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Was schrecklich Hartnäckiges hatte auch die Sandbank an sich, auf die das Kajütboot aufgelaufen war. Zu allem Unglück war auch noch der Motor kaputtgegangen. Gaskell sagte, es sei die Kupplung.

»Ist das was Ernstes?« fragte Sally.

»Das heißt lediglich, wir müssen uns zu einem Bootshafen schleppen lassen.«

»Von wem?«

»Von einer vorbeifahrenden Jacht, schätze ich«, sagte Gaskell.

Sally sah über die Reling auf die Schilfkolben.

»Vorbeifahrende Jacht?« sagte sie. »Wir sind schon die ganze Nacht und den halben Vormittag hier, aber bis jetzt ist niemand vorbeigekommen, und wenn, könnten wir sie vor lauter Scheiß Schilfkolben nicht sehen.«

»Ich dachte, du hättest für Schilfkolben was übrig.«

»Das war gestern«, schnappte Sally zurück, »heute bedeuten sie bloß, daß wir für niemanden zu sehen sind, der mehr als zehn Meter von uns weg ist. Und jetzt hast du auch noch den Motor kleingekriegt. Ich habe dir ja gesagt, daß du ihn nicht so hochdrehen sollst.«

' »Also, wie sollte ich denn wissen, daß das 'ne Kupplung kaputtmachen würde«, sagte Gaskell. »Ich habe doch bloß versucht, uns von dieser Sandbank runterzukriegen. Das mußt du mir mal erzählen, wie ich das wohl machen soll, ohne den verfluchten Motor hochzudrehen.«

»Du könntest aussteigen und schieben.«

Gaskell guckte vorsichtig über die Reling. »Ich könnte aussteigen und ertrinken«, sagte er.

»Dann wäre das Boot leichter«, sagte Sally. »Wir müssen alle unsere Opfer bringen, und du hast gesagt, die Flut würde uns wieder flott machen.«

»Ich habe mich eben geirrt. Das ist Süßwasser da unten, und das heißt, daß die Flut nicht bis hierher kommt.«

»Das erzählt der mir jetzt. Erst sind wir im Froschteich ... «

»Wasser«, sagte Gaskell.

»Froschwasser, ist ja auch egal. Dann sind wir in der Moorbreite. Wo sind wir denn nun wirklich, Herr im Himmel?«

»Auf einer Sandbank«, sagte Gaskell.

In der Kajüte hantierte Eva herum. Es war nicht viel Platz zum Herumhantieren da, aber sie machte das beste daraus. Sie räumte die Kojen auf, legte das Bettzeug in die Kästen darunter, schüttelte die Kissen auf und leerte die Aschenbecher. Sie fegte den Boden, polierte den Tisch, putzte die Fenster, wischte die Regale staub und machte überhaupt alles so nett und ordentlich wie nur möglich. Und ihre Gedanken wurden in der Zeit immer ungeordneter und konfuser, so daß, als sie fertig war und jeder Gegenstand in Reichweite an Ort und Stelle stand und die ganze Kajüte gründlich aufgeräumt war, sie gründlich durcheinander und sich über fast alles im unklaren war.

Pringsheims waren wirklich so kultiviert und reich und klug und sagten die ganze Zeit gescheite Sachen, aber sie zankten sich dauernd und gerieten sich auch wegen jeder Kleinigkeit in die Haare, und um ehrlich zu sein, sie waren ziemlich unpraktisch und kannten nicht mal die primitivsten Grundsätze der Hygiene. Gaskell ging aufs Klo und wusch sich hinterher nicht die Hände, und der Himmel wußte, wann er sich das letzte Mal rasiert hatte. Und wie sie das Haus im Rossiter Grove verlassen hatten, ohne nach der Party sauberzumachen, und das ganze Wohnzimmer voller Tassen und Zeugs. Eva war ganz schön entsetzt gewesen. In so einem Durcheinander hätte sie ihr Haus nie zurückgelassen. Genau das hatte sie Sally gesagt, aber Sally hatte gemeint, wie unspontan sie doch sei, und sie hätten das Haus ja sowieso nur für diesen Sommer gemietet, und es sei typisch für ein mannorientiertes Gesellschaftssystem zu erwarten, eine Frau ginge ein Vertragsverhältnis als Haussklavin ein. Eva versuchte, ihren Gedanken zu folgen und fühlte sich schuldig, weil sie's nicht konnte und weil es offenbar unter aller Würde war, häuslich und fleißig zu sein, und sie war's.

