12
SAVAK
Hugues bot mir einen weiteren Drink an – ich wusste, dass ich ab lehnen musste (ich hatte schon zu viel getrunken), sagte natürlich trotzdem ja und folgte ihm an den von Pfützen und Zigarettenasche übersäten Tresen des Captain Bligh.
»Kann ich bitte auch Erdnüsse haben?«, fragte ich fröhlich den mürrischen Barmann. Ich war zu spät gekommen und hatte das kalte Buffet im Obergeschoss verpasst – die Baguettescheiben mit Käse, die Wurströllchen, schottischen Eier und Schweinspastetchen – alles Kohlehydrate, die ein gutes Fundament für die Drinks gebildet hätten. Es gab keine Erdnüsse, wie sich herausstellte, aber sie hatten Chips – wenn auch nur die mit Salz und Essig. Dann eben Chips mit Salz und Essig, sagte ich, und plötzlich bekam ich einen richtigen Heißhunger auf Salziges und Saures. Das war nach meinem fünften Wodka Tonic, und ich wusste schon, dass ich nicht mehr nach Hause fahren konnte.
Hugues überreichte mir den Drink und dann – mit spitzen Fingern – die Tüte mit den Chips. »Santé«, sagte er.
»Cheers.«
Bérangère schob sich von hinten heran und hakte sich bei ihm ein, ziemlich besitzergreifend, wie ich fand. Mir lächelte sie zu. Ich hatte gerade den Mund voller Chips, also konnte ich nicht sprechen: Für das Captain Bligh und die Cowley Road sah die gute Bérangère einfach zu exotisch aus, und ich sah ihr an, dass sie schleunigst von dort wegwollte.
»On s’en va?«, flehte sie Hugues an. Hugues wandte sich zu ihr, sie tuschelten. Ich hatte meine Tüte schon leer gegessen – in etwa drei Sekunden, wie mir schien – und ging auf Abstand. Hamid hatte recht, sie waren ein Paar geworden. Hugues und Bérangère, P’TIT PRIX und Fourrures de Monte Carlo – und das unter meinem Dach.
Ich lehnte mich an den Tresen, schlürfte meinen Drink und schaute mich im verräucherten Pub um. Ich fühlte mich prächtig und war an dem Punkt angelangt – auf der Kippe, in der Schwebe –, wo man noch entscheiden kann, ob man aufhört oder weitertrinkt. In meinem Cockpit blinkten die roten Warnlichter, aber das Flugzeug war noch nicht im tödlichen Sturzflug. Ich sah mir die Leute an: So gut wie alle hatten sich vom Bankettraum nach unten begeben, als das kalte Buffet und die Gratis-Drinks (Flaschenbier und Billigwein) abgeräumt waren. Alle vier Tutoren von Hamid waren gekommen und auch die anderen Studenten, die bei ihnen Unterricht hatten – einschließlich der kleinen Dusendorf-Truppe, die dieses Jahr vor allem aus Iranern und Ägyptern bestand, wie sich zeigte. Es herrschte eine lautstarke, aufgeladene Atmosphäre, besonders im Umkreis von Hamid, der sich einigen Spott über seine bevorstehende Abreise nach Indonesien anhören musste, was er aber mit Fassung trug – resigniert lächelnd, fast schüchtern.
»Hi, darf ich Sie zu einem Drink einladen?«
Ich drehte mich um und stand vor einem großen, schlanken Mann mit ausgeblichenen Jeans und gebatiktem T-Shirt, langem dunklem Haar und Schnurrbart. Er hatte blassblaue Augen und sah, soweit ich es in meinem Zustand – auf der Kippe und noch unentschieden, wohin die Reise ging – beurteilen konnte, unverschämt gut aus. Ich hob meinen Wodka Tonic, um ihm zu demonstrieren, dass ich versorgt war.
»Danke, kein Bedarf.«
»Nehmen Sie noch einen. In zehn Minuten schließt die Bar.«
»Ich bin mit einem Freund da«, sagte ich und zeigte mit dem Glas auf Hamid.
»Schade«, sagte er und ging.
