14
Ein waschechter Gentleman
Ich stand mit Jochen und meiner Mutter vorm Friedhofstor von St. James, Piccadilly, und hielt meinen neuen rotbraunen Schirm in die Höhe. Es war ein kalter Septembermorgen mit Nieselregen in der Luft – dichte robbengraue Wolken zogen stetig über uns hin, während wir verfolgten, wie die Würdenträger, Gäste, Freunde und Angehörigen zur Trauerfeier für Lord Mansfield of Hampton Cleeve eintrafen.
»Ist das der Außenminister?«, fragte ich, als ein dunkelhaariger Mann im blauen Mantel von einer chauffeurbetriebenen Limousine herbeigeeilt kam.
»Das scheint ja ein ziemliches Aufgebot zu werden«, sagte meine Mutter, als ginge es um eine Hochzeit und nicht um eine Beerdigung; zwischen dem Kirchenportal und dem gusseisernen Staketenzaun des kleinen, eingesunkenen Vorhofs bildete sich eine ungeordnete Schlange. Eine Schlange von Menschen, die es nicht gewöhnt sind, Schlange zu stehen, dachte ich.
»Was wollen wir hier?«, fragte Jochen. »Das ist ein bisschen langweilig, hier draußen auf dem Gehsteig zu stehen.«
»Das ist eine Trauerfeier für einen Mann, der vor ein paar Wochen gestorben ist. Jemand, den Granny kannte – im Krieg.«
»Gehen wir da rein?«
»Nein«, sagte meine Mutter. »Ich wollte nur sehen, wer kommt.«
»War das ein netter Mann?«, fragte Jochen.
»Warum fragst du das?«, wollte meine Mutter nun wissen und wandte sich ihm zu.
»Weil du nicht sehr traurig aussiehst.«
Meine Mutter dachte nach. »Am Anfang, als ich ihn kennenlernte, fand ich ihn nett. Sehr nett. Dann merkte ich, dass ich mich geirrt hatte.«
Jochen fragte nicht weiter.
Wie meine Mutter vorausgesagt hatte, erlebte Romer den Morgen nach unserem Besuch nicht mehr. Noch in der Nacht starb er – nach Auskunft der Zeitungen – an einem »schweren Herzanfall«. Die Nachrufe erschienen an prominenter Stelle, blieben jedoch recht vage, und in Ermangelung brauchbarer Fotos wurde häufig dasselbe Porträt abgedruckt – das von David Bomberg, wie ich vermute. Über Lucas Romers Tätigkeit während des Krieges hieß es summarisch, er habe »für die Geheimdienste gearbeitet und später eine Führungsposition beim GCHQ bekleidet«. Ungleich mehr Worte wurden auf seine Verlegerkarriere verwendet. Fast schien es, als würde eine große Figur des literarischen Lebens zu Grabe getragen und kein Spion. Meine Mutter und ich, wir schauten uns die Gäste an, während die Schlange vor der Kirche länger wurde: Ich glaubte, einen Zeitungsverleger zu erkennen, den man häufig im Fernsehen erlebte, ich sah den einen oder anderen Exminister irgendeiner Vorgängerregierung, einen Romancier, der vor allem für seine Rechtslastigkeit berühmt war, und viele grauhaarige ältere Herren in perfekten Maßanzügen und mit Krawatten, die diskret auf ihre alten Verbindungen verwiesen – Regimenter, Clubs, Universitäten, akademische Gesellschaften –, auf solche jedenfalls, die sie mit Stolz zur Schau tragen konnten. Meine Mutter glaubte eine Schauspielerin zu erkennen. »Ist das nicht Vivian Leigh?«
»Die ist doch lange tot, Sal.«
Jochen zupfte mich sanft am Ärmel. »Mummy, langsam kriege ich ein bisschen Hunger.« Dann fügte er diplomatisch hinzu: »Du nicht auch?«
Meine Mutter beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Gleich werden wir alle drei sehr schön essen gehen«, sagte sie. »In einem wunderschönen Hotel nur ein kleines Stückchen weiter. Im Ritz.«
Wir saßen an einem Tisch in der Ecke des schönen Speisesaals mit einem herrlichen Blick auf den Green Park, wo sich die Platanen schon gelb färbten und vorzeitig vor dem glutheißen Sommer kapitulierten – der Herbst würde früh einsetzen in diesem Jahr. Meine Mutter lud uns ein, wie sie vor dem Essen verkündet hatte, wir sollten an diesem denkwürdigen Tag nur das Allerbeste bekommen. Sie bestellte einen Jahrgangs-Champagner, und als eingeschenkt war, stießen wir miteinander an. Jochen durfte an ihrem Glas nippen.