Und dann war da noch, was Henry mit dieser Puppe gemacht hatte. Es sah Henry so gar nicht ähnlich, sowas zu machen, und je länger sie darüber nachdachte, desto weniger ähnlich sah es ihm. Er mußte betrunken gewesen sein, aber auch dann ... und ganz nackt? Und wo hatte er die Puppe her? Sie hatte Sally gefragt und mit Entsetzen erfahren, Gaskell fahre total auf Plastik ab und schwärme einfach dafür, mit Judy kleine Spielchen zu machen, und Männer seien nun mal so, und deshalb seien die einzigen Beziehungen von Bedeutung die zwischen Frauen, denn Frauen hätten es nicht nötig, ihre Männlichkeit durch irgendeinen offenen Akt haltlos sexueller Gewalttätigkeit zu beweisen, nicht wahr? Aber da hatte sich Eva schon wieder in einem Labyrinth aus Worten verheddert, die sie nicht begriff, die aber wichtig klangen, und sie hatten eine weitere Tast-Therapie-Sitzung abgehalten.

Und das war nun auch wieder so was, worüber sie sich nicht im Klaren war. Tast-Therapie. Sally hatte gesagt, sie sei noch immer gehemmt, und gehemmt zu sein sei ein Zeichen von gefühls- und empfindungsmäßiger Unreife. Eva schlug sich mit ihren gemischten Gefühlen in dieser Sache herum. Einerseits wollte sie nicht gefühls- und empfindungsmäßig unreif sein, und wenn ihre Abneigung dagegen, nackt in den Armen einer Frau zu liegen, sich geben könne, und nach Evas Meinung schlug eine Medizin desto besser an, je widerlicher sie schmeckte, dann war sie ganz sicher dabei, ihr psycho-se-xuelles Verhaltensmuster in Riesensprüngen zu verbessern.

Andererseits war sie überhaupt nicht überzeugt davon, daß die Tast-Therapie wirklich angenehm sei. Nur mit einer bemerkenswerten Willensanstrengung konnte sie ihre Abneigung dagegen überwinden, und selbst dann blieben noch unterschwellig Zweifel, ob's richtig sei, sich so sinnlich berühren zu lassen. Das war alles sehr verwirrend, und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, nahm sie nun auch noch die Pille. Eva hatte sehr heftig protestiert und betont, Henry und sie hätten immer schon ein Baby haben wollen und nie eins bekommen, aber Sally hatte unbedingt darauf bestanden.

»Eva-Baby«, hatte sie gesagt, »bei Gaskell weiß man nie. Manchmal kriegt er monatelang kein krummes Fädchen gerade und dann, peng, ist er plötzlich der Platzhirsch persönlich. Dann ist er überhaupt nicht wählerisch.«

»Aber ich meine, du hättest gesagt, es liefe so toll zwischen euch«, sagte Eva.

»Na ja, sicher. Alle Jubeljahre mal. Wissenschaftler subli-mieren halt und G lebt nur für seinen Kunststoff. Und wir möchten doch nicht, daß du mit Gs Genen im Uterus zu Henry zurückgehst, na, möchten wir das etwa?«

»Bestimmt nicht«, sagte Eva, die dieser Gedanke entsetzte, und sie hatte nach dem Frühstück die Pille genommen, bevor sie in die winzige Kombüse rüber ging, um abzuwaschen. Es war alles so anders als Transzendentale Meditation und Töpfern.

An Deck zankten Sally und Gaskell sich noch immer.

»Zum Teufel, was gibst du eigentlich deinem hirnlosen Busen-Baby?« fragte Gaskell.

»TT, Körperberührung, Fummelemanzipation«, sagte Sally, »sie ist erotisch unterentwickelt.«

»Geistig aber auch. Mir sind ja schon ein paar Schafsköpfe in meinem Leben begegnet, aber sie ist mit am beschränktesten. Aber egal, ich meinte diese Pillen, die sie zum Frühstück nimmt.«

Sally lächelte. »Ach die«, sagte sie.

