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Es war Freitag, und wie an jedem anderen Tag der Woche war die kleine Kirche von Waterswick leer. Und wie an jedem anderen Tag der Woche war der Pfarrer, Hochwürden St. John Froude, betrunken. Die beiden Dinge gehörten zusammen, die fehlende Gemeinde und die Sauferei des Pfarrers. Das war eine uralte Tradition, die noch auf die Schmuggelzeiten zurückging, als der Brandy für die Pfaffen ungefähr der einzige Grund war, warum das abgeschiedene Dörfchen überhaupt einen Pfarrer hatte. Und wie so viele englische Traditionen hatte sie ein zähes Leben. Die Kirchenoberen sahen darauf, daß Waterswick besonders zartbesaitete Pfarrer bekam, deren untragbares Geschwärme sie in der Regel für angesehenere Pfarreien ungeeignet machte, und die Pfarrer wiederum wurden, um sich über die Abgeschiedenheit und das fehlende Interesse an geistigen Dingen hinwegzutrösten, zu Alkoholikern. Auch Hochwürden St. John Froude hielt die Tradition aufrecht. Er nahm seine Pflichten mit der gleichen anglikanischen, buchstabengläubigen Inbrunst wahr, die ihn schon in Esher so unbeliebt gemacht hatte, und warf ein alkoholisiertes Auge auf die Tätigkeiten seiner wenigen Schäflein, die sich nun, da der Brandy nicht mehr so hoch im Kurs stand, mit der einen oder anderen gelegentlichen Bootsladung illegaler indischer Einwanderer zufriedengaben.
Als er jetzt sein Frühstück aus Eiercognac im Glas und Irish Coffee beendete und über die Schlechtigkeiten seiner bedeutenderen Kollegen nachsann, wie sie in der letzten Sonntagszeitung zu lesen waren, sah er mit Staunen über dem Schilf am Aalfleet etwas flattern. Es sah aus wie Ballons, weiße, wurst-förmige Ballons, die kurz in die Luft stiegen und dann wieder verschwanden. Hochwürden St. John Froude schauderte, er schloß die Augen, öffnete sie wieder und dachte über die Tugenden der Enthaltsamkeit nach. Wenn er richtig gesehen hatte, und er wußte nicht, ob er das wollte oder nicht, wurde der Morgen durch eine Traube von Präservativen, aufgeblasenen Präservativen entheiligt, die völlig chaotisch da herumflatterten, wo der Natur der Sache nach noch nie ein Präservativ geflattert hatte. Wenigstens hoffte er, es sei eine Traube. Er war so dran gewöhnt, Dinge doppelt zu sehen, wenn sie ir Wirklichkeit nur einmal da waren, daß er nicht sicher war, ob nicht das, was wie eine Traube aufgeblasener Präservative aussah, bloß eins oder, schlimmer noch, überhaupt keins war.
Er schwankte in sein Arbeitszimmer, holte sein Fernglas und trat auf die Terrasse hinaus, um es scharfzustellen. Unterdessen war die Erscheinung verschwunden. Hochwürden St. John Froude schüttelte düster den Kopf. Die Dinge im allgemeinen und seine Leber im besonderen, waren wohl ziemlich aus den Fugen, wenn er so früh am Morgen schon weiße Bal-lönchen sah. Er ging ins Haus zurück und versuchte, seine Gedanken auf einen Vorfall zu richten, bei dem ein Erzdiakon in Ongar sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hatte und dann mit seinem Kirchendiener durchgebrannt war. Das war ein Thema für eine Predigt, wenn ihm nur eine passende Bibelstelle einfiel.