»Schmeckt ziemlich angenehm«, sagte er. Der Junge benahm sich sehr gut, höflich und zurückhaltend, als würde er etwas von der komplizierten und geheimen Vorgeschichte dieses London-Ausflugs ahnen.
Ich erhob das Glas auf meine Mutter.
»Nun, du hast es geschafft, Eva Delektorskaja«, sagte ich.
»Was geschafft?«
»Du hast gewonnen.« Plötzlich packte mich eine absurde Rührung, als müsste ich gleich heulen. »Letzten Endes.«
Sie zog die Stirn kraus, als wäre ihr der Gedanke nie gekommen.
»Ja«, sagte sie. »Letzten Endes. Könnte man sagen.«
Drei Wochen später saßen wir im Garten ihres Cottage. Es war ein warmer, sonniger, aber erträglicher Samstagnachmittag; die endlose Hitze des Sommers war vorüber – sie war zur Erinnerung geworden –, jetzt freuten wir uns über ein bisschen frühherbstlichen Sonnenschein und die wohltuende Wärme. Vereinzelte Wolken trieben flink dahin, ein auffrischender Wind zauste die Bäume jenseits der Wiese. Ich konnte sehen, wie er an den uralten Eichen und Buchen von Witch Wood rüttelte, und das Rascheln und Rau schen der welkenden Blätter klang bis zu uns herüber, quer über die ungemähte, trockene Wiese, während die unsichtbaren Böen in das dichte Gehölz fuhren, die dicken Äste in heftige Bewegung versetzten, so dass die riesigen Bäume wankten, um sich stießen, durch die spielerische Kraft des Windes gleichsam zum Leben erweckt wurden.
Ich schaute meiner Mutter zu, die ernst und konzentriert in einem Manuskript las, das ich ihr mitgebracht hatte. Denn ich kam von einem Gespräch mit Timothy »Rodrigo« Thorns im All Souls, wo er mir eine maschinengeschriebene Analyse meiner Zusammenfassung der Geschichte der Eva Delektorskaja überreicht hatte – und ebendie hielt sie gerade in den Händen. Bei unserem Treffen hatte Thoms vergeblich versucht, seine Erregung zu verbergen, ich spürte das Betteln und Flehen des Gelehrten hinter der ruhig vorgetragenen Darlegung dessen, was seiner Auffassung nach in Amerika zwischen Lucas Romer – »Mr A«, wie er ihn nannte – und Eva Delektorskaja vorgefallen war. Gib mir das ganze Manuskript, sagten seine Augen, lass mich machen. Ich versprach ihm nichts.
Viel von dem, was er sagte, war mir zu hoch, oder meine Konzentration ließ zu wünschen übrig – massenhaft Abkürzungen und Namen von Residenten und Rekruteuren, russischen Politbüromitgliedern und NKWD-Leuten, die vermutete Identität der Männer, die mit im Raum waren, als Eva zum Prenslo-Zwischenfall verhört wurde, und so weiter und so weiter. Seine interessanteste Aussage war, dass er Romer unmissverständlich als russischen Agenten identifizierte – davon schien er felsenfest überzeugt –, und rekrutiert worden sei er vermutlich während seines Studiums an der Sorbonne in den zwanziger Jahren.
Dieser Umstand bot ihm auch die Erklärung für das, was in Las Cruces geschehen war. Seiner Meinung nach lieferte der Zeitpunkt den entscheidenden Hinweis, denn der war eng gebunden an die Ereignisse in Russland Ende 1941, als ein anderer Sowjetspion, Richard Sorge, an Stalin und das Politbüro gemeldet hatte, Japan habe nicht vor, über die Mandschurei nach Russland vorzustoßen, sondern richte seine Interessen auf den Westen und den Pazifik. Die unmittelbare Konsequenz für die Russen bestand darin, dass eine große Zahl von Divisionen für den Kampf gegen die Deutschen frei wurde, die noch immer auf Moskau vorrückten. Aber der deutsche Vormarsch wurde durch den zähen russischen Widerstand gebremst; die Überdehnung der Nachschublinien, Ermüdung und der Wintereinbruch sorgten dann dafür, dass er wenige Meilen vor Moskau zum Stillstand kam.