»Ja, die. Willst du ihr das kleine bißchen Verstand auch noch aus dem Kopf pusten, oder was?« sagte Gaskell. »Wir haben schon genug Schwierigkeiten, ohne daß Moby Dick 'n Trip einwirft.«

»Orale Empfängnisverhütung, Baby, schlicht die gute alte Pille.«

»Orale Empfängnisverhütung? Wofür bloß, zum Teufel? Ich würde sie nicht mal mit einem sterilisierten Kochlöffel anfassen.«

»Gaskell, Herzchen, du bist so naiv. Wegen der Echtheit, bloß wegen der Echtheit. Es macht meine Beziehung zu ihr so viel realistischer, überleg doch mal. Als zöge man einen Gummi über einen Dildo.«

Gaskell starrte sie an. »Großer Gott, das heißt doch nicht etwa, du hättest... «

»Noch nicht. Johnny Banana ruht noch still in seinem Täschchen, aber demnächst, wenn sie ein bißchen emanzipierter ist . ..« Sie lächelte schmachtend in Richtung Schilf kolben. »Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, daß wir hier festsitzen. Dadurch haben wir Zeit, so viel wundervolle Zeit, und du kannst dir deine Enten begucken . . .«

»Graugänse«, sagte Gaskell, »und beim Jachtverleih läuft für uns inzwischen 'ne Mords-Rechnung auf, wenn wir das Boot nicht mit der Zeit zurückbringen.«

»Rechnung?« sagte Sally. »Du bist wohl verrückt. Du meinst doch nicht etwa, daß wir für diesen Kartoffelkahn was bezahlen?«

»Aber du hast ihn doch im Jachthafen gemietet. Ich meine, du willst mir doch nicht etwa erzählen, du hast das Boot einfach genommen«, sagte Gaskell. »Um Himmels willen, das ist Diebstahl!«

- Sally lachte. »Ehrlich, G, was bist du moralisch. Ich finde, du bist inkonsequent. Aus der Bibliothek klaust du Bücher und aus dem Labor Chemikalien, aber wenn's um Boote geht, kriegst du Anfälle.«

»Bücher sind was anderes«, sagte Gaskell erregt.

»Ja«, sagte Sally, »wegen Büchern wird man nicht eingelocht. Das ist der ganze Unterschied. Wenn du also unbedingt glauben möchtest, ich habe das Boot geklaut, dann glaub's ruhig weiter.«

Gaskell nahm ein Taschentuch und putzte seine Brille. »Willst du mir erzählen, du hast es nicht geklaut?« fragte er schließlich.

»Ich hab's geliehen.«

»Geliehen? Von wem?«

»Schei.«

»Scheimacher?«

»Genau. Er hat gesagt, wir könnten es immer haben, wenn wir wollten, na, und nun haben wir es.«

»Weiß er das?«

Sally seufzte. »Guck mal, er ist doch in Indien, nicht wahr, und macht Curry-Sperma. Was tut's also, ob er's weiß oder nicht. Bis er zurückkommt, sind wir längst im großen Land der Freiheit.«

»Scheiße«, sagte Gaskell angeödet, »irgendwann bringst du uns bestimmt noch mal bis übern Hals in den Dreck.«

»Gaskell-Herzchen, manchmal langweilst du mich irrsinnig mit deiner Nervosität.«

»Ich will dir mal was sagen. Du machst mich nervös mit deiner gottverdammten Einstellung zu anderer Leute Eigentum.«

»Eigentum ist Diebstahl.«

»Na klar, bring das mal den Bullen bei, wenn sie dich am Wickel haben. In diesem Land sind die Polypen von Diebstahl nicht begeistert.«

Die Polypen waren auch über die wohlgenährte Frau nicht sehr begeistert, die offenbar ermordet und unter zehn Metern und zwanzig Tonnen rasch abbindendem Beton begraben worden war. Barney hatte noch das »wohlgenährt« hinzugefügt. »Sie hatte auch große Brüste«, erklärte er bei der siebenten Version dessen, was er gesehen hatte. »Und die Hand nach oben gestreckt...« »Ja, also, über die Hand wissen wir nun alles«, sagte Inspektor Flint. »Das haben wir alles schon mal gehört, aber jetzt erwähnen Sie zum ersten Mal Brüste.«

»Die Hand hat mich einfach geschafft«, sagte Barney. »Ich meine, man denkt ja nicht an Brüste in so einer Situation.«

Der Inspektor drehte sich zum Polier um. »Haben Sie die Brüste der Toten bemerkt?« erkundigte er sich. Aber der Polier schüttelte nur den Kopf. Es hatte ihm die Sprache verschlagen.

»Wir haben also eine wohlgenährte Frau . .. Wie alt, würden Sie sagen?«

Barney kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Nicht alt«, sagte er schließlich, »bestimmt nicht alt.«

»In den Zwanzigern?«

»Könnte sein.«

»In den Dreißigern?«

Barney zuckte die Achseln. Da war was, was er sich ins Gedächtnis zurückrufen wollte. Etwas, was ihm vorhin komisch vorgekommen war.