Hinten im Garten beobachtete Eva Wilt, wie er sich wieder zurückzog, und fragte sich, was sie tun solle. Sie hatte nicht vor, zum Haus hinaufzugehen und sich dem Pfarrer in ihrem augenblicklichen Zustand vorzustellen. Sie brauchte was anzuziehen, oder wenigstens irgendwas, womit sie sich bedek-ken konnte. Sie sah sich nach was Behelfsmäßigem um und entschied sich schließlich für den Efeu, der sich am Friedhofszaun hochrankte. Ein Auge auf das Pfarrhaus gerichtet, kam sie unter der Weide hervor und hetzte zum Zaun rüber und durch die Pforte auf den Kirchhof. Dort riß sie von einem Baumstamm etwas Efeu herunter, und schlich, die Ranken ziemlich krampfig vor sich haltend, verstohlen den zugewachsenen Weg zur Kirche hoch. Den größten Teil des Weges gaben ihr die Bäume Schutz vor dem Haus, aber ein- oder zweimal mußte sie sich tief ducken und in voller Sicht vom Pfarrhaus aus von einem Grabstein zum anderen hasten. Als sie in der Kirchenvorhalle ankam, schnappte sie nach Luft und kam sich noch zehnmal unmöglicher vor. Wenn die Vorstellung, sich unbekleidet vor dem Haus zeigen zu müssen, sie schon des allgemeinen Anstands wegen zutiefst entrüstete, so war, splitterfasernackt in eine Kirche zu gehen, schlichtweg Gotteslästerung. Sie stand in dem Vestibül und versuchte völlig aufgelöst, sich einen Ruck zu geben und reinzugehen. Es gab in der Sakristei bestimmt Chorhemden für den Chor, und in einem Chorhemd konnte sie zum Haus hinaufgehen. Oder doch nicht? Eva war sich über die Bedeutung von Chorhemden nicht sicher, und der Pfarrer könnte vielleicht darüber böse sein. O Gott, es war ja alles so peinlich. Schließlich öffnete sie die Kirchentür und ging hinein. Da drin war's kalt und feucht und leer. Den Efeu an sich gepreßt, ging sie zur Sakristei hinüber und drückte auf die Klinke. Die Tür war zu. Zitternd stand Eva da und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Schließlich ging sie hinaus und stand in der Sonne, wo sie versuchte, wieder warm zu werden.
Im Lehrerzimmer der Berufsschule zog Dr. Board Bilanz. »Alles in allem meine ich, sind wir aus der ganzen Affäre recht ehrenvoll hervorgegangen«, sagte er. »Der Direktor hat ja schön immer gesagt, er wolle die Schule in aller Munde bringen, und man muß sagen, mit der Hilfe unseres Feundes Wilt ist ihm das auch gelungen. Die Zeitungspropaganda war einfach ungeheuer. Es sollte mich nicht wundern, wenn der Schülerzustrom auffallend in die Höhe ginge.«
»Das Komitee hat unserem Antrag nicht zugestimmt«,
sagte Mr. Morris, »also können Sie wohl kaum behaupten, daß der Besuch uneingeschränkt erfolgreich war.«
»Ich persönlich meine, sie haben was bekommen für ihr Geld«, sagte Dr. Board. »Es kommt wohl nicht alle Tage vor, daß man die Möglichkeit hat, eine Exhumierung und eine Exekution gleichzeitig zu sehen. Normalerweise findet ja die eine vor der anderen statt, und zu sehen, wie sich etwas, was klar und eindeutig eine Frau war, in wenigen Sekunden in einen Mann verwandelt, eine blitzschnelle Geschlechtsumwandlung, war, um es etwas salopp auszudrücken, einfach irre.«
»Da wir gerade vom armen Mayfield sprechen«, sagte der Leiter der Geographie, »wie ich höre, ist er immer noch in der Nervenklinik.«
»Entmündigt?« fragte Dr. Board hoffnungsvoll.
»Entmutigt. Und an Erschöpfung leidend.«
»Kaum verwunderlich. Jeder, der wie er die Sprache gebraucht . . . Die Sprache mißbraucht, fordert das Unglück heraus. Wenn ich bloß an »strukturieren« denke.«
»Er hatte auf den neuen Unterrichtszweig so großen Wert gelegt, und die Tatsache, daß er nicht durchgekommen ist...«
»Ist auch völlig in Ordnung«, sagte Dr. Board. »Ich kann einfach keinen erzieherischen Nutzen darin sehen, zweit-rangige Schüler mit fünftrangigen Vorstellungen über so unterschiedliche Themen wie Dichtung des Mittelalters und Städtebau vollzustopfen. Viel besser, sie verbringen ihre Zeit damit, der Polizei zuzugucken, wie sie die angebliche Leiche einer mit Beton überzogenen Frau ausgraben, ihr den Hals langziehen, die Kleider vom Leibe reißen, sie erhängen und schließlich aufblasen, bis sie explodiert. Das ist es, was ich wirklich Lernerfahrung nenne. Sie verbindet Archäologie und Kriminologie, Zoologie und Physik, Anatomie und Wirtschaftslehre miteinander, und die Schüler bleiben dazu auch noch die ganze Zeit voll bei der Sache. Wenn wir unbedingt neue Unterrichtszweige haben müssen, dann doch von dieser Lebensnähe und praktischen Anwendbarkeit. Ich denke daran, mir eine von diesen Puppen schicken zu lassen.«
»Das läßt immer noch die Frage nach Mrs. Wilts Verschwinden offen«, sagte Mr. Morris.
