Die Geschichte der Eva Delektorskaja
Ostende 1939
Eva saß im Konferenzzimmer der Agentur. Draußen ging ein heftiger Regenschauer nieder. Das Prasseln klang, als würde jemand Sand an die Scheiben werfen. Es wurde immer dunkler, und sie sah, dass in den Häusern gegenüber schon überall Licht brannte. Doch im Konferenzzimmer brannte kein Licht. Es herrschte eine merkwürdige Düsternis, wie an einem vorzeitig hereingebrochenen Winterabend. Sie nahm einen Bleistift vom Tisch und ließ das Ende mit dem Radiergummi auf ihren linken Daumen fallen. Vergeblich versuchte sie, das Bild aus ihrem Kopf zu vertreiben – den jungenhaften Spurt des Leutnant Joos quer über den Parkplatz in Prenslo – ganz leichtfüßig, dann das Stolpern und der Sturz.
»Er hat ›Amsterdam‹ gesagt«, wiederholte Eva leise. »Er hätte ›Paris‹ sagen müssen.«
Romer zuckte die Schultern. »Ein simpler Fehler. Ein alberner Patzer.«
Eva hielt ihre Stimme im Zaum. »Ich habe mich lediglich an meine Instruktionen gehalten. So wie Sie es ständig fordern. Eine Romer-Regel. Deshalb benutzen wir doppelte Losungswörter.«
Romer stand auf, ging ans Fenster und blickte zu den Lichtern hinüber.
»Das ist nicht der einzige Grund«, sagte er. »Sie dienen auch der Wachsamkeit.«
»Nun, bei Leutnant Joos hat das nicht funktioniert.«
Eva dachte an den Nachmittag zurück – den gestrigen Nachmittag. Als sie im Hotel Willems erfuhr, dass Romer abgereist war, rief sie sofort die Agentur an. Morris Devereux erklärte ihr, Romer sei schon auf der Rückfahrt nach Ostende, und er habe angerufen, um mitzuteilen, dass Eva entweder tot oder verwundet oder in deutscher Gefangenschaft sei. »Er wird sich freuen, wenn er hört, dass er sich geirrt hat«, sagte Morris trocken. »Was hattet ihr da eigentlich zu suchen?«
Früh am nächsten Morgen traf Eva in Ostende ein (eine Busfahrt mit Umsteigen von Prenslo nach Den Haag, wo sie lange auf den Nachtzug nach Brüssel warten musste) und ging sofort in die Agentur. Weder Angus Woolf noch Blytheswood äußerten sich zu dem Vorfall, nur Sylvia nahm sie beim Arm, als niemand schaute. »Alles in Ordnung, meine Süße?«, flüsterte sie und legte den Finger auf den Mund. Eva lächelte und nickte.
Am Nachmittag sagte Morris, sie werde im Konferenzzimmer erwartet. Dort fand sie Romer vor, im smarten dunklen Anzug mit leuchtend weißem Hemd und Streifenkrawatte – wie auf dem Sprung zu irgendeinem Vortrag. Er winkte sie zu einem Stuhl. »Erzählen Sie mir alles, bis ins letzte Detail.«
Und das tat sie, mit beachtlichem Erinnerungsvermögen, wie sie fand. Er saß da und hörte aufmerksam zu, nickte von Zeit zu Zeit, bat sie, eine Einzelheit zu wiederholen. Notizen machte er nicht. Jetzt sah sie ihn am Fenster stehen, wo er einen herablaufenden Tropfen mit dem Zeigefinger verfolgte.
