Die Geschichte der Eva Delektorskaja
Washington, D. C, 1941
Eva Delektorskaja rief Romer in New York an.
»Ich bin auf Gold gestoßen«, sagte sie und legte auf.
Ein Treffen mit Mason Harding zu vereinbaren war sehr einfach gewesen. Eva nahm den Zug von New York nach Washington und stieg im London Hall Apartment Hotel auf der Ecke 11th und M Street ab. Ihr fiel auf, dass sie eine unbewusste Vorliebe für Hotels hatte, die irgendwie an England erinnerten. Wenn das zur Gewohnheit wurde, so dachte sie sich, war es an der Zeit, es zu ändern – auch das eine Romer-Regel –, aber ihr gefiel das Einzimmerapartment mit der winzigen Kochnische, dem Eisschrank und der blitzsauberen Dusche. Sie buchte für zwei Wochen und rief, kaum hatte sie ausgepackt, die Nummer an, die Romer ihr gegeben hatte.
»Mason Harding.«
Sie stellte sich als Mitarbeiterin von Transoceanic Press, New York, vor und sagte, sie hätte gern ein Interview mit Mr Hopkins.
»Mr Hopkins ist leider erkrankt«, sagte Harding und fragte nach: »Sind Sie Engländerin?«
»Gewissermaßen. Halbrussin.«
»Klingt nach einer gefährlichen Mischung.«
»Darf ich Sie in Ihrem Büro aufsuchen? Vielleicht finden sich auch andere Themen – Transoceanic hat eine gewaltige Leserschaft in Süd- und Lateinamerika.«
Harding zeigte sich sehr zugänglich – er schlug den späten Nachmittag des Folgetags vor.
Mason Harding war noch jung, Anfang dreißig, schätzte Eva. Sein dichtes braunes Haar, kurz geschnitten und streng gescheitelt, erinnerte an einen Schuljungen. Er setzte schon Gewicht an, seine ebenmäßigen Züge wirkten rundlich um Wangen und Kinnpartie. Er trug einen blassbraunen Anzug aus Leinenkrepp, und auf seinem Schreibtisch stand ein Schild, das die Aufschrift »Mason Harding III.« trug.
»So«, sagte er, bot ihr einen Stuhl an und musterte sie von oben bis unten. »Transoceanic Press – ich kann nicht behaupten, schon von Ihnen gehört zu haben.«
Sie gab ihm einen groben Überblick über die Reichweite und die Leserschaft von Transoceanic; er nickte und schien es ihr abzunehmen. Sie sagte, sie sei nach Washington entsandt worden, um maßgebliche Politiker der neuen Regierung zu interviewen.
»Verstehe. Wo sind Sie abgestiegen?«
Sie nannte das Hotel. Er stellte ein paar Fragen über London, den Krieg und ob sie die Luftangriffe erlebt hatte. Dann schaute er auf die Uhr.
»Wie wär’s mit einem Drink? Ich glaube, wir machen hier neuerdings um siebzehn Uhr dicht.«
Sie verließen das Handelsministerium, ein klassizistisches Monstrum von Gebäude, mit einer Fassade, die eher einem Museum als einem Ministerium entsprach, und liefen die 15th Street hinauf bis zu einer dunklen Bar, die Mason – »nennen Sie mich Mason« – kannte und wo sie, nachdem sie Platz genommen hatten, beide einen Whisky-Punsch bestellten – ein Vorschlag von Mason. Es war ein kühler Tag; sie konnten eine Aufwärmung gebrauchen.
Pflichtschuldig erkundigte sich Eva nach Hopkins, und Mason teilte ihr ein paar Fakten mit, die wenig besagten – bis auf die Mitteilung, dass man Hopkins vor ein paar Jahren wegen Magenkrebs »den halben Magen entfernt« hatte. Mason war taktvoll genug zu bemerken, dass sein Ministerium und die Roosevelt-Regierung voller Bewunderung für die britische Standfestigkeit und Tapferkeit sei.