»Mein Gott, die liebe Eva«, sagte Dr. Board wehmütig. »Nachdem ich nun so viel zu Gesicht bekommen habe, wovon ich dachte, es sei sie, werde ich, falls ich je das Vergnügen haben sollte, sie wiederzusehen, ihr mit der größten Liebenswürdigkeit begegnen. Eine verblüffend wandlungsfähige Frau und so interessant proportioniert. Ich denke, ich werde meine Puppe Eva taufen.«
»Aber die Polizei scheint immer noch zu glauben, sie ist tot.«
»Eine solche Frau kann niemals sterben«, sagte Dr. Board. »Sie mag explodieren, aber die Erinnerung an sie lebt unauslöschlich weiter.«
Hochwürden St. John Froude teilte in seinem Arbeitszimmer Dr. Boards Meinung. Die Erinnerung an die gewaltige und offensichtlich nackte Dame, die er für einen kurzen Augenblick gesehen hatte, als sie wie eine abscheulich riesenhafte Nymphe hinten in seinem Garten unter der Weide hervorgekommen und durch den Friedhof gehetzt war, war etwas, was er wohl kaum jemals vergäße. Und weil er sie so kurz nach der Erscheinung der aufgeblasenen Präservative gesehen hatte, verstärkte sich sein Verdacht, daß er es mit dem Alkohol wohl zu weit getrieben habe. Die Predigt über den abtrünnigen Erzdiakon von Ongar, über die er gerade nachgedacht hatte, ließ er Predigt sein - er hatte als Text »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen« im Sinn gehabt -, stand auf, sah durch das Fenster zur Kirche hinüber und fragte sich, ob er nicht vielleicht runtergehen und nachsehen solle, ob nicht wirklich eine gewaltige, fette, nackte Dame da sei, als seine Aufmerksamkeit auf das Schilf auf der anderen Seite des Wassers gelenkt wurde. Da waren sie wieder, diese höllischen Dinger. Diesmal konnte es keinen Zweifel daran geben. Er griff zum Fernglas und starrte wütend hindurch. Er sah sie viel deutlicher als das erste Mal, und sie wirkten sehr viel bedrohlicher. Die Sonne stand hoch am Himmel, und über dem Aalfleet stieg etwas Dunst auf, so daß die Präservative ein gleißender Schimmer umgab, eine Unwirklichkeit, die schlichtweg etwas Geistiges an sich hatte. Schlimmer noch, es zeigte sich, daß was drauf geschrieben stand. Die Botschaft war klar, wenn auch unverständlich. Sie lautete HIFISOSE. Hochwürden St. John Froude nahm das Fernglas herunter, griff nach der Whiskyflasche und dachte über die Bedeutung von HIFISOSE nach, das hauchzart und gefühlsecht an den Himmel gemalt war. Als er, immer flott weg, sein drittes Glas ausgetrunken hatte und zu der Überzeugung gekommen war, daß am Spiritismus trotz allem doch was dran sei, auch wenn man fast immer bloß mit alten Indianern in Berührung kam, die ihre toten Tanten durch sich sprechen ließen, was erklärte, daß Haifischsoße falsch geschrieben war, weil sie ein paar von den weniger schmackhaften Zutaten aus dem Zeug einfach wegließen, hatte der Wind die Buchstaben umgeordnet. Als er diesmal hinsah, lautete die Botschaft SEIFEHILFLOS. Der Pfarrer erschauerte. Welche Seife war hilflos und wieso.
»Die Sünde der geistlichen Getränke«, sagte er vorwurfsvoll zu seinem vierten Whisky, bevor er das Orakel erneut befragte. Auf FIISHOELLE folgte HOHLFISSEL, worauf SLIESLOFF kam, was noch schlimmer war. Hochwürden St. John Froude schob Fernglas und Whiskyflasche zur Seite, kniete nieder und betete um Vergebung oder wenigstens einen Wink, wie die Botschaft zu verstehen sei. Aber jedesmal, wenn er aufstand um nachzusehen, ob sein Wunsch erfüllt worden sei, war die Buchstabenkombination genauso sinnlos wie vorher oder eher geradezu bedrohlich. Was bedeutete zum Beispiel FLOEHFILS, oder HEISSLOEFFL? Endlich beschloß er, dem wahren Wesen der Erscheinung selber auf den Grund zu gehen, zog seine Soutane an und schwankte den Gartenweg zum Bootshaus runter.
