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Inspektor Flint schaltete das Bandgerät ab und sah Wilt an.
»Was na?« sagte Wilt. »Ist sie das? Ist das Mrs. Wilt?«
Wilt nickte. »Ich fürchte, ja.«
»Was soll das heißen, Sie fürchten, ja? Das verdammte Weib lebt. Sie sollten verflucht nochmal dankbar sein. Statt dessen sitzen Sie da und sagen, Sie fürchten, ja.«
Wilt seufzte. »Ich dachte grade, was für eine Kluft doch dazwischen liegt, wie wir uns an einen Menschen erinnern und ihn uns vorstellen, und wie er wirklich ist. Ich wollte gerade beginnen, mich liebevoll an sie zu erinnern, und nun ...«
»Sind Sie schon mal in Waterswick gewesen?«
Wilt schüttelte den Kopf. »Nie.«
»Kennen Sie den Pfarrer dort?«
»Hab nicht mal gewußt, daß es dort einen Pfarrer gibt.«
»Und Sie wissen auch nicht, wie sie dorthin gekommen ist?«
»Sie haben doch gehört, was sie gesagt hat«, sagte Wilt. »Sie war auf einem Boot gewesen.«
»Und Sie kennen niemanden mit einem Boot, nicht?«
»Die Leute aus meinem Bekanntenkreis haben keine Boote, Inspektor. Vielleicht haben Pringsheims eins.«
Inspektor Flint erwog diese Möglichkeit und verwarf sie. Sie hatten die Jachthäfen überprüft, aber die Pringsheims besaßen kein Boot und hatten auch keines gemietet.
Auf der anderen Seite nahm in seinem Kopf so nach und nach die Möglichkeit Gestalt an, daß er das Opfer eines gigantischen Juxes, eines bewußten und undurchsichtigen Plans geworden war, ihn als Idioten hinzustellen. Dieser teuflische Wilt hatte ihn dazu angestiftet, die Exhumierung einer aufblasbaren Puppe anzuordnen, und man hatte ihn genau in dem Augenblick fotografiert, als er ihr leichenblaß bei ihrer Geschlechtsumwandlung zusah. Er hatte eine Fahndung nach Leberpasteten in Gang gesetzt, wie sie es in der Geschichte des Landes noch nie gegeben hatte. Es würde ihn überhaupt nicht wundern, wenn Sweetbreads wegen der Schädigung ihres einstmals untadeligen Rufes einen Prozeß anstrengte. Und schließlich hatte er einen offensichtlich unschuldigen Menschen eine Woche lang zur Vernehmung festgehalten, und zweifellos würde man ihn für die Verzögerung und die zusätzlichen Kosten beim Bau des neuen Verwaltungsblocks der Berufsschule verantwortlich machen. Es gab höchstwahrscheinlich noch andere schreckliche Konsequenzen zu bedenken, aber die reichten ja erst mal, um sie zu verdauen. Und er hatte niemanden, dem er die Schuld daran geben konnte, außer sich selber. Oder Wilt. Er sah ihn boshaft an.
Wilt lächelte. »Ich weiß, was Sie gerade denken«, sagte er.
»Bestimmt nicht«, sagte der Inspektor, »Sie haben keinen blassen Schimmer.«
»Daß wir alle Sklaven der Verhältnisse sind, daß nichts so ist, wie es aussieht, daß es mehr Dinge im Himmel und auf Erden gibt, als . . .«
»Darum werden wir uns kümmern«, sagte der Inspektor.
Wilt stand auf. »Ich nehme an, Sie brauchen mich nicht mehr«, sagte er. »Ich werde mal langsam heimwärts traben.«
»Das werden Sie hübsch bleibenlassen. Sie kommen mit, Mrs. Wilt abholen.«
Sie gingen auf den Hof raus und stiegen in einen Polizeiwagen. Als sie durch die Randbezirke, an den Tankstellen und Fabriken vorbei und aus der Stadt hinaus über das ebene Land fuhren, wurde Wilt auf seinem Rücksitz immer kleiner und er spürte, wie das Freiheitsgefühl, das ihn auf dem Polizeirevier erhoben hatte, sich in Luft auflöste. Und mit jeder Meile schrumpfte es weiter, und die rauhe Wirklichkeit des Rechts des Stärkeren, der Notwendigkeit, sich den Lebensunterhalt zu verdienen, der Langeweile und der endlosen kleinkarierten Rangeleien mit Eva, der Bridgeabend mit Mottrams am Sonnabend und der Spazierfahrten mit Eva am Sonntag erhob wieder ihr Haupt. Und Inspektor Flint, der neben ihm in düsterem Schweigen brütete, verlor seine Symbolkraft. Er war nicht mehr der Kraftquell von Wilts Selbstvertrauen, der Gegenpol zu seiner Unberechenbarkeit, Flint war vielmehr zu einem Leidensgefährten im täglichen Kampf ums Dasein geworden, beinahe ein Spiegelbild von Wilts Bedeutungslosigkeit. Und da vorn, weiter auf dem Weg durch diese flache, kahle Landschaft mit ihrer schwarzen Erde und dem Himmel mit den dicken, weißen Wolken darüber, da waren Eva und ein ganzes Leben versuchter Rechtfertigungen und Gegenbeschuldigungen. Einen Moment lang überlegte Wilt, ob er nicht »Haltet den Wagen an, ich will aussteigen« schreien solle, aber dieser Moment ging vorüber. Was auch die Zukunft für ihn bereithielt, er würde lernen, damit zu leben. Er hatte das Widersprüchliche im Wesen der Freiheit nicht erfahren, nur um der Fron von Parkview Avenue, Berufsschule und Eva mit ihren banalen Ekstasen von neuem zu erliegen. Er war Wilt, der Mann mit dem Hoppepferdchengemüt.