Ich trug mein Haar offen, dazu neue, gerade geschnittene Jeans und ein ultramarinblaues T-Shirt mit Puffärmeln und V-Ausschnitt, das einen ziemlich tiefen Einblick erlaubte. Außerdem hatte ich meine Stiefel mit Absatz an und kam mir groß und sexy vor. Ich selbst wäre ohne weiteres auf mich abgefahren … Ein Weilchen wärmte ich mich an dieser Vorstellung, dann rief ich mir mahnend ins Gedächtnis, dass mein fünfjähriger Sohn bei seiner Großmutter übernachtete und ich nicht verkatert sein wollte, wenn ich ihn abholen fuhr. Ein weiterer Drink kam also nicht in Frage.
Hamid gesellte sich zu mir an die Bar. Zu seiner neuen Lederjacke trug er ein kornblumenblaues Hemd. Ich legte ihm den Arm um die Schulter.
»Hamid!«, rief ich mit scherzhafter Empörung. »Ich kann nicht glauben, dass Sie uns verlassen. Was sollen wir ohne Sie anfangen?«
»Ich kann auch nicht.«
»Kann’s auch nicht.«
»Kann’s auch nicht. Ich bin sehr traurig, wissen Sie? Ich hatte gehofft, dass …«
»Womit hat man Sie aufgezogen?«
»Oh – mit den indonesischen Mädchen. Sehr naheliegend.«
»Ja, sehr naheliegend. Bei Männern sehr naheliegend.«
»Möchten Sie noch einen Drink, Ruth?«
»Gern. Noch einmal Wodka Tonic.«
Wir setzten uns auf die Barhocker und warteten auf die Drinks. Hamid hatte Bitter Lemon bestellt – und mir fiel plötzlich ein, dass er keinen Alkohol trank; schließlich war er Moslem.
»Sie werden mir fehlen, Ruth«, sagte er. »Unsere Stunden – ich kann nicht glauben, dass ich am Montag nicht mehr zu Ihnen komme. Das waren drei Monate, Sie wissen ja: zwei Stunden, fünfmal die Woche. Ich habe nachgezählt: Das sind über dreihundert Stunden, die wir zusammen verbracht haben.«
»Teufel noch mal«, sagte ich mit einer gewissen Aufrichtigkeit. Ich bremste mich und erklärte: »Aber denken Sie daran, Sie hatten noch drei andere Lehrer. Sie haben genauso viel Zeit verbracht mit Oliver«, ich zeigte auf ihn, »mit Pauline und, wie heißt er gleich, da drüben bei der Jukebox?«
»Klar, das stimmt schon«, sagte Hamid und wirkte ein bisschen gekränkt. »Aber das war nicht dasselbe, Ruth. Das mit Ihnen war anders, glaube ich.« Er griff nach meiner Hand. »Ruth …«
»Ich muss mal kurz für Mädchen. Bin gleich zurück.«
Der letzte Wodka hatte mich voll erwischt, ich kippte aus dem Gleitflug ab und schlitterte einen Hang aus Schotter und Geröll hinab. Mein Kopf war klar, er funktionierte noch, aber alles um mich herum geriet aus den Fugen, senkrecht und waagerecht waren nicht mehr so sauber definiert, und merkwürdigerweise bewegten sich meine Füße schneller, als sie mussten. Mit Karacho schoss ich auf den Korridor hinaus, der zu den Toiletten führte. Dort hingen ein Telefon- und ein Zigarettenautomat. Plötzlich fiel mir ein, dass meine Schachtel fast leer war, ich blieb stehen und kramte nach Münzen, bis ich merkte, dass der Druck auf meiner Blase stärker war als meine Gier nach Nikotin.
Ich ging auf die Toilette und ließ es laufen, was mich ungeheuer erleichterte. Zum Händewaschen stellte ich mich vor den Spiegel, blickte mir für ein paar Sekunden tief in die Augen und strich meine Frisur zurecht.
»Du bist besoffen, du blöde Kuh«, zischte ich leise, aber hörbar durch die Zähne. »Ab nach Hause!«
Ich ging hinaus auf den Korridor, und dort stand Hamid und tat so, als wollte er telefonieren. Die anschwellende Musik aus dem Pub – »I heard it on the Grapevine« – wirkte beinahe wie ein Pawlow’scher Reflex auf mich, und irgendwie, nach einer kurzen Lücke im Raum-Zeit-Kontinuum, fand ich mich in Hamids Armen wieder und küsste ihn.
