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Super-jolie nana
Ich hoffte sehr, dass Hamid seine Stunde absagen, vielleicht sogar einen Lehrerwechsel beantragen würde, aber es kam kein Anruf von Oxford English Plus, also hangelte ich mich ein wenig unkonzentriert durch die Stunde mit Hugues und schreckte vor dem nahenden Moment zurück, da Hamid wieder vor mir stehen würde. Hugues schien nichts von meiner Nervosität zu merken und füllte einen großen Teil seiner Stunde damit aus, mir auf Französisch vom Besuch eines riesigen Schlachthofs in der Normandie zu erzählen, dessen Personal fast durchweg aus dicken Frauen bestanden habe.
Ich brachte ihn durch die Küche zur Treppe, und wir standen noch eine Weile in der Sonne, mit Blick auf den Garten unter uns. Meine neuen Möbel – ein Plastiktisch mit vier Plastikstühlen in Weiß und ein ungeöffneter kirschrot-pistazienfarbener Sonnenschirm – waren am hinteren Ende unter der großen Platane aufgestellt. Mr Scott machte seine Sprungübungen zwischen den Rabatten – wie ein Rumpelstilzchen im weißen Kittel versuchte er mit seinem Gestampfe, die Erdkruste zu durchstoßen und zum brodelnden Magma vorzudringen. Er fuchtelte mit den Armen, sprang auf und ab, bewegte sich seitlich und wiederholte die Übung.
»Was ist das für ein Verrückter?«, fragte Hugues.
»Das ist mein Vermieter und Zahnarzt.«
»Sie lassen diesen Wahnsinnigen an Ihre Zähne heran?«
»Er ist der normalste Mensch, den ich je getroffen habe.«
Hugues verabschiedete sich und polterte die Treppe hinab. Ich lehnte mich mit dem Hintern ans Geländer und sah Mr Scott zu, der nun mit seinen Atemübungen begann (Knie berühren, Arme hochwerfen und Lungen füllen). Dann hörte ich Hugues auf dem Weg, der seitlich am Haus vorbeiführte, mit Hamid zusammentreffen. Irgendein Trick der Akustik – der Klang ihrer Stimmen, die Beschaffenheit des Mauerwerks – trug ihre Worte bis zu mir hinauf.
»Bonjour, Hamid. Ça va?«
»Ça va.«
»Heute ist sie ziemlich seltsam.«
»Wer, Ruth?«
»Ja. Irgendwie nicht bei der Sache.«
»Oh.«
Pause. Ich hörte Hugues eine Zigarette anzünden.
»Magst du sie?«, fragte Hugues.
»Klar.«
»Ich glaube, sie ist sexy. Auf die englische Art – du verstehst.«
»Ich mag sie sehr.«
»Tolle Figur, die Frau. Super-jolie nana.«
»Figur?« Hamid schien nicht hinzuhören.
»Na, du weißt schon.« Hier dürfte Hugues entsprechende Handbewegungen gemacht haben. Vermutlich deutete er die Form meiner Brüste an.
Hamid lachte nervös. »Darauf achte ich nicht.«
Sie gingen weiter, und ich sah Hamid die Treppe heraufkommen. Mit gesenktem Kopf, als würde er das Schafott besteigen.
»Hamid«, sagte ich. »Guten Morgen.«
Er blickte auf.
»Ruth, ich komme, um mich zu entschuldigen, und dann gehe ich zu Oxford English Plus und beantrage einen neuen Lehrer.«
Ich beruhigte ihn, nahm ihn mit hinein ins Arbeitszimmer und versicherte ihm, dass ich nicht gekränkt sei, dass diese Dinge zwischen erwachsenen Schülern und Lehrern eben vorkämen, besonders beim Einzelunterricht und in Anbetracht der langen Arbeitsbeziehung, die sich aus dem Lehrprogramm ergebe. Also nichts für ungut, machen wir einfach weiter, als wäre nichts gewesen.
Er hörte mir geduldig zu, dann sagte er: »Nein, Ruth, bitte. Ich meine es ehrlich. Ich liebe Sie.«
»Was hat das für einen Sinn? In zwei Wochen gehen Sie nach Indonesien. Wir sehen uns nie wieder. Vergessen wir das, bleiben wir Freunde. Wir können für immer Freunde sein.«
»Nein, ich muss ehrlich zu Ihnen sein, Ruth. Das ist mein Gefühl. Was ich im Herzen fühle. Ich weiß, dass Sie für mich nicht dasselbe fühlen, aber ich bin verpflichtet, Ihnen zu sagen, wie meine Gefühle gewesen waren.«
»Meine Gefühle waren.«
»Meine Gefühle waren.«
Wir saßen schweigend da, Hamid ließ die Augen nicht von mir.