»Aber bestimmt nicht in den Vierzigern?«

»Nein«, sagte Barney. »Jünger.« Er sagte es ziemlich zögernd.

»Sie sind nicht sehr präzise«, sagte Inspektor Flint.

»Ich kann's nicht ändern«, sagte Barney kläglich. »Man sieht eine Frau in einem mistigen tiefen Loch unten, und Beton patscht auf sie runter, da fragt man sie nicht nach ihrem Alter.«

»Ganz recht. Das ist mir klar, aber wenn Sie sich einfach mal besinnen könnten. Hatte sie irgend was Besonderes an sich. . .«

-»Besonderes? Na ja, da war diese Hand, nich ... «

Inspektor Flint seufzte. »Ich meine irgend etwas Ungewöhnliches an ihrem Äußeren. Ihre Haare zum Beispiel. Welche Farbe hatten sie?«

Barney hatte es. »Ich wußte doch, daß irgendwas war«, sagte er triumphierend. »Ihre Haare. Die waren ganz schief.«

»Nun, das ist wohl klar, nicht wahr? Man wirft eine Frau nicht in ein zehn Meter tiefes Bohrloch, ohne ihr Haar dabei durcheinanderzubringen.«

»Nein, so sah's nicht aus. Es hing auf der Seite und war plattgedrückt. Als war sie geschlagen worden.«

»Wahrscheinlich ist sie geschlagen worden. Wenn das stimmt, daß die Holzabdeckung an ihrem Platz war, wie Sie sagen, dann ist sie nicht aus eigenem Entschluß da runtergegangen. Aber Sie können immer noch keine genaue Angabe über ihr Alter machen?«

»Tja«, sagte Barney, »an manchen Stellen sah sie jung aus und an manchen nicht. Das ist alles, was ich weiß.«

»An welchen Stellen ?« fragte der Inspektor und hoffte zum Himmel, Barney finge nicht wieder von dieser Hand an.

»Tja, ihre Beine paßten nicht richtig zu ihren Titten, wenn sie verstehen, was ich meine.« Inspektor Flint verstand nicht. »Sie waren ganz dünn und wie zusammengekrumpelt.«

»Was denn? Ihre Beine oder ihre Titten?«

»Ihre Beine natürlich«, sagte Barney. »Ich habe Ihnen doch gesagt, sie hatte so herrliche große . . .«

»Wir behandeln das als Mordfall«, sagte Inspektor Flint zehn Minuten später zum Direktor. Der Direktor saß hinter seinem Schreibtisch und dachte verzweifelt über die ungünstige Wirkung in der Öffentlichkeit nach.

»Sie sind absolut überzeugt, daß es kein Unfall war?«

»Die feststellbaren Anzeichen lassen bestimmt auf keinen Unfalltod schließen«, sagte der Inspektor, »aber wir werden in diesem Punkt erst absolut sicher sein, wenn es uns gelingt, an die Leiche heranzukommen, und das wird, fürchte ich, einige Zeit dauern.«

»Zeit?« sagte der Direktor. »Wollen Sie damit sagen, Sie können sie nicht heute morgen herausholen?«

Inspektor Flint schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen, Sir«, sagte er. »Wir fassen zwei Möglichkeiten ins Auge, an die Leiche heranzukommen, und für beide brauchen wir mehrere Tage. Die eine ist, uns durch den Beton zu ihr durchzubohren, und die andere, ein zweites Loch neben dem ursprünglichen zu bohren, und von der Seite an sie heranzukommen.«

»Großer Gott«, sagte der Direktor und sah auf seinen Kalender, »aber das heißt ja, daß Sie dort draußen mehrere Tage ununterbrochen zu graben haben.«

»Ich fürchte, das ist nicht zu ändern. Wer sie auch dort hinuntergetan hat, er hat ordentliche Arbeit geleistet. Wir werden trotzdem versuchen, so diskret wie möglich vorzugehen.«

Durchs Fenster konnte der Direktor vier Polizeiautos, einen Feuerwehrwagen und einen großen blauen Lieferwagen sehen, »Das ist ja wirklich äußerst bedauernswert«, murmelte er.

»Das ist Mord immer«, sagte der Inspektor und erhob sich. »Das liegt in der Natur der Sache. Inzwischen riegeln wir die Baustelle ab und wären Ihnen dankbar für Ihre Mitarbeit.«

»Selbstverständlich gern«, sagte der Direktor und seufzte.