»Denen wird der Tag noch leidtun«, murmelte er, als er in das Ruderboot kletterte und zu den Riemen griff. Hochwürden St. John Froude hatte eine strenge Meinung über Empfängnisverhütung. Das war einer der Grundsätze seines An-glokatholischen Glaubens.
Im Kajütboot schlief Gaskell tief und fest. Um ihn herum traf Sally ihre Vorbereitungen. Sie zog sich aus und schlüpfte in den Plastikbikini. Sie nahm ein viereckiges Seidentuch aus ihrer Tasche und legte es auf den Tisch, holte aus der Küche einen Krug und füllte ihn, über die Reling gelehnt, mit Wasser. Dann ging sie in die Toilette und schminkte sich vor dem Spiegel.
Als sie rauskam, trug sie falsche Wimpern, ihre Lippen waren dunkelrot, und ein maskenhaftes Make-up gab ihrem blassen Teint eine dunklere Tönung. Sie hatte eine Badekappe auf. Sie ging zur Kombüsentür hinüber, stemmte einen Arm in die Seite und streckte die Hüfte raus.
»Gaskell-Baby«, rief sie.
Gaskell öffnete die Augen und sah sie an. »Was gibt's, zum Teufel.«
»Gefällt's dir, Baby?«
Gaskell setzte sich die Brille auf. Sich selber zum Trotz gefiel's ihm. »Wenn du denkst, du kriegst mich wieder rum, liegst du falsch.«
Sally lächelte. »Red doch nicht so viel. Du machst mich heiß, mein Bioabbau-Baby.« Sie ging und setzte sich neben ihn auf das Bett.
»Was hast du vor?«
»Es wiedergutmachen, Baby-Schwänzchen. Du hast 'n Ding mit Pfiff verdient.« Sie streichelte ihn sanft. »Wie in alten Tagen. Erinnerst du dich?«
Gaskell erinnerte sich und merkte, wie er weich wurde. Sally lehnte sich vor und drückte ihn aufs Bett runter.
»Kunststoff-Sally«, sagte sie und knöpfte ihm das Hemd auf.
Gaskell wand sich. »Wenn du denkst. .«
»Nicht denken, bloß dengeln«, sagte Sally und machte seine Jeans auf. »Kopf hoch, kleiner Mann.«
»O Gott«, sagte Gaskell. Das Parfüm, das Plastik, das maskenhafte Gesicht und ihre Hände weckten alte Wunschbilder. Er lag zurückgelehnt in der Koje und starrte sie an, während Sally ihn auszog. Selbst als sie ihn auf den Bauch drehte und ihm die Hände auf den Rücken zog, leistete er keinen Widerstand.
»Fessel-Baby«, sagte sie leise und griff nach dem Seidentuch.
»Nein, Sally, nein«, sagte er schwach. Sally lächelte böse und band seine Hände zusammen, wobei sie das Tuch sorgfältig zwischen seinen Handgelenken zusammendrehte, ehe sie es verknotete. Als sie fertig war, wimmerte Gaskell. »Du tust mir weh.«
Sally drehte ihn herum. »Du stehst doch da drauf«, sagte sie und küßte ihn. Sie setzte sich zurück und streichelte ihn sanft. »Härter, Baby, ganz hart. Heb mich, Liebster, himmelhoch.«
»O Sally.«
»So ist's schön, Baby, und jetzt den Regenmantel.«
»Das ist nicht nötig, ich habe es lieber ohne.«
»Aber ich nicht, G. Ich brauche ihn als Beweis, daß du mich liebst, bis daß der Tod uns scheidet.« Sie bückte sich und rollte ihn aus.
Gaskell starrte zu ihr hoch. Irgend etwas stimmte nicht.
»Und jetzt die Kappe.« Sie langte hinüber nach der Badekappe.
»Die Kappe?« sagte Gaskell. »Wozu das denn? Das Ding setz ich aber nicht auf.«
»Aber klar doch, Schätzchen. Damit siehst du so mädchenmäßig aus.« Sie stülpte ihm die Kappe auf den Kopf. »Und nun rein in Sallia inter alia.« Sie knöpfte den Bikini auf und ließ sich langsam auf ihn hinunter. Gaskell stöhnte und starrte zu ihr hoch. Sie war phantastisch. Sie war schon lange nicht mehr so fabelhaft gewesen. Aber er hatte immer noch Angst.