»Was sollen wir jetzt machen?«, sagte ich schließlich. »Wollen Sie die Stunde fortsetzen?«
»Wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Sehen wir, wie es klappt. Möchten Sie eine Tasse Tee? Ich brauche dringend eine Tasse Tee.«
Wie aufs Stichwort klopfte es an die Tür.
Ilse steckte den Kopf herein. »Sorry, Ruth. Wo ist Tee? Ich suche, aber Ludger schläft noch.«
Wir gingen in die Küche, und ich machte eine Kanne Tee für Hamid, Ilse, mich und, falls er denn aufwachte, den schlafenden Ludger.
Bobbie York reagierte mit gespielter Überraschung – die Hand an der Stirn, taumelte er ein paar Schritte rückwärts –, als ich unangemeldet bei ihm auftauchte.
»Was verschafft mir diese Ehre?«, fragte er, als er mir einen seiner »winzigen« Whiskys einschenkte. »Zweimal in einer Woche. Ich könnte – zum Beispiel was? – einen Jig tanzen, nackt über den Hof laufen, eine Kuh schlachten oder so was.«
»Ich brauche Ihren Rat«, sagte ich so einschmeichelnd wie nur möglich.
»Wo Sie Ihre Dissertation publizieren können?«
»Eher nicht. Sondern wie man ein Treffen mit Lord Mansfield of Hampton Cleeve arrangiert.«
»Ah, die Sache spitzt sich zu. Schreiben Sie einfach einen Brief und bitten Sie um einen Termin.«
»So läuft das nicht, Bobbie. Es muss einen Grund geben. Er ist pensioniert, über siebzig und lebt, wie es aussieht, sehr zurückgezogen. Warum sollte er sich mit mir treffen, wenn er mich gar nicht kennt?«
»Das leuchtet ein.« Bobbie reichte mir das Glas und setzte sich gemächlich hin. »Was macht übrigens Ihre Verbrennung?«
»Schon viel besser, vielen Dank.«
»Nun, warum sagen Sie nicht einfach, Sie schreiben einen Essay – über eine Sache, mit der er zu tun hatte, Verlagswesen, Journalismus.«
»Oder was er im Krieg gemacht hat.«
»Oder was er im Krieg gemacht hat. Das wäre noch spannender.« Bobbie war kein Trottel. »Ich vermute, dass da Ihr Interesse liegt. Schließlich sind Sie Historikerin. Sagen Sie ihm, Sie schreiben ein Buch und wollen ihn interviewen.«
Ich überlegte. »Oder einen Artikel.«
»Ja – das ist viel besser. Appellieren Sie an seine Eitelkeit. Sagen Sie, Sie schreiben für den Telegraph oder die Times. Das könnte ihn aus seinem Bau locken.«
Auf dem Heimweg hielt ich am Kiosk und kaufte mir alle wichtigen Zeitungen, um mein Gedächtnis aufzufrischen. Ich überlegte: Kann man sagen, ich schreibe einen Artikel für die Times oder den Telegraph? Ja, sagte ich mir, das ist nicht gelogen – jeder kann so einen Artikel schreiben, das heißt ja nicht, dass sie ihn nehmen; es ist nur dann eine Lüge, wenn man behauptet, man hätte den Auftrag dazu. Ich griff erst nach dem Telegraph, weil ich dachte, dass ihn ein Lord am ehesten akzeptieren würde, aber dann kaufte ich auch die anderen – es war lange her, dass ich einen Stapel britischer Tageszeitungen durchgeackert hatte. Beim Suchen sah ich eine Frankfurter Allgemeine. Auf dem Titelblatt das Foto von Baader, das ich im Fernsehen gesehen hatte – der Mann, den Ludger angeblich aus seiner Porno-Karriere kannte. Die Schlagzeile bezog sich auf den Baader-Meinhof-Prozess in Stammheim. 4. Juli – der Prozess ging in seinen hundertzwanzigsten Tag. Ich legte die Zeitung auf meinen Stapel. Erst tauchte Ludger bei mir auf, dann auch noch diese seltsame Ilse – ich hatte das Gefühl, dass ich mich mal wieder mit dem deutschen Terrorismus befassen musste. Ich fuhr mit meinem Lesestoff nach Hause, und am Abend, nachdem ich Jochen zu Bett gebracht hatte (Ludger und Ilse waren in ein Pub gegangen), schrieb ich einen Brief an Lucas Romer, Baron Mansfield of Hampton Cleeve c/o House of Lords, mit der Bitte um ein Interview für einen Artikel über den britischen Geheimdienst im Zweiten Weltkrieg, den ich für den Daily Telegraph schrieb. Es fühlte sich seltsam an, »Sehr geehrter Lord Mansfield« zu schreiben, einen Brief an den ehemaligen Liebhaber meiner Mutter zu richten. Ich drückte mich knapp und präzise aus – mal sehen, wie er reagierte, wenn überhaupt.