Im Lehrerzimmer rief die Anwesenheit so vieler Uniformierter, die in ein Bohrloch guckten, unterschiedliche Reaktionen hervor. Dasselbe tat das Dutzend Polizisten, die die Baustelle absuchten und hin und wieder stehenblieben, um irgendwas vorsichtig in Umschläge zu stecken. Erst die Ankunft des dunkelblauen Lieferwagens entschied die Angelegenheit.

»Das ist eine motorisierte Mordzentrale«, erklärte Peter Fenwick. »Offenbar hat irgendein Irrer eine Frau in einem der Bohrlöcher verbuddelt.«

Die Neue Linke, die sich in einer Ecke versammelt hatte und darüber diskutierte, warum wohl so eine Menge paramilitärische Faschistenschweine mit der Sache zu tun habe, stieß einen Seufzer erleichterten Bedauerns aus, äußerte aber weiterhin Zweifel.

»Nein, im Ernst«, sagte Fenwick, »ich habe einen von ihnen gefragt, was sie da täten. Ich dachte, es wäre irgendwo 'ne Bombenalarmübung.«

Dr. Cox, der Leiter der Naturwissenschaften, bestätigte das. Sein Dienstzimmer ging direkt auf das Loch. »Es ist zu schrecklich, um darüber nachzudenken«, murmelte er, »immer, wenn ich aufsehe, denke ich, wie sie wohl hat leiden müssen.«

»Was meinen Sie, was sie in diese Umschläge stecken?« fragte Dr. Mayfield.

»Beweisstücke«, sagte Dr. Board mit sichtlicher Genugtuung. »Haare, Hautfetzen und Blutflecke. Der übliche triviale Bodensatz des Gewaltverbrechens.«

Dr. Cox eilte aus dem Zimmer, und Dr. Mayfield sah angewidert drein. »Wie ekelhaft«, sagte er, »ist es nicht möglich, daß da ein Irrtum vorliegt? Ich meine, warum sollte jemand hier eine Frau ermorden wollen?«

Dr. Board nippte an seinem Kaffee und sah ihn nachdenklich an. »Ich kann mir jede Menge Gründe vorstellen«, sagte er heiter. »In meinem Abendkurs sind mindestens ein Dutzend Frauen, die ich freudigen Herzens totschlagen und in Löcher schmeißen würde. Sylvia Swansbeck zum Beispiel.«

»Wer es auch war, er muß gewußt haben, daß sie heute den Beton reinschütten«, sagte Fenwick. »Mir sieht's so aus, als hätt's mit der Schule zu tun.«

»Einer unserer Schüler mit wenig Gemeinschaftssinn vielleicht«, schlug Dr. Board vor, »ich nehme an, man hatte noch keine Zeit nachzuprüfen, ob von den Kollegen jemand vermißt wird.«

»Wahrscheinlich stellt sich heraus, daß es nichts mit der Schule zu tun hat«, sagte Dr. Mayfield. »Irgendein Irrer...«

»Immer langsam, Sie müssen die Tatsachen sehen«, unterbrach Dr. Board, »es war doch offenbar ein bißchen Berechnung mit dabei. Wer auch immer der Mörder war ... ist, er hat das ziemlich sorgfältig geplant. Was mich stutzig macht, ist, warum er auf die arme Frau nicht Erde geschaufelt hat, so daß sie nicht mehr zu sehen war. Möglicherweise hatte er es vor, wurde aber gestört, ehe er es ausführen konnte. Einer jener kleinen verhängnisvollen Zufälle.«

In der Ecke des Lehrerzimmers saß Wilt und trank seinen Kaffee im Bewußtsein, daß er als Einziger nicht aus dem Fenster sah. Verdammt nochmal, was sollte er tun ? Das Vernünftigste wäre, zur Polizei zu gehen und zu erklären, er habe versucht, eine aufblasbare Puppe loszuwerden, die er von jemandem bekommen habe. Aber würde man ihm glauben? Wenn's nichts weiter war als das, warum hatte er sie mit Perücke und Kleidern ausstaffiert? Und warum hatte er sie aufgeblasen gelassen? Warum hatte er das Ding nicht einfach weggeworfen? Er wiederholte sich gerade die Pros und Kontras dieser Fragen, als der Leiter der Maschinenbauabteilung reinkam und verkündete, die Polizei wolle ein neues Loch neben dem alten bohren, statt sich durch den Beton zu graben.