Es lag etwas in ihren Augen, was er noch nie gesehen hatte. »Bind mich los«, flehte er sie an, »du tust meinem Arm weh.«
Aber Sally lächelte bloß und bewegte sich kreisend. »Wenn du gekommen bist und es gegangen ist, G-Baby. Wenn du's hinter dir hast.« Sie bewegte ihre Hüften.
»Komm, du Faultier, komm, fick's.«
Gaskell erzitterte.
»Fertig?«
Er nickte. »Fertig«, seufzte er.
»Endgültig, Baby, endgültig«, sagte Sally. »Das war's. Du bist am Ende.«
»Am Ende?«
»Du bist gekommen und jetzt gehst du. Du stehst am Ufer des Styx.«
»Am Ufer des Stücks?«
»S wie Sally, T wie Tod, Y wie Yankee und X wie Xitus. Jetzt fehlt nur noch das hier.« Sie langte nach dem Krug mit dem trüben Wasser, Gaskell drehte den Kopf und warf einen Blick darauf.
»Wofür ist das?«
»Für dich, Baby. Moddermilch.« Sie rutschte ein Stück hoch und setzte sich ihm auf die Brust. »Mach den Mund auf.«
Gaskell Pringsheim starrte sie wie besessen an. Er begann sich zu krümmen und zu winden. »Du bist wahnsinnig. Du bist verrückt.«
»Bleib ganz still liegen, dann tut's nicht weh. Bald ist es vorüber, Liebster. Natürlicher Tod durch Ertrinken. Im Bett. Du gehst in die Geschichte ein.«
»Du Hure, du blutrünstige Hure.«
»Zerberusmäßig«, sagte Sally und goß ihm das Wasser in den Mund. Sie stellte den Krug ab und zog ihm die Badekappe über das Gesicht.
Hochwürden St. John Froude ruderte für einen Mann mit einer halben Flasche Whisky im Bauch und Zorn im Herzen erstaunlich gleichmäßig, und je näher er an die Präservative herankam, desto größer wurde sein Zorn. Und das nicht bloß, weil ihm der Anblick der Dinger eine völlig unnötige Angst über den Zustand seiner Leber eingejagt hatte, jetzt, da er nahe an ihnen dran war, konnte er sehen, daß sie wirklich da waren, sondern vielmehr, weil er in Sexualdingen ein Verfechter des Prinzips der Nicht-Einmischung war. Gott hatte seiner Meinung nach eine vollkommene Welt geschaffen, wenn der Schöpfungsgeschichte zu glauben war, und seitdem war es unentwegt bergab gegangen. Und der Schöpfungsgeschichte mußte man einfach glauben, oder die ganze Bibel ergab keinen Sinn. Von dieser dogmatischen Voraussetzung war Hochwürden St. John Froude auf verschlungenen Pfaden über Blake, Hawker, Leavis und eine Anzahl fortschrittsfeindlicher Theologen zu der Überzeugung gelangt, die Wunder der modernen Wissenschaft seien Werke des Teufels, die Erlösung sei im Verzicht auf jeden materiellen Fortschritt seit der Renaissance oder auch schon früher zu suchen, und die Natur sei unendlich viel weniger zerstörerisch als der moderne motorisierte Mensch. Kurz, er war überzeugt, das Ende der Welt in Gestalt einer atomaren Götterdämmung sei nahe, und seine Pflicht als Christ sei es, dieses zu verkünden. Seine Predigten über dieses Thema waren von einer so anschaulich das Grauen ausmalenden Inbrunst gewesen, daß sie zu seiner Verbannung nach Waterswick geführt hatten. Als er jetzt den Flußarm hinauf ins Aalfleet ruderte, wetterte er im stillen gegen Empfängnisverhütung und Abtreibung und die Übel sexueller Lotterwirtschaft. Sie alle waren Anzeichen und Ursachen und ursächliche Anzeichen des moralischen Tohuwabohus, zu dem sich das Leben auf der Erde entwickelt hatte. Und schließlich gab es noch die Ausflügler. Hochwürden St. John Froude konnte Ausflügler nicht riechen. Sie verdreckten den kleinen Garten Eden seiner Pfarre mit ihren Booten, ihren Transistorradios und ihrer schamlosen Daseinsfreude. Und Ausflügler, die den Blick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers mit aufgeblasenen Präservativen und sinnlosen Botschaffen schändeten, waren ein Greuel. Als er schließlich das Kajütboot zu Gesicht bekam, war er nicht gerade zu Spaßen aufgelegt. Er ruderte wütend zu der Jacht rüber, machte sein Boot an der Reling fest, raffte die Soutane bis zu den Knien und stieg an Bord.