Eva war betrunken. Hochwürden St. John Froudes unwillkürliche Reaktion auf ihre gräßliche Beichte war gewesen, vom Whisky auf den hundertfünzigprozentigen polnischen Fusel umzusteigen, den er für besondere Notfälle aufgehoben hatte, und Eva, die einmal von heftiger Reue geplagt wurde, um gleich darauf wieder die sagenhaftesten Sünden aus sich herauszusprudeln, hatte sich mit dem Zeug die Nase begossen. Angeregt durch dessen Wirkung, durch die versteinerte Nächstenliebe im Lächeln des Pfarrers und die wachsende Überzeugung, daß, falls sie tot sei, das ewige Leben eine sichtlich totale Zerknirschung verlange, wogegen, falls sie's nicht sei, es ihr die Peinlichkeit erspare, erklären zu müssen, was sie eigentlich nackt im Haus von jemand Fremdem täte, beichtete Eva ihre Sünden mit einer Inbrunst, die ihren tiefsten Bedürfnissen entsprach. Genau das hatte sie im Judo, im Töpfern und im orientalischen Tempeltanz gesucht, diese hemmungslose Sühne ihrer Schuld. Sie beichtete Sünden, die sie begangen hatte, und Sünden, die sie nicht begangen hatte, Sünden, die ihr in den Sinn kamen, und Sünden, die sie vergessen hatte. Sie habe Henry betrogen, sie habe gewollt, er sei tot, ihr habe der Sinn nach anderen Männern gestanden, sie sei eine Ehebrecherin, sie sei eine Lesbierin, sie sei eine Nymphomanin. Und diese Fleischessünden waren mit Unterlassungssünden vermischt. Eva ließ nichts aus. Henrys kalte Abendessen, seine einsamen Spaziergänge mit dem Hund, ihr Undank für alles, was er für sie getan hatte, ihr Versagen, ihm eine gute Ehefrau zu sein, ihr Komplex mit dem Harpic... alles strömte aus ihr heraus. Hochwürden St. John Froude saß in seinem Sessel und nickte unaufhörlich wie ein Spielzeughund im Autorückfenster, er hob den Kopf und starrte sie an, als sie bekannte, eine Nymphomanin zu sein, und senkte ihn augenblicklich bei der Erwähnung von Harpic, und die ganze Zeit versuchte er verzweifelt dahinterzukommen, was ihm eine fette, nackte - das Leichentuch fiel ihr dauernd runter -Dame, nein, entschieden keine Dame: Frau mit allen Merkmalen religiösen Irreseins ins Haus gebracht hatte.
»Ist das alles, mein Kind?« murmelte er, als Eva ihr Repertoire endlich erschöpft hatte.
»Ja, Vater«, schluchzte Eva.
»Gottseidank«, sagte Hochwürden St. John Froude aus tiefster Seele und fragte sich, was er als nächstes tun solle. Wenn die Hälfte dessen, was er gehört hatte, der Wahrheit entsprach, dann hatte er eine derart lasterhafte Sünderin vor sich, daß der Ex-Erzdiakon von Ongar daneben zu einem strahlenden Heiligen wurde. Andererseits gab es in ihren Sünden Ungereimtheiten, die ihm Bedenken machten, ihr die Absolution zu erteilen. Eine Beichte voller Lügen war kein Zeichen echter Reue.
»Ich entnehme all dem, daß Sie verheiratet sind«, sagte er zweifelnd, »und daß Henry Ihr gesetzlich angetrauter Gatte ist?«
»Ja«, sagte Eva. »Ach, der liebe Henry.«
Der arme Kerl, dachte der Pfarrer, aber er war zu taktvoll, das laut zu sagen. »Und Sie haben ihn verlassen?«
»Ja.«
»Wegen eines anderen Mannes?«
Eva schüttelte den Kopf. »Um ihm eine Lehre zu erteilen«, sagte sie, plötzlich wieder aufgebracht.