»Möglicherweise können sie da ein paar Stückchen von ihr sehen, die zur Seite rausragen«, erklärte er. »Offenbar hatte sie einen Arm in die Luft gestreckt, und mit dem vielen Beton, der auf sie draufgefallen ist, besteht die Möglichkeit, daß dieser Arm an die Seite gepreßt worden ist. So geht's viel schneller voran.«

»Ich sehe keinen Grund zur Eile«, sagte Dr. Board, »ich könnte mir vorstellen, daß sie recht gut erhalten ist in dem ganzen Beton. Mumifiziert, würde ich sagen.«

Wilt in seiner Ecke bezweifelte das ziemlich. Mit zwanzig Tonnen Beton auf dem Ast hatte wohl selbst Judy, die eine außerordentlich biegsame Puppe gewesen war, dem Druck kaum widerstehen können. Sie war geplatzt, so sicher wie das Amen in der Kirche, und somit fände die Polizei nichts weiter als den leeren Plastikarm einer aufblasbaren Puppe. Sie würden sich kaum die Mühe machen, eine geplatzte Plastikpuppe auszugraben.

»Und noch eins«, fuhr der Maschinenbauleiter fort, »falls der Arm herausragt, kann man Fingerabdrücke abnehmen.«

Wilt lächelte in sich hinein. Das war nun was, was sie bei Judy bestimmt nicht fänden, Fingerabdrücke! Fröhlicher gestimmt trank er seinen Kaffee aus und ging zu einer Klasse Höherer Sekretärinnen. Sie hummelten schon nach Neuigkeiten vom Mord.

»Meinen Sie, es war ein Sexualmord?« fragte ein schmales blondes Mädchen in der ersten Reihe, als Wilt die Exemplare von »England heute« austeilte. Er hatte schon immer festgestellt, daß das Kapitel »Der Wandel der Jugend« bei Höheren Sekretärinnen gut ankam. Es handelte von Sex und Gewalt und war schon seit zwölf Jahren ein alter Hut, aber das waren die Sekretärinnen auch. Heute war das Buch nicht nötig.

»Ich glaube, es ist überhaupt niemand umgebracht worden«, sagte Wilt und setzte sich hinter sein Pult.

»Aber ja doch. Sie haben doch 'ne Frauenleiche da unten gesehen«, beharrte die schmale Blonde.

»Sie denken, sie hätten da unten was gesehen, das wie eine Leiche aussah«, sagte Wilt, »das heißt doch nicht, daß es eine war. Die Einbildung spielt den Leuten manchmal Streiche.«

»Die Polizei denkt das aber nicht«, sagte ein hochgewachsenes Mädchen, dessen Vater irgendwas im Rathaus war. »Sie müssen sicher sein, wenn sie sich so viel Mühe machen. Wir hatten einen Mord auf unserem Golfplatz, und alles was sie fanden, waren abgeschnittene Leichenteile im Wasserhindernis bei Loch Fünfzehn. Da lagen sie schon sechs Monate drin. Jemand schlug einen Ball auf Loch Zwölf, und er flog in den Tümpel. Als erstes fischten sie einen Fuß raus. Der war ganz aufgequollen und grün und . . .«

In der dritten Reihe fiel ein blasses Mädchen aus Wilstanton in Ohnmacht. Bis Wilt sie wieder zu Bewußtsein und ins Krankenzimmer gebracht hatte, war die Klasse bei Grippen, Haigh und Christie angelangt. Als er zurückkam, hörte er sie über Säurebäder diskutieren.

».. . und alles, was sie fanden, waren ihre falschen Zähne und die Gallensteine.«

»Du weißt wohl eine ganze Menge über Mord«, sagte Wilt zu dem langen Mädchen.

»Daddy spielt mit dem Polizeipräsidenten Bridge«, erklärte sie. »Er kommt zu uns zum Essen und erzählt Supergeschichten. Er sagt, sie sollten den Strang wieder einführen.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Wilt erbost. Das war typisch für Höhere Sekretärinnen, daß sie Polizeipräsidenten kannten, die den Strang wiedereinführen wollten. Diese Gören hatten bloß Mammy und Daddy und Pferde im Kopf. »Jedenfalls tut Hängen nicht weh«, sagte das lange Mädchen, »Sir Frank sagt, einen Mann aus der Todeszelle holen, auf die Falltür stellen, ihm 'ne Schlinge um den Hals legen und den Hebel ziehen, schafft ein guter Henker in zwanzig Sekunden.«

»Warum diese Vergünstigung bloß auf Männer beschränken?« fragte Wilt bitter. Die Klasse sah ihn mit vorwurfsvollen Augen an.

»Die letzte Frau, die gehängt wurde, war Ruth Ellis«, sagte die Blonde in der ersten Reihe.