In der Kajüte starrte Sally auf die Badekappe hinunter. Sie blähte sich auf, fiel wieder zusammen, dehnte sich aus und saugte sich an Gaskells Gesicht fest, und Sally bog sich vor Vergnügen. Sie war die befreiteste Frau der Welt, aber die al-lerbefreiteste. Gaskell kratzte ab, und sie wäre frei und hätte eine Million Dollar in ihrem Kätzchen. Und niemand käme je dahinter. Sobald er tot war, nähme sie die Kappe ab, bände ihn los und stieße seine Leiche ins Wasser. Und Gaskell Pringsheim wäre eines ganz natürlichen Todes durch Ertrinken gestorben. In diesem Augenbh'ck wurde die Kajütentür geöffnet, und sie blickte hoch auf die Silhouette von Hochwürden St. John Froude.
»Was, zum Teufel. . .« murmelte sie und sprang von Gaskell herunter.
Hochwürden St. John Froude zögerte. Er war hergekommen, um seine Meinung zu sagen, und sagen würde er sie, aber er hatte offenbar eine ziemlich nackte Frau mit entsetzlich geschminktem Gesicht beim Koitus mit einem Mann gestört, der, soweit er das bei einem flüchtigen Blick sagen konnte, überhaupt kein Gesicht hatte.
»Ich . ..«, begann er und umerbrach sich. Der Mann war aus der Koje auf den Fußboden gerollt und wälzte sich da auf sehr seltsame Weise. Hochwürden St. John Froude starrte entsetzt auf ihn hinunter. Der Mann war nicht nur gesichtslos, seine Hände waren auch auf den Rücken gebunden.
»Mein lieber Freund«, sagte der Pfarrer, den der Anblick erschreckte, und sah nach einer Erklärung suchend zu der Frau auf. Sie starrte ihn, ein großes Küchenmesser in der Hand, wie besessen an. Hochwürden St. John Froude stolperte zurück in das Cockpit, als die Frau, das Messer mit beiden Händen vor sich haltend, auf ihn zuging. Sie war unverkennbar völlig irre. Und der Mann auch. Er rollte auf dem Fußboden herum und schleifte seinen Kopf hin und her. Die Badekappe löste sich, aber Hochwürden St. John Froude hatte zuviel damit zu tun, über die Reling in sein Ruderboot zu klettern, um es zu bemerken. Er stieß ab, als die gräßliche Frau auf ihn zustürzte, und ruderte davon, seinen ursprünglichen Vorsatz hatte er vollkommen vergessen. Sally stand im Cockpit und schrie ihm Schimpfworte nach, aber hinter ihr war in der Kajütentür eine Gestalt aufgetaucht. Der Pfarrer sah mit Dankbarkeit, daß der Mann jetzt ein Gesicht hatte, kein hübsches Gesicht, ein ausgesprochen grauenerregendes Gesicht, aber wenigstens ein Gesicht, und er kam hinter der Frau in irgendeiner gräßlichen Absicht näher. Im nächsten Augenblick wurde die Absicht in die Tat umgesetzt. Der Mann stürzte sich auf die Frau, das Messer fiel aufs Deck, die Frau schlidderte am Bootsrand lang und rutschte dann kopfüber ins Wasser. Hochwürden St. John Froude wartete keine Sekunde länger. Er ruderte aus Leibeskräften davon. Ganz gleich, bei was für einer widerlichen Orgie sexueller Verirrung er gestört hatte, er wollte nichts damit zu tun haben, und angemalte Frauen mit Messern, die ihn einen beschissenen Sohn eines Fotzenleckers und noch anders nannten, konnten bei ihm kein Mitleid erwarten, wenn das Objekt ihrer obszönen Begierden sie ins Wasser stieß. Und auf jeden Fall waren es Amerikaner. Hochwürden St. John Froude hatte für Amerikaner keine Zeit. Sie verkörperten all das, was er an der Welt von heute anstößig fand. Von neuem von Ekel am Dasein und dem Drang zur Whiskyflasche geschüttelt, ruderte er heim und machte das Boot am Fuße des Gartens fest.
Im Kajütboot hörte Gaskell auf zu schreien. Der Priester, der ihm das Leben gerettet hatte, war seinen heiseren Rufen nach weiterer Hilfe gegenüber taub gewesen, und Sally stand bis zum Bauch im Wasser neben dem Boot. Na, da konnte sie ruhig bleiben. Er ging in die Kajüte zurück, drehte sich so, daß er die Tür mit seinen zusammengebundenen Händen abschließen konnte, und sah sich nach etwas um, womit er den Seidenschal durchschneiden konnte. Er hatte immer noch große Angst.