»Eine Lehre?« sagte der Pfarrer und versuchte sich verzweifelt vorzustellen, was für eine Lehre der arme Mr. Wilt wohl aus ihrer Abwesenheit gezogen hatte. »Sie sagten doch, »eine Lehre«?«
»Ja«, sagte Eva, »ich wollte ihm beweisen, daß er ohne mich nicht zurechtkäme.«
Hochwürden St. John Froude nippte nachdenklich an seinem Drink.
Wenn auch nur einem Viertel ihrer Beichte zu glauben war, dann mußte es ihr Mann ohne sie einfach phantastisch finden. »Und jetzt wollen Sie zu ihm zurück?«
»Ja«, sagte Eva.
»Aber er will Sie nicht?«
»Er kann nicht. Die Polizei hat ihn verhaftet.«
»Die Polizei?« sagte der Pfarrer. »Und darf man fragen, warum ihn die Polizei verhaftet hat?«
»Sie sagen, er hat mich ermordet«, sagte Eva.
Hochwürden St. John Froude musterte sie wieder voller Panik. Jetzt war ihm klar, daß Mrs. Wilt nicht ganz richtig im Oberstübchen war. Er sah sich nach etwas um, was er notfalls als Waffe benutzen konnte, und weil er nichts besseres fand als eine gipserne Dantebüste und die Flasche mit dem polnischen Fusel, ergriff er diese am Hals. Eva reichte ihm ihr Glas hin.
»Oh, Sie sind schrecklich«, sagte sie, »Sie machen mich beschwipst.«
»Ganz recht«, sagte der Pfarrer und stellte die Flasche schnell wieder hin. Allein mit einer gewaltigen, betrunkenen, halbnackten Frau zu sein, die sich einbildete, ihr Mann habe sie ermordet, und die ihm Sünden gestand, von denen er bisher nur gelesen hatte, war schon schlimm genug, ohne daß sie zu dem übereilten Schluß kam, er versuche, sie absichtlich betrunken zu machen. Hochwürden St. John Froude hatte keine Lust, in den »News of the World« vom nächsten Sonntag an prominenter Stelle zu erscheinen.
»Sie sagten gerade, Ihr Mann habe Sie ermordet... « Er brach ab. Dieses Thema erschien ihm doch zu ungeeignet, um es weiter zu verfolgen.
»Wie sollte er mich ermordet haben?« fragte Eva, »ich bin doch leibhaftig hier, oder?«
»Ohne Frage«, sagte der Pfarrer, »ganz ohne Frage.«
»Na also«, sagte Eva. »Und außerdem könnte Henry sowieso niemanden umbringen. Er wüßte gar nicht, wie. Er kann nicht mal eine Sicherung auswechseln. Diese Sachen muß ich alle im Hause machen.« Sie faßte den Pfarrer lauernd ins Auge. »Sind Sie verheiratet?«
»Nein«, sagte Hochwürden St. John Froude und machte in Gedanken drei Kreuze.
»Was wissen Sie schon vom Leben, wenn Sie nicht verheiratet sind?« fragte Eva bissig. Der polnische Fusel fing jetzt an, bei ihr zu wirken, und das machte sie schrecklich bitter. »Ach, die Männer! Wozu sind Männer denn nütze? Sie können nicht mal ein Haus in Ordnung halten. Gucken Sie sich dies Zimmer hier an. Na, ich bitte Sie.« Sie ruderte mit den Armen herum, um ihre Worte zu unterstreichen, wobei ihr die Staubhülle herunterfiel. »Gucken Sie sich das bloß an.« Aber Hochwürden St. John Froude hatte keine Augen für das Zimmer. Was er von Eva sah, reichte aus, ihn davon zu überzeugen, daß sein Leben in Gefahr sei. Er sprang aus dem Sessel, trat mit voller Wucht gegen ein Beistelltischchen, schmiß den Papierkorb um und flitzte durch die Tür hinaus auf die Diele. Als er schutzsuchend davontaperte, klingelte es an der Haustür. Hochwürden St. John Froude öffnete und starrte Inspektor Flint ins Gesicht.
»Gottseidank, daß Sie gekommen sind«, keuchte er, »sie ist da drin.«
Der Inspektor und zwei uniformierte Polizisten gingen durch die Diele. Wilt folgte ängstlich. Das war der Augenblick, den er gefürchtet hatte. Aber letztlich ging es besser als erwartet. Nicht jedoch für Inspektor Flint. Er ging in das Arbeitszimmer und sah eine kolossale nackte Frau vor sich.