»Also«, sagte er, ohne sich umzudrehen, »ein Toter und zwei britische Geheimagenten in deutscher Gefangenschaft.«
»Das ist nicht meine Schuld. Ich sollte nur die Augen und Ohren aufsperren, haben Sie gesagt.«
»Das sind doch Amateure!« Die Verachtung machte seine Stimme hart. »Trottel und Amateure, die sich noch immer an Sapper halten und Buchan und Erskine Childers. ›The Great Game‹ – ich könnte kotzen.« Er drehte sich zu ihr um. »Ein Riesencoup für den deutschen Sicherheitsdienst. Die können noch gar nicht fassen, wie leicht es war, zwei britische Profi-Agenten zu übertölpeln und einzukassieren. Wir stehen da wie komplette Idioten. Wir sind komplette Idioten – das heißt, nicht alle …« Er versank wieder in Nachdenken. »Joos ist eindeutig getötet worden, sagen Sie.«
»Das kann ich behaupten – eindeutig. Die müssen vier- oder fünfmal getroffen haben. Aber ich habe nie zuvor gesehen, wie ein Mann erschossen wird.«
»Jedenfalls haben sie die Leiche mitgenommen. Interessant.« Jetzt drehte er sich um und zeigte mit dem Finger auf sie. »Warum haben Sie die britischen Agenten nicht gewarnt, als Joos das zweite Losungswort verpatzte? Nach Ihrem Kenntnisstand hätte Joos auch für die Deutschen arbeiten können.«
Eva hielt ihre Wut im Zaum. »Sie wissen genau, wie wir uns zu verhalten haben. Die Regel lautet Rückzug – auf der Stelle. Wenn man merkt, dass etwas nicht stimmt, wartet man nicht ab, ob der Eindruck berechtigt war – oder versucht gar, die Sache zu kitten. Man verschwindet – und zwar sofort. Genau das hab ich getan. Hätte ich den Raum betreten, um die beiden zu warnen …« Sie rang sich ein Lachen ab. »Die zwei anderen Deutschen waren sowieso dabei. Ich glaube, dann würde ich nicht hier sitzen und mit Ihnen reden.«
Romer schritt umher, blieb stehen, blickte sie an.
»Nein, Sie haben recht. Sie haben absolut recht. Wie Sie gehandelt haben – operativ gesehen –, war absolut korrekt. Alle anderen um Sie herum haben gestümpert, haben sich benommen wie Trottel.« Er schenkte ihr sein strahlendes Lächeln. »Gut gemacht, Eva. Gute Arbeit. Sollen die ihren Schlamassel selber in Ordnung bringen.«
Sie stand auf. »Kann ich jetzt gehen?«
»Hätten Sie Lust auf einen Spaziergang? Trinken wir auf Ihre Feuertaufe.«
Sie fuhren mit der Straßenbahn zum Deich, der langen und imposanten Promenade von Ostende mit ihren großen Hotels und Pensionen, die an einem Ende vom wuchtigen orientalischen Bau des Kursaals mit seinen Spiel-, Tanz- und Konzerthallen überragt wurde, am anderen Ende vom massigen Klotz des Royal Palace Hotels. Die Caféterrassen des Kursaals waren alle geschlossen, also gingen sie in die Bar des Continental, wo Romer einen Whisky bestellte und Eva sich für einen trockenen Martini entschied. Der Regen hatte nachgelassen, und die Abendluft klarte so weit auf, dass sie draußen auf See die blinkenden Lichter einer Fähre vorbeiziehen sahen. Eva spürte die beruhigende Wirkung des Alkohols, während sie Romer zuhörte, der zum wiederholten Male die Abläufe des »Prenslo-Zwischenfalls« durchging, wie er ihn nun nannte, und ihr ankündigte, es könne sein, dass sie seinen geplanten Bericht für London ergänzen oder überarbeiten müsse.