»Schön«, sagte Inspektor Flint, »und was haben Sie dann gemacht?«
»Aufgestanden und die Sonntagszeitung gelesen.«
»Und dann?«
»Habe ich einen Teller Müsli gegessen und eine Tasse Tee getrunken.«
»Tee? Sind Sie sicher, daß es Tee war? Letztes Mal haben Sie Kaffee gesagt.«
»Wann?«
»Als Sie es das letzte Mal erzählten.«
»Ich habe Tee getrunken.«
»Und dann?«
»Habe ich Clem sein Frühstück gegeben.«
»Was?«
»Chappie.«
»Letztes Mal haben Sie Bonzo gesagt.«
»Dieses Mal sage ich Chappie.«
»Entscheiden Sie sich. Was war es?«
»Verflucht nochmal, wen interessiert denn, was es war?«
»Mich interessiert's.«
»Chappie.«
»Und als Sie den Hund gefüttert hatten?«
»Habe ich mich rasiert.«
»Letztes Mal haben Sie gesagt, Sie hätten gebadet.«
»Ich habe gebadet und mich dann rasiert. Ich wollte Zeit sparen.«
»Vergessen Sie die Zeit, Wilt, für uns ist es nie zu spät.«
»Wie spät ist es?«
»Halten Sie den Mund. Was haben Sie dann gemacht?«
»O du lieber Himmel, was soll das? Welchen Sinn soll das haben, immer und immer wieder dieselben Sachen durchzukauen?« »Halten Sie den Mund.«
»Gut«, sagte Wilt, »mach ich.«
»Was haben Sie gemacht, als Sie sich rasiert hatten?«
Wilt starrte ihn an und sagte nichts.
»Und als Sie sich rasiert hatten?«
Aber Wilt blieb stumm. Schließlich ging der Inspektor aus dem Zimmer und schickte nach Sergeant Yates.
»Er will nicht singen«, sagte er müde. »Was machen wir jetzt?«
»Es mit ein bißchen körperlicher Überredung versuchen?«
Flint schüttelte den Kopf. »Gosdyke hat ihn gesehen. Wenn er am Montag vor Gericht erscheint, und ihm ist auch nur ein einziges Haar gekrümmt, kommt der uns wegen Gefangenenmißhandlung aufs Dach. Es muß 'ne andere Möglichkeit geben. Irgendwo muß er doch einen schwachen Punkt haben, aber ich will verdammt sein, wenn ich den nicht finde. Wie macht er das bloß?«
»Was?«
»Zu reden und reden und nichts zu sagen. Nicht ein verfluchtes brauchbares Wort. Der Kerl hat zu jedem Thema unter Gottes heißer Sonne mehr zu sagen, als ich Haare auf dem Kopf habe.«
»Wenn wir ihn nochmal achtundvierzig Stunden wachhalten, bricht er todsicher zusammen.«
»Und ich gleich mit«, sagte Flint. »Wir gehen beide in Zwangsjacken vor Gericht.«
Im Vernehmungsraum legte Wilt den Kopf auf den Tisch. In einer Minute wären sie wieder da und fragten weiter, aber eine Sekunde Schlaf war besser als keiner. Schlaf. Wenn sie ihn doch bloß schlafen ließen. Was hatte Flint gesagt? »Sobald Sie ein Geständnis unterschreiben, können Sie schlafen, soviel Sie wollen.« Wilt dachte über diese Bemerkung und ihre Möglichkeiten nach. Ein Geständnis. Aber es müßte so plausibel sein, daß es sie in Atem hielt, während er ein bißchen Schlaf bekam, und zugleich so undenkbar, daß es vom Gericht zurückgewiesen würde. Ein Verzögerungsgeplänkel, das Eva Zeit gab, zurückzukommen und seine Unschuld zu beweisen. Es wäre genauso, wie die Gasinstallateure II »Shane« lesen zu lassen, während er dasaß und darüber nachdachte, wie er Eva in das Bohrloch kriegen könnte. Er sollte doch in der Lage sein, sich was so Kompliziertes auszudenken, das sie höllisch in Trab hielt. Wie hatte er sie alle drei umgebracht? Im Badezimmer erschlagen? Nicht genug Blut. Selbst Flint hatte das zugegeben. Also wie? Welche hübsch sanfte Tour gab's? Der arme alte Pinkerton hatte sich einen friedlichen Tod ausgesucht, als er einen Schlauch auf den Auspuff seines Autos steckte .. . das war's. Aber wieso? Es