»Mrs. Wilt. ..«, fing er an, aber Eva starrte entsetzt auf die beiden uniformierten Polizisten.
»Wo ist mein Henry ?« schrie sie. »Sie haben meinen Henry verhaftet.« Sie stürzte auf sie zu. Unvernünftigerweise versuchte der Inspektor, sie zurückzuhalten.
»Mrs. Wilt, wenn Sie doch bloß . . .« Ein Schlag auf seinen Kopf machte dem Satz ein Ende.
»Hände weg«, kreischte Eva und schleuderte ihn unter nutzbringender Anwendung ihrer Judokenntnisse zu Boden. Sie wollte diese Darbietung soeben mit den beiden Polizisten wiederholen, als Wilt sich nach vorne drängelte.
»Hier bin ich, Liebling«, sagte er. Eva ließ auf der Stelle von ihnen ab. Einen Augenblick erzitterte sie, und aus Inspektor Flints Blickwinkel sah es so aus, als wolle sie zerschmelzen. »O Henry«, sagte sie, »was haben sie dir angetan?«
»Überhaupt nichts, Liebling«, sagte Wilt. »Zieh dich jetzt an, wir fahren heim.« Eva sah an sich herunter, erschauerte und ließ sich von ihm aus dem Zimmer führen.
Langsam und erschöpft kam Inspektor Flint wieder auf die Beine. Jetzt war ihm klar, warum Wilt diese verfluchte Puppe in das Loch geschmissen und Tage und Nächte das Verhör so selbstsicher hatte über sich ergehen lassen. Nach zwölf Jahren Ehe mit Eva Wilt war das Verlangen zu morden, und wenn auch nur zur Probe, sicher überwältigend. Und was Wilts Fähigkeit anging, Kreuzverhöre durchzustehen ... es war einleuchtend. Aber der Inspektor wußte auch, daß er niemals imstande wäre, das jemand anderem zu erklären. Es gab Rätsel in menschlichen Beziehungen, die jedem Lösungsversuch trotzten. Und Wilt hatte ganz ruhig dagestanden und zu ihr gesagt, sie solle sich anziehen. Mit einem unfreiwilligen Gefühl der Bewunderung ging Flint in die Diele hinaus. Der kleine Kerl hatte Mumm, egal, was man sonst von ihm sagen konnte.
Sie fuhren schweigend zur Parkview Avenue zurück. Auf dem Rücksitz schlief Eva, in eine Decke gehüllt, ihr Kopf lehnte friedlich an Wilts Schulter. Stolz saß Henry Will neben ihr. Eine Frau, die Inspektor Flint mit einem einzigen raschen Schlag auf den Kopf zum Schweigen bringen konnte, war ihr Gewicht in Gold wert, und außerdem hatte ihm der Auftritt im Arbeitszimmer die Waffe in die Hand geliefert, die er brauchte. Nackt und betrunken im Arbeitszimmer eines Pfarrers . .. Nun gäbe es keine Fragen darüber, warum er die Puppe in das Loch geworfen habe. Keine Beschuldigungen, keine Gegenbeschuldigungen. Die ganze Angelegenheit werde man total aus dem Gedächtnis streichen. Und damit verschwänden auch alle Zweifel an seiner Männlichkeit oder seiner Fähigkeit, in der Welt seinen Mann zu stehen. Die Partie stand remis. Einen Moment lang wurde Wilt beinahe sentimental und dachte an Liebe, ehe er sich in Erinnerung rief, was das doch für ein gefährliches Thema sei. Er wäre besser dran, wenn er es bei wohlwollender Neutralität und versteckter Zuneigung beließe. »Bloß keine schlafenden Hunde wek-ken«, murmelte er.
Diese Meinung wurde auch von Pringsheims geteilt. Als man ihnen von der Jacht auf eine Polizeibarkasse geholfen hatte, als sie an Land kletterten, als sie einem mißtrauischen Inspektor Flint erklärten, wie es dazu gekommen war, daß sie eine Woche lang von Gott und den Menschen verlassen im Aalfleet auf einem Boot zugebracht hatten, das jemand anderem gehörte, da hatten sie sich merkwürdig reserviert gezeigt. Nein, sie wüßten nicht, wie die Badezimmertür eingeschlagen worden sei. Tja, mag sein, es habe einen Unfall gegeben. Sie seien zu betrunken gewesen, um sich daran zu erinnern. Eine Puppe? Was für eine Puppe? Gras? Sie meinen Marihuana? Sie hätten keine Ahnung. In ihrem Haus?
Inspektor Flint ließ sie schließlich laufen. »Wir sehen uns wieder, wenn die Anklagepunkte genau formuliert sind«, sagte er fuchsig. Die Pringsheims fuhren zum Rossiter Grove und packten. Am nächsten Morgen flogen sie von Heathrow ab.