»Bei Frauen ist das sowieso ganz anders«, sagte die Lange.

»Wieso?« fragte Wilt unvorsichtigerweise.

»Na ja, es geht langsamer.«

»Langsamer?«

»Mrs. Thomson mußten sie an einem Stuhl festbinden«, gab die Blonde zum besten. »Sie hat sich abscheulich benommen.«

»Ich muß sagen, ich finde eure Einstellung sonderbar«, sagte Wilt. »Eine Frau, die ihren Mann umbringt, ist zweifellos abscheulich. Aber daß sie sich wehrt, wenn man sie zur Hinrichtung holt, kommt mir überhaupt nicht abscheulich vor. Ich finde, daß . . .«

»Es ist nicht bloß das«, unterbrach ihn die Lange, die sich nicht abbringen ließ.

»Was denn dann?« fragte Wilt.

»Es geht langsamer bei Frauen. Sie müssen ihnen erst wasserdichte Unterhosen anziehen.«

• Wilt starrte sie angeekelt an. »Wasserdichte was?« fragte er ohne nachzudenken.

»Wasserdichte Unterhosen«, sagte die Lange.

»Du lieber Gott«, sagte Wilt.

»Nämlich, wenn sie beim Hängen unten ankommen, fallen ihnen alle inneren Organe raus«, fuhr das lange Mädchen fort und gab Wilt damit den Gnadenstoß. Der starrte sie wie von Sinnen an und stolperte aus dem Zimmer.

»Was hat er denn?« sagte das Mädchen. »Man könnte annehmen, ich hätte was Gemeines gesagt.«

Im Korridor lehnte sich Wilt gegen die Wand und kämpfte gegen den Brechreiz. Diese verfluchten Gören waren schlimmer als die Gasinstallateure. Die Gasinstallateure ließen sich wenigstens nicht über derart ekelhafte anatomische Einzelheiten aus, und abgesehen davon kamen die Höheren Sekretärinnen alle aus sogenannten anständigen Familien. Bis er sich genügend bei Kräften fühlte, um ihnen wieder gegenüberzutreten, war die Stunde zu Ende.

Verlegen ging Wilt ins Klassenzimmer zurück und sammelte die Bücher ein.

»Der Name Wilt, sagt der Ihnen wasPHenry Wilt?« fragte der Inspektor.

»Wilt?« sagte der Stellvertretende Direktor, dem übertragen worden war, mit der Polizei fertig zu werden, während der Direktor seine Zeit nutzbringender damit zubrachte, die ungünstige Wirkung in der Öffentlichkeit wieder auszubügeln, die durch die entsetzliche Geschichte entstanden war.

»Ja, selbstverständlich. Er ist einer von unseren Lehrern in Allgemeinbildung. Wieso? Gibt's was . . .«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir, würde ich ihn gern kurz sprechen. Vertraulich.«

»Aber Wilt ist ein völlig harmloser Mann«, sagte der Stellvertretende Direktor, »ich bin sicher, er kann Ihnen überhaupt nicht helfen.«

»Vielleicht nicht, aber trotzdem . . .«

»Sie wollen damit doch nicht etwa auch nur andeutungsweise zu verstehen geben, Henry Wilt hätte irgend etwas mit der ...« Der Stellvertretende Direktor brach ab und beobachtete den Gesichtsausdruck des Inspektors. Er war verdächtig neutral.

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»Ich möchte lieber nicht auf Einzelheiten eingehen«, sagte Inspektor Flint, »und das beste ist, wir ziehen keine übereilten Schlüsse.«

Der Stellvertretende Direktor griff zum Telefon. »Möchten Sie, daß er zu dem ... äh ... Lieferwagen hinüberkommt?« fragte er.

Inspektor Flint schüttelte den Kopf. »Wir möchten so diskret wie möglich sein. Wenn ich nur eben ein leeres Dienstzimmer benutzen dürfte.«

»Nächste Tür ist eins. Das können Sie nehmen.«

Wilt saß mit Peter Braintree in der Kantine beim Mittagessen, als die Sekretärin des Stellvertretenden Direktors mit einer Mitteilung herunterkam.

»Kann das nicht warten?« fragte Wilt.

»Er sagte, es sei sehr dringend.«

»Vielleicht ist deine Hauptlehrerstelle nun doch noch endlich durchgekommen«, sagte Braintree strahlend. Wilt schlang den Rest seiner Russischen Eier runter und stand auf.