»Schulkinder hätten das besser hingekriegt als diese Idioten«, sagte er. Offenbar erregte er sich immer noch über dieses Beispiel britischer Inkompetenz – als wäre es irgendwie gegen ihn persönlich gerichtet gewesen. »Warum haben die sich auf ein Treffen so nahe der Grenze eingelassen?« Mit tiefem Abscheu schüttelte er den Kopf. »Wir sind im Krieg mit Deutschland, verflucht noch mal!« Er ließ sich einen neuen Drink bringen. »Die sehen das immer noch als eine Art Spiel, bei dem sich eine bestimmte englische Haltung am Ende durchsetzt – immer nur Fairplay, Tapferkeit und Ritterlichkeit.« Er starrte schweigend auf den Tisch. »Sie haben ja keine Ahnung, wie schwierig das alles für mich ist«, sagte er und sah plötzlich müde aus, um Jahre gealtert. Es war das erste Mal, stellte Eva fest, dass er so etwas wie Verletzlichkeit zeigte oder für sich in Anspruch nahm. »Die Leute da oben – in unserer Branche –, die muss man gesehen haben, um das für möglich zu halten …«, sagte er, doch dann, als hätte er seinen Ausrutscher bemerkt, nahm er wieder Haltung an und lächelte.
Eva zog die Schultern hoch. »Was können wir tun?«
»Nichts. Oder sagen wir, das Bestmögliche unter den gegebenen Umständen. Wenigstens ist Ihnen nichts passiert«, sagte er.
»Sie können sich vorstellen, was ich mir dachte, als ich diese Autos über die Grenze rasen und vor dem Café halten sah. Dann all das Umhergerenne und die Schüsse.«
»Da war ich schon im Wald«, sagte Eva und dachte an diesen Moment zurück, sah Joos noch einmal in seinem engen Anzug aus dem Gasthaus laufen und seinen Revolver abfeuern. »Das Mittagessen war gerade vorbei – irgendwie kommt mir das Ganze immer noch unwirklich vor.«
Sie verließen das Continental, gingen auf den Deich hinaus und blickten über den Kanal in Richtung England. Es war Ebbe, der Strand glitzerte silbern und orange im Licht der Promenade.
»Verdunkelung in England«, sagte Romer. »Ich glaube, wir haben keinen Grund, uns zu beschweren.«
Sie bummelten weiter zum Chalet Royal und bogen in die Avenue de la Reine ein – sie führte direkt zu Evas Wohnung. Wie auf Ferienreise sehen wir aus, dachte sie, oder auf Hochzeitsreise – und verkniff sich den Gedanken.
»Wissen Sie, ich fühle mich immer unwohl in Belgien«, setzte Romer seine ungewohnt persönlichen Bekenntnisse fort. »Ich bin immer auf dem Sprung.«
»Warum das?«
»Weil ich hier beinahe umgekommen wäre. Im Krieg, 1918. Hier habe ich mein Glück schon zu sehr strapaziert, glaube ich.«
Romer im Krieg, dachte sie. Da muss er sehr jung gewesen sein, wenn nicht gar unter zwanzig. Wie wenig wusste sie doch über diesen Mann, der neben ihr ging, und was hatte sie nicht alles riskiert, einzig auf sein Geheiß. Vielleicht ist das so in Kriegszeiten, dachte sie. Vielleicht ist das ganz normal. Sie waren zu ihrem Haus gelangt.
»Dann will ich mal«, sagte sie.
»Ich bringe Sie zur Tür«, erwiderte er. »Ich muss sowieso zurück zur Agentur.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Danke. Es war sehr nett mit Ihnen. Wer immer an die Arbeit denkt, statt ans Vergnügen – und so weiter.«
Eva blieb vor der Haustür stehen und holte ihre Schlüssel heraus. »Ja, es war sehr nett«, sagte sie, sorgfältig darauf bedacht, sich an seine Floskeln zu halten. Ihre Blicke trafen sich, beide lächelten.
Einen kurzen Moment lang dachte Eva, dass Romer sie umarmen und küssen wollte, und ein heftiger Taumel erfasste sie.
Doch er sagte nur: »’n Abend. Bis morgen dann«, und schlenderte davon. Er hob noch halb winkend, halb grüßend die Hand und zog seinen Regenmantel über, weil es eben wieder zu nieseln begann.
Eva stand vor der Haustür – so verstört, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Aber es war nicht so sehr der Gedanke an einen Kuss von Lucas Romer als vielmehr die plötzliche Erkenntnis, dass sie ihn herbeigesehnt hatte.