Thoms griff nach einem Buch und öffnete es an einer markierten Stelle, nachdem er mir das Vorangegangene erklärt hatte. »Ich zitiere Harry Hopkins«, sagte er. Bei dem Namen Harry Hopkins musste ich sofort an Mason Harding denken.
Thoms las: »Als sich die neuen russischen Armeen von der mandschurischen Front um Moskau formierten und auf den Befehl zum unausbleiblichen Gegenangriff warteten, setzte sich beim russischen Oberkommando – und vor allem auch beim NKWD und den anderen Geheimdiensten – die Erkenntnis durch, dass sich das Blatt gewendet hatte: Die Aussicht, dass Russland die Deutschen schlagen konnte, erschien plötzlich realistisch. Gewisse Kräfte in der Sowjetregierung begannen an die Zukunft zu denken, an die politische Neuordnung der Nachkriegswelt.«
»Was hat das mit der Agentin Salbei zu tun, die sich in der Wüste von New Mexico aus einem Auto befreien musste?«
»Das ist ja gerade das Faszinierende«, sagte er. »Sehen Sie, einige Russen, besonders bei den Geheimdiensten, überlegten sich, dass es auf lange Sicht das Beste war, wenn die USA nicht in den Krieg eintraten. Wenn die Russen tatsächlich siegten, würde ihnen nichts so sehr zuwider sein wie eine starke US-Präsenz in Europa. Russland könne, genügend Zeit vorausgesetzt, den Krieg auch allein gewinnen. Nicht alle stimmten dem zu, natürlich.«
»Ich kann noch immer nicht folgen.«
Er erklärte: Gegen Ende 1941 richtete der NKWD seine Aufmerksamkeit auf die energischen Anstrengungen der Briten, die USA zu einem Bündnis mit England und Russland gegen die Nazis zu bewegen. Diese Bemühungen schienen Früchte zu tragen: Aus russischer Sicht sah es so aus, als würde Roosevelt nur auf einen geeigneten Anlass warten, um der geplanten Allianz beizutreten. Das Auftauchen der brasilianischen Landkarte spielte eine Schlüsselrolle in diesem Propagandakrieg – offenbar führte sie tatsächlich einen Stimmungswandel herbei. Ein großer Coup der BSC, so sagte man. Die öffentliche Meinung der USA sprach viel eher auf eine Bedrohung an, die sich an den eigenen Grenzen aufbaute, als auf eine, die dreitausend Meilen entfernt war.
Also, schlussfolgerte Thorns, war genau diese Entwicklung wahrscheinlich die Ursache dafür, dass Mr A durch seine Hintermänner instruiert wurde, die zunehmend erfolgreiche Propaganda der BSC zu unterminieren und als solche zu entlarven. Für Thorns’ Begriffe waren die Ereignisse von Las Cruces sehr typisch für diese Art von Destabilisierungsmanövern. Wäre die Agentin Salbei tot aufgefunden worden, mit einer gefälschten deutschen Landkarte von Mexiko in der Tasche, wäre die ganze Südamerika-Aktion der BSC als der Schwindel aufgeflogen, der er tatsächlich war, und die isolationistischen Kräfte in den USA, die gegen den Kriegseintritt votierten, hätten gewaltigen Auftrieb bekommen.
»Also sollte Salbei der rauchende Colt werden«, sagte ich. »Die BSC enttarnt – das perfide Albion mal wieder.«
»Ja. Und Mr A ging mit völlig sauberen Händen daraus hervor. Es war eine brillante, äußerst clevere Operation. Mr A gab Salbei keinerlei Instruktionen über den anfänglichen Kurierauftrag hinaus – alles, was Salbei auf dem Weg nach New Mexico und in Las Cruces unternahm, war improvisiert, völlig ungeplant und aus der jeweiligen Situation erwachsen. Man glaubte offenbar, darauf bauen zu können, dass Salbei seine eigene Liquidierung bewerkstelligte. Gnadenlos, bedenkenlos.«
Ihre eigene Liquidierung, korrigierte ich im Stillen. Aber sie war schlauer als alle anderen.