»Das bezweifle ich«, sagte er und ging bleich aus der Kantine und die Treppe hinauf. Er hatte den schrecklichen Verdacht, die Beförderung sei das letzte, weswegen ihn der Stellvertretende Direktor sprechen wolle.

»Also Sir«, sagte der Inspektor, als sie in dem Dienstzimmer saßen, »ich heiße Flint, Inspektor Flint, Kriminalpolizei, und Sie sind Mr. Wilt? Mr. Henry Wilt?«

»Ja«, sagte Wilt.

»Also, Mr. Wilt, wie Sie sicher bemerkt haben werden, untersuchen wir den mutmaßlichen Mord an einer Frau, deren Leiche wahrscheinlich am Boden eines der Pfeilerlöcher für das neue Gebäude deponiert worden ist. Ich denke, Sie wissen davon?«

Wilt nickte. »Und natürlich sind wir an allem interessiert, was uns helfen könnte. Ob es Ihnen wohl was ausmacht, einen Blick auf diese Notizen zu werfen?«

Er reichte Wilt ein Blatt Papier. Es trug die Überschrift »Notizen zu »Die Gewalt als Faktor der Zerstörung des Familienlebens««, und darunter standen mehrere Untertitel.

1. Zunehmende Anwendung von Gewalt im öffentlichen Leben, um politische Ziele zu erreichen:

A) Bombenlegen B) Flugzeugentführung C) Menschenraub D) Meuchelmord 2. Untauglichkeit von Polizeimethoden bei Bekämpfung von Gewalt:

A) Negatives Verhalten. Polizei nur fähig, auf Verbrechen zu reagieren, nachdem es geschehen.

B) Anwendung von Gewalt durch Polizei selbst.

C) Niedriger Intelligenzgrad des Durchschnittspolizisten.

D) Zunehmender Gebrauch raffinierter Methoden bei Verbrechern, z.B. Ablenkungsmanöver.

3. Einfluß der Medien. Fernsehen macht Verbrechensmethoden allgemein bekannt.

Da stand noch mehr. Viel mehr. Wilt sah die Liste runter, und das Gefühl, daß jetzt das Schicksal seinen Lauf nehme, stieg in ihm auf.

»Sie erkennen die Handschrift wieder?« fragte der Inspektor.

»Erkenne ich wieder«, sagte Wilt, womit er ziemlich übereilt die abgehackte Ausdrucksweise von Leuten im Zeugenstand annahm.

»Sie geben zu, daß Sie diese Notizen geschrieben haben?« Der Inspektor griff nach den Notizen und nahm sie wieder an sich. »Ja.«

»Sie geben Ihre Meinung über Polizeimethoden wider?« Wilt gab sich einen Ruck. »Das waren bloß Stichworte, zu einem Vortrag für den Sonderkurs der Feuerwehrlehrlinge«,

erklärte er. »Es waren einfach flüchtig hingeworfene Gedanken. Sie müssen natürlich noch weiter ausgeführt werden . . .«

»Aber Sie bestreiten nicht, daß Sie das geschrieben haben?«

»Natürlich nicht. Das habe ich doch gerade gesagt, oder?«

Der Inspektor nickte und griff zu einem Buch. »Und das ist auch Ihres?«

Wilt warf einen Blick auf »Bleakhaus«. »Das steht doch drin, nicht wahr?«

Inspektor Flint schlug den Buchdeckel auf. »Tatsächlich«, sagte er und tat erstaunt, »tatsächlich.«

Wilt starrte ihn an. Es hatte keinen Sinn, noch weiter den Schein zu wahren. Das beste war, er brächte es schnell hinter sich. Sie hatten das verdammte Buch im Gepäckkorb des Fahrrads gefunden, und die Notizen mußten ihm auf der Baustelle aus der Tasche gefallen sein.

»Sehen Sie, Inspektor«, sagte er, »ich kann alles erklären. Es ist wirklich ganz einfach. Ich bin auf die Baustelle gegangen . . .«

Der Inspektor erhob sich. »Mr. Wilt, wenn Sie bereit sind, eine Erklärung abzugeben, sollte ich Sie vielleicht aufmerksam machen . ..«

Wilt ging zu der Mordzentrale runter und gab in Anwesenheit eines Polizeistenographen eine Erklärung ab. Daß er in den blauen Lieferwagen hineinstieg, aber nicht wieder rauskam, wurde mit Interesse von den Lehrern, die im Gebäude der Naturwissenschaftler unterrichteten, von den Schülern in der Kantine und von fünfundzwanzig weiteren Kollegen vermerkt, die aus dem Fenster des Lehrerzimmers gafften.