mußte einen Grund geben. Eva hätte es mit Dr. Pringsheim getrieben? Mit diesem Armleuchter? Nie im Leben. Eva hätte Gaskell nicht zweimal angeguckt. Aber das konnte Flint nicht wissen. Und was war mit diesem Weibsstück Sally? Alle drei hätten's miteinander getrieben? Na ja, das erklärte zumindest, warum er alle drei getötet hatte, und es lieferte ein Motiv von der Sorte, die Flint verstünde. Und außerdem paßte es zu Parties wie der da. Er nahm also diesen Schlauch . . . Wieso Schlauch? Ein Schlauch war gar nicht nötig. Sie waren in der Garage, um ganz allein zu sein. Nein, das ginge nicht. Es mußte das Badezimmer sein. Wie wäre es, wenn Eva und Gaskell es im Bad getrieben hätten? Das war besser. Er hatte in einem Anfall von Eifersucht die Tür eingetreten. Viel besser. Dann hatte er sie ertränkt. Und dann war Sally nach oben gekommen, und er hatte auch sie töten müssen. Das erklärte das Blut. Es hatte einen Kampf gegeben. Er hatte sie nicht töten wollen, aber sie war in die Wanne gefallen. So weit, so gut. Aber wo hatte er sie hingebracht? Das mußte irgendwas Plausibles sein. So was wie den Fluß würde ihm Flint nie abkaufen. Irgendwas, das der Puppe in dem Bohrloch einen Sinn gab. Flint hatte sich in den Kopf gesetzt, daß die Puppe ein Ablenkungsmanöver gewesen sei. Das hieß, daß die Zeit bei ihren Überlegungen eine Rolle spielte.
Wilt stand auf und fragte, ob er auf die Toilette gehen dürfe.
Wie immer ging der Wachtmeister mit und wartete draußen vor der Klotür.
»Müssen Sie das?« sagte Wilt. »Ich habe nicht vor, mich an der Kette zu erhängen.«
»Damit Sie den Arsch nicht in die Hände nehmen«, sagte der Polizist grob.
Wilt setzte sich hin. Den Arsch in die Hände nehmen. Was für ein scheußlicher Ausdruck. Er ließ an die Sprache von Fleisch I denken. Fleisch I? Das war der Augenblick der Erleuchtung. Wilt stand auf und spülte. Fleisch I würde sie lange in Atem halten. Er ging zurück in das blaßgrüne Zimmer, wo das Licht brummte. Flint wartete schon auf ihn.
»Werden Sie jetzt reden?« fragte er.
Wilt schüttelte den Kopf. Sie würden's ihm aus der Nase ziehen müssen, wenn sein Geständnis überhaupt überzeugend sein sollte. Er würde zögern müssen, einen Satz beginnen, abbrechen, wieder beginnen, Flint anflehen, ihn nicht länger zu quälen, sich verteidigen und wieder beginnen. Diese Forelle mußte man kitzeln. Na, wenigstens würde das helfen, ihn wachzuhalten.
»Wollen Sie wieder von vorne anfangen?« fragte er.
Inspektor Flint lächelte fuchterregend. »Ganz von vorn.«
»Na schön«, sagte Wilt, »tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber fragen Sie mich bloß nicht dauernd, ob ich dem Hund Chappie oder Bonzo gegeben habe. Dieses ganze Gerede über Hundefutter halt ich einfach nicht aus.«
Inspektor Flint biß an. »Warum nicht?«
»Es geht mir auf die Nerven«, sagte Wilt und erschauerte.
Der Inspektor beugte sich vor. »Hundefutter geht Ihnen auf die Nerven?« sagte er.
Wilt zögerte bedeutsam. »Fragen Sie mich das nicht weiter«, sagte er. »Bitte, das nicht.«
»Also, was war es, Bonzo oder Chappie?« sagte der Inspektor, der Blut roch.
Wilt vergrub sein Gesicht in den Händen. »Ich sage nichts mehr. Gar nichts. Warum müssen Sie mich dauernd nach Futter fragen. Lassen Sie mich in Ruhe.« Seine Stimme kletterte hysterisch in die Höhe und damit auch Inspektor Flints Hoffnungen. Er wußte, wann er auf den Nerv getroffen war. Er war auf der richtigen Spur.