»Jedenfalls spielte das dann keine Rolle mehr«, sagte Thoms mit sarkastischem Lächeln. »Die Japaner retteten die Lage mit ihrem Angriff auf Pearl Harbor – und genauso Hitler mit seiner einseitigen Kriegserklärung an die USA ein paar Tage später –, eine Sache, die anscheinend immer vergessen wird. Das änderte alles – und für immer. Und es sorgte dafür, dass Salbeis Kompromittierung, hätte sie denn stattgefunden, keinerlei Auswirkungen mehr gehabt hätte. Die USA waren endlich in den Krieg eingetreten. Mission erfüllt.«
Thoms wies noch auf einige andere Punkte hin. Zum Beispiel schrieb er dem Mord an Nikitsch eine große Bedeutung zu. Informationen, die das FBI von Nikitsch erhalten hatte, schienen Morris Devereux im November 1941 zu Ohren gekommen zu sein, und sie verwiesen auf eine tiefgreifende sowjetische Infiltration der britischen Sicherheits- und Geheimdienste. (»Heute wissen wir, wie weit sie ging«, fügte Thoms hinzu, »Burgess, Maclean, Philby – und wer weiß, wer von der Bande noch da draußen herumschleicht.«) Devereux wäre niemals darauf gekommen, dass Mr A ein »Gespenst« war, hätten nicht Salbeis Erlebnisse in Las Cruces ernstliche Zweifel und die Frage nach den Schuldigen provoziert. Devereux war ganz offensichtlich im Begriff, Mr A zu enttarnen, als er ermordet wurde. Sein Tod – sein »Selbstmord« – besaß alle Merkmale eines NKWD-Mords, was wiederum die These stützte, dass Mr A kein deutscher, sondern ein russischer Agent war.
»Ich vermute, bei Mr X handelt es sich um Alastair Denniston, den Chef der Government Code and Cypher School«, sagte Thoms, als er mich zu meinem Auto brachte. »Er hätte die Machtbefugnisse besessen, seine eigenen ›Irregulären‹ auf den Weg zu bringen. Und überlegen Sie sich mal Folgendes, Ruth: Wenn Mr A, was ja wohl hochwahrscheinlich ist, als NKWD-Agent im GCHQ tätig war, dann hat er während des Krieges mehr für die Russen getan als alle Cambridge-Spione zusammengenommen. Unglaublich.«
»Wieso?«
»Nun, das ist der eigentliche Ertrag der Informationen, die Sie mir gegeben haben. Wenn das publik gemacht würde, wäre das ein Schock. Ein Riesenskandal.«
Ich sagte nichts mehr. Er fragte mich, ob ich irgendwann mal mit ihm essen gehen würde, und ich vertröstete ihn, ich würde mich melden – mein Leben sei im Moment ein wenig hektisch. Ich bedankte mich sehr bei ihm, fuhr nach Middle Ashton und holte Jochen auf dem Weg dorthin ab.
Meine Mutter schien auf der letzten Seite angekommen zu sein. Sie las vor: »Damit soll jedoch die Geschichte des Agenten Sage nicht abgewertet werden. Das Material, das Sie mir zugänglich machten, bietet nicht nur faszinierende Einblicke in die gewaltigen Ausmaße der BSC-Aktivitäten in den USA, sondern auch in die Kleinarbeit der BSC. All dies ist eine fesselnde Materie, wie ich wohl nicht betonen muss, denn die Aktivitäten der BSC wurden in all den Jahren fest unter Verschluss gehalten. Bis heute hat kein Außenstehender auch nur die geringste Vorstellung vom Ausmaß der britischen Geheimdienstoperationen in den USA vor Pearl Harbor. Sie können sich vorstellen, wie diese Neuigkeiten von unseren Freunden jenseits des Atlantiks aufgenommen würden. ›Besondere Beziehungen‹ herzustellen reichte nicht aus – wir brauchten die British Security Coordination, um noch den entscheidenden Schritt weiterzugehen.«
Sie warf das Manuskript ins Gras und stand auf – offensichtlich empört. Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar und ging ins Haus. Ich lief ihr nicht nach – sicher brauchte sie ein wenig Zeit, um die Analyse zu verarbeiten, zu sehen, ob sich alles zu einem stimmigen Bild zusammenfügte.