Sein Bart war weich, gar nicht kratzig und stachlig, und ich schob ihm die Zunge tief in den Mund. Plötzlich wollte ich Sex – ich war so ausgehungert –, Hamid kam mir vor wie der perfekte Mann. Meine Arme umschlangen ihn, hielten ihn fest, sein Körper fühlte sich unglaublich stark und hart an, als würde ich einen Mann aus Beton umarmen. Und ich dachte: Ja, Ruth, das ist der Mann für dich, du Dummkopf, du Idiotin – er ist gut, anständig, nett, mit Jochen befreundet –, ich will diesen Ingenieur mit den sanften braunen Augen, diesen starken, harten Mann.
Wir lösten uns voneinander, damit verlor der Traum, der Wunsch zwangsläufig seine Kraft, und ich fand wieder ein wenig zu mir zurück.
»Ruth …«, begann er.
»Nein, sag nichts.«
»Ruth, ich liebe dich. Ich will dich heiraten. Ich will dich als Frau. In sechs Monaten komme ich von meinem ersten Einsatz zurück. Ich habe einen sehr guten Job, ein sehr gutes Gehalt.«
»Bitte sag nichts mehr, Hamid. Gehen wir zurück an die Bar.«
Die letzte Bestellung wurde ausgerufen, aber ich wollte keinen Wodka mehr. Ich suchte in meiner Handtasche nach einer letzten Zigarette, fand sie und schaffte es, sie einigermaßen gekonnt anzuzünden. Hamid war durch ein paar seiner iranischen Freunde abgelenkt, sie verständigten sich kurz in Farsi. Ich schaute sie mir an, diese hübschen gebräunten Männer mit ihren Vollbärten, und sah, dass sie sich aufmerkwürdige Art die Hände schüttelten – mit hochgereckten, zupackenden Daumen – und dann den Griff geschickt änderten, als würden sie irgendein verstecktes Signal austauschen, sich als Mitglieder eines geheimen Zirkels zu erkennen geben. Dieser Gedanke jedenfalls muss es gewesen sein, der mir die Aufforderung von Frobisher ins Gedächtnis rief, und aus irgendeinem dummen, von Selbstüberhebung und Trunkenheit beherrschten Impuls beschloss ich, der Sache nachzugehen.
»Hamid«, sagte ich, als er sich wieder neben mich setzte, »glaubst du, dass es SAVAK-Agenten in Oxford geben könnte?«
»Was? Was sagst du da?«
»Ich meine, glaubst du, dass einige dieser Ingenieure nur so tun, als wären sie Studenten, in Wirklichkeit aber für den SAVAK arbeiten?«
Sein Gesicht veränderte sich, er setzte eine todernste Miene auf.
»Ruth, bitte, reden wir nicht von solchen Dingen.«
»Aber wenn du einen verdächtigst, kannst du’s mir sagen. Ich halte dicht.«
Ich missdeutete seinen Gesichtsausdruck – das zumindest ist die einzige Erklärung für das, was ich als Nächstes sagte. Ich glaubte, etwas in ihm angerührt zu haben.
»Du kannst es mir ruhig sagen, Hamid«, flüsterte ich und beugte mich näher zu ihm. »Ich werde nämlich für die Polizei arbeiten, verstehst du? Sie wollen, dass ich ihnen helfe. Mir kannst du’s sagen.«
»Was soll ich sagen?«
»Bist du beim SAVAK?«
Er schloss die Augen und hielt sie geschlossen, als er sagte: »Mein Bruder ist vom SAVAK ermordet worden.«
Neben den Mülltonnen hinter dem Pub versuchte ich, mich zu übergeben, aber es ging nicht, außer Würgen und Spucken brachte ich nichts zustande. Man denkt immer, nach dem Erbrechen fühlt man sich besser, aber in Wirklichkeit fühlt man sich noch viel schlechter – und trotzdem versucht man, den Mageninhalt loszuwerden. Ich ging mit vorsichtigen Schritten zum Auto und überzeugte mich, dass es abgeschlossen war, dass nichts auf den Sitzen lag, was zum Diebstahl verleiten konnte, dann machte ich mich auf den langen Weg nach Summertown. Freitagnacht in Oxford – keine Aussicht auf ein Taxi. Ich würde einfach zu Fuß gehen, und vielleicht nüchterte mich das aus. Und Hamid würde morgen abdüsen nach Indonesien.