich Hartnäckiges gehabt.