Ich griff nach den Seiten, klopfte sie auf den Knien zurecht und dachte absichtlich an andere Dinge – etwa an die spannenden Neuigkeiten, die am Morgen mit der Post gekommen waren: eine Einladung zur Hochzeit von Hugues Corbillard und Bérangère Wu in Neuilly bei Paris und wieder ein Brief von Hamid, abgeschickt in der Stadt Makassar auf der Insel Celebes, mit der Nachricht, dass sein Gehalt auf 65000 Dollar gestiegen sei und er hoffe, noch vor Jahresende einen Monat Urlaub zu bekommen, um nach Oxford zu fliegen und mich und Jochen zu besuchen. Hamid schrieb mir regelmäßig jede Woche; er hatte mir meinen Ausrutscher im Captain Bligh verziehen, ohne dass ich ihn darum bitten musste oder bevor ich es tun konnte. Ich bin eine sehr schlechte Briefschreiberin – und habe ihm nur zweimal kurz geantwortet, glaube ich –, aber ich hatte das Gefühl, dass Hamid sein hartnäckiges Werben auch ohne mein Zutun noch lange fortsetzen würde.
Meine Mutter kam zurück, ein Päckchen Zigaretten in der Hand. Sie schien wieder beruhigt, als sie sich setzte, und bot mir eine an (die ich ablehnte, denn wegen Jochens ständiger Nörgelei wollte ich aufhören).
Sie zündete ihre Zigarette an, und ich schaute ihr zu.
»Kannst du was damit anfangen?«, fragte ich behutsam.
Sie zuckte die Schultern. »Wie hat er sich ausgedrückt? ›Die Kleinarbeit der BSC …‹ Ich vermute, er hat recht. Hätte de Baca mich umgebracht, wäre es nicht anders gekommen. Pearl Harbor stand kurz bevor, auch wenn das damals keiner geahnt hat.« Sie lachte kurz auf, aber nicht, weil sie das lustig fand. »Morris sagte immer, wir sind wie Bergarbeiter, die tief im Untergrund Kohle fördern, ohne zu wissen, was die Bergwerksindustrie da oben treibt. Pick-pick-pick – hier, ein Stückchen Kohle.«
Ich dachte eine Weile nach, dann sagte ich: »Roosevelt hat diese Rede nie gehalten, in der er deine mexikanische Karte als Beweis anführen wollte, stimmt’s? Das wäre toll gewesen. Hätte vielleicht alles geändert.«
»Du bist sehr nett, Liebling«, sagte meine Mutter. Ich merkte schon, dass ich sie heute nicht aufmuntern konnte, egal, was ich anstellte. Sie wirkte wie von einer resignierten Müdigkeit befallen – zu viele unselige Erinnerungen schwirrten ihr durch den Kopf. »Roosevelt sollte die Rede am 10. Dezember halten«, sagte sie. »Aber dann kam Pearl Harbor dazwischen, und er brauchte die mexikanische Karte nicht mehr.«
»Thoms behauptet also, dass Romer ein russischer Spion war – wie Philby, Burgess, Maclean. Ich nehme an, dass sich Romer deshalb umgebracht hat. Zu alt, um noch zu fliehen, wie sie es taten.«
»Das ist auch viel plausibler«, sagte sie. »Ich konnte nie verstehen, wieso Morris ihn für einen Agenten der deutschen Abwehr hielt.« Sie zeigte ein leeres Lächeln. »Trotzdem ist es gut zu wissen, wie unbedeutend und kleinkariert das alles war, wenn es ums ›große Ganze‹ geht«, fügte sie mit wehmütiger Ironie hinzu. »Ich muss schon sagen.«
»Es war nicht unbedeutend und kleinkariert, was du getan hast«, sagte ich und legte die Hand auf ihren Arm. »Alles hängt davon ab, wie man die Dinge betrachtet. Du bist mit de Baca in die Wüste gefahren – und niemand sonst.«
Sie sah plötzlich müde aus. Sie erwiderte nichts und drückte ihre halb gerauchte Zigarette aus.
»Geht’s dir nicht gut, Sal?«, fragte ich.
»Ich kann nicht richtig schlafen«, sagte sie. »Hat dich jemand kontaktiert? Gibt es etwas Verdächtiges?«
»Ich steige sofort ins Auto und fahre nach Hause, wenn du wieder davon anfängst. Mach dich nicht lächerlich. Es ist vorbei.«
Sie hörte mir nicht zu. »Siehst du, das war der Fehler. Mein Fehler. Und das beschäftigt mich. Du hättest dich unter einem anderen Namen bei ihm melden müssen.«
»Das hätte nicht funktioniert. Er hätte das recherchiert. Ich musste ihm ehrlich sagen, wer ich war. Darüber haben wir hundertmal gesprochen. Bitte!«
Wir saßen da und schwiegen.
»Wo ist Jochen?«, fragte ich.
»Drinnen. Er malt.«
»Wir sollten langsam los.« Ich stand auf. »Ich sammel mal seinen Kram ein.« Ich faltete Rodrigos Manuskript zusammen und dachte nach.
»Nur eins verstehe ich daran nicht«, sagte ich. »Warum ist Romer überhaupt russischer Spion geworden?«
»Das müsste man bei allen fragen. Schau sie dir an: Sie waren alle aus dem Mittelstand, gut gebildet, privilegiert, gehörten zum Establishment.«
»Aber schau doch, wie Romer gelebt hat – wie die Made im Speck. Geld, Karriere, Macht, Einfluss, schöne Häuser. ›Baron Mansfield of Hampton Cleeve‹ – sogar einen Adelstitel hatte er. Von vorn bis hinten verwöhnt vom britischen Establishment, meinst du nicht auch?«
Meine Mutter war ebenfalls aufgestanden, lief nun über den Rasen und sammelte Jochens Spielsachen ein. Sie richtete sich auf, ein Plastikschwert in der Hand. »Romer hat mir beigebracht, dass es nur drei Gründe gibt, warum jemand sein Land verrät: Geld, Erpressung und Rache.«
Sie überreichte mir das Schwert und las eine Wasserpistole, einen Bogen und zwei Pfeile auf.
»Geld war es nicht«, sagte ich. »Erpressung auch nicht. Also wofür wollte er sich rächen?«
Wir gingen zusammen zurück ins Cottage.
»Am Ende läuft es auf etwas sehr Englisches heraus, glaube ich«, sagte sie ernst und nachdenklich. »Bedenke, dass ich erst mit achtundzwanzig hierherkam. Manchmal sieht man in einer fremden Welt Dinge, die die Einheimischen gar nicht wahrnehmen. Bedenke auch, Romer war der erste Engländer, den ich kennenlernte … gut kennenlernte«, fügte sie hinzu, und ich spürte, dass der Schmerz noch immer in ihr lebendig war, von der Erinnerung aufgefrischt wurde. Sie schaute mich an mit ihren hellen, klaren Augen, als würde sie schon mit meinem Widerspruch rechnen. »Und ihn so zu kennen wie ich, mit ihm zu reden, bei ihm zu sein, ihn zu beobachten, hat in mir manchmal den Gedanken geweckt, dass es genauso leicht ist – unter Umständen sogar natürlicher –, dieses Land zu hassen, wie dieses Land zu lieben.« Sie lächelte wehmütig. »Als ich ihn in jener Nacht sah: Lucas Romer, Lord Mansfield mit seinem Bentley, seinem Butler, seinem Haus in Knightsbridge, seinem Club, seinen Verbindungen, seinem Renommee … da dachte ich mir: Das war seine Rache. Er hat alles, was Menschen für erstrebenswert halten: Geld, Ansehen, Lebensstil, Rang – sogar einen Adelstitel. Er war ein Lord, man höre und staune! Und er hat sich ins Fäustchen gelacht. Er hat sie alle ausgelacht. Den ganzen Tag – wenn er von seinem Chauffeur in den Club gefahren wurde, wenn er ins Oberhaus ging, wenn er in seinem Salon in Knightsbridge saß –, immer lachte er.«
Auf einmal wirkte sie resigniert. »Deshalb wusste ich genau – mit absoluter Sicherheit –, dass er sich noch in der Nacht umbringen würde. Es ist besser zu sterben, solange man geehrt, bewundert, respektiert wird. Gäbe es einen Himmel, würde er auf seine Trauerfeier hinunterblicken und weiterlachen – über all diese Politiker und Würdenträger, die da sein Andenken pflegen. Der gute alte Lucas, der feine Kerl, das Salz der Erde, ein waschechter Gentleman. Du sagst, ich hätte gewonnen – aber Romer hat auch gewonnen.«
»Bis Rodrigo mit seinem Buch herauskommt. Dann fliegt alles auf.«
»Darüber müssen wir auch bald mal reden«, sagte sie. »Ich bin gar nicht so glücklich darüber, um die Wahrheit zu sagen.«
Wir fanden Jochen im Zimmer, er gab ihr seine Zeichnung – von einem Hotel, erklärte er, noch schöner als das Ritz –, und wir verstauten alles im Auto.
»Ach ja«, sagte ich, »noch etwas, was mich beschäftigt. Es ist vielleicht albern, aber … wie war er eigentlich, mein Onkel Kolja?«
Sie richtete sich auf. »Onkel Kolja«, wiederholte sie, wie um die unvertraute Bezeichnung auszuprobieren, abzuschmecken, dann sah ich, dass sie Mühe hatte, die Tränen zurückzuhalten. »Er war wundervoll«, sagte sie mit erzwungener Heiterkeit. »Du hättest ihn gemocht.«
Ich fragte mich, ob es ein Fehler war, ausgerechnet in dieser Situation nach ihm zu fragen, aber meine Neugier war echt. Ich setzte Jochen ins Auto und stieg ein.
Um ihr ein letztes Mal zuzureden, kurbelte ich die Scheibe herunter. »Es ist alles gut, Sal. Aus und vorbei. Du musst dir keine Sorgen mehr machen.«
Sie blies uns einen Kuss zu und kehrte ins Haus zurück.
Wir waren gerade losgefahren, da sagte Jochen: »Ich glaube, ich hab meinen Pulli in der Küche vergessen.« Ich hielt an und stieg aus, ging zurück zur Haustür, stieß sie auf und rief fröhlich: »Ich bin’s nur.« Jochens Pulli lag in der Küche, auf dem Fußboden unter einem Stuhl. Ich hob ihn auf und stellte fest, dass meine Mutter nicht da war. Sie musste gleich zurück in den Garten gegangen sein.
Als ich durchs Fenster schaute, sah ich sie schließlich, halb versteckt vom Goldregen neben der Pforte, die hinaus auf die Wiese führte. Sie stand an der Hecke und blickte durchs Fernglas zum Wald hinüber. Langsam ließ sie es in die eine, dann in die andere Richtung wandern. Die alten Eichen jenseits der Wiese wurden noch immer vom Wind geschüttelt, und meine Mutter suchte zwischen den Stämmen, in den Schatten des Unterholzes nach Anzeichen, ob dort jemand lauerte, nur auf den Moment wartete, dass sie ihre Vorsicht vergaß. Und da begriff ich, dass es ihr nie mehr vergönnt sein würde, sorglos und entspannt in den Tag hinein zu leben. Meine Mutter würde immer zum Witch Wood hinüberschauen, so wie jetzt, in der Erwartung, dass jemand kommen und sie wegholen würde. Ich stand in der Küche und sah sie Ausschau halten nach ihrem Schicksal, ihrer Nemesis, und da war mir plötzlich klar, dass das unser aller Leben bestimmt, dass es das ist, was uns ausmacht, unsere Sterblichkeit, unsere Menschlichkeit. Eines Tages kommt jemand und holt uns weg; man braucht keine Spionagevergangenheit, dachte ich, um genauso zu empfinden. Meine Mutter stand und schaute, schaute über die Wiese zu den Bäumen hinüber.
Und die Bäume im dunklen Wald wiegten sich im Wind, die Wolken trieben dahin und jagten die sonnigen Stellen quer über die Wiese. Ich sah das trockene, ungemähte Gras wogen, fast wie ein lebendiges Wesen, wie das Fell eines großen Tiers; windgezaust, windgestreichelt – und meine Mutter schaute, wartete.