»Sie müssen verstehen, Eve«, sagte er beim zweiten Whisky-Punsch, »dass es unglaublich schwer für Hopkins und FDR ist, noch mehr zu tun. Wenn es nach uns ginge, wären wir an Ihrer Seite, Schulter an Schulter, gegen diese verdammten Nazis. Möchten Sie noch einen? Kellner! Sir?« Er winkte einen weiteren Drink herbei. »Aber vor einem Kriegseintritt müssen wir die Kongresswahl gewinnen. Roosevelt weiß, dass er die nicht gewinnen kann. Nicht jetzt. Erst muss was passieren, was die Einstellung der Leute ändert. Waren Sie schon mal bei einer Kundgebung von America First?«
Eva nickte. Sie erinnerte sich gut: Ein irisch-amerikanischer Priester hatte die Menge mit Brandreden gegen die britische Tücke und Niedertracht aufgepeitscht. Achtzig Prozent der Amerikaner seien gegen den Kriegseintritt. Mit der Beteiligung am letzten Krieg habe Amerika nichts gewonnen außer der Großen Depression. Die Vereinigten Staaten seien vor Angriffen sicher – es gebe keinen Grund, England erneut zu helfen. England sei verloren, am Ende: Verschwenden wir kein amerikanisches Geld und keine amerikanischen Soldaten darauf, ihnen die Haut zu retten. Und so weiter – unter Gejohle und massivem Beifall.
»Nun, da sehen Sie das Problem«, sagte Mason in resigniertem Ton, wie ein Arzt, der eine unheilbare Krankheit konstatiert. »Ich will kein Nazi-Europa, weiß Gott nicht. Denn dann sind wir die Nächsten auf der Liste. Nur wird diese Sicht von kaum jemandem geteilt.«
Im weiteren Verlauf der Unterhaltung stellte sich heraus, dass Mason verheiratet war, zwei Kinder hatte -Jungen: Mason jr. und Farley – und in Alexandria wohnte. Nach dem dritten Whisky-Punsch fragte er, was sie am Samstag vorhabe. Sie erwiderte, sie habe nichts weiter vor, und so erbot er sich, ihr die Stadt zu zeigen – er müsse sowieso ins Büro, ein paar Dinge regeln.
Am Samstagmorgen also holte Mason sie mit seinem schicken grünen Sedan vom Hotel ab und zeigte ihr die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Das Weiße Haus, das Washington Monument, das Lincoln Memorial, das Capitol und schließlich die National Gallery. In einem Restaurant auf der Connecticut Avenue, das Du Barry hieß, aßen sie zu Mittag.
»Hören Sie, ich kann Sie nicht länger aufhalten«, sagte Eva, als Mason die Rechnung beglich. »Müssen Sie nicht in Ihr Büro?«
»Ach, Unsinn. Das kann bis Montag warten. Ich dachte, ich fahre Sie jetzt mal nach Arlington hinaus.«
Kurz vor sechs Uhr setzte er sie vor ihrem Hotel ab. Er bestellte sie für den Montagnachmittag in sein Büro, dann wisse er mehr über Hopkins’ Gesundheitszustand und ob und wann er für ein Interview zur Verfügung stehe. Sie tauschten einen Händedruck, Eva dankte ihm herzlich für diesen »großartigen Tag«, dann ging sie in ihr Zimmer und rief Romer an.
Am Montagabend versuchte Mason Harding, sie zu küssen. Nach Evas Besuch im Büro – »noch immer kein Harry, leider« – waren sie wieder in seine Bar gegangen, und er hatte wieder zu viel getrunken. Beim Hinausgehen regnete es, sie warteten unter einer Markise, bis der heftige Schauer nachließ, dann rannten sie zu seinem Auto. Sie fand es ein bisschen merkwürdig, dass er sich kämmte, bevor er losfuhr, um sie zum Hotel zu bringen. Mitten im Abschied warf er sich auf sie; sie konnte gerade noch das Gesicht abwenden und spürte seine Lippen an der Wange, am Kinn, am Hals.
»Mason! Was soll das?« Sie stieß ihn weg.
Er zog sich zurück und starrte mit finsterem Blick aufs Lenkrad. »Ich fühle mich sehr zu Ihnen hingezogen, Eve«, sagte er mit seltsam schmollender Stimme, ohne sie anzusehen, als wäre das die einzige Erklärung, die sie erwartete.
»Ich bin sicher, Ihre Frau mag Sie auch sehr.«
Er seufzte und sackte theatralisch in sich zusammen wie bei einem Vorwurf, den er schon zu oft gehört hatte.
»Wir wissen beide, was hier läuft«, sagte er, nun wieder zu ihr gewandt. »Tun wir nicht wie zwei Unschuldige. Sie sind eine schöne Frau. Meine persönlichen Verhältnisse haben nichts damit zu tun.«
»Ich rufe Sie an«, sagte Eva und öffnete die Wagentür.
Er griff nach ihrer Hand, bevor sie aussteigen konnte, und drückte einen Kuss darauf. Sie zog, aber er ließ nicht los.
»Ich verlasse morgen die Stadt«, sagte er. »Ich bin für zwei Tage in Baltimore. Treffen Sie mich dort – im Allegany Hotel, achtzehn Uhr.«
Sie sagte nichts, schüttelte seine Hand ab und stieg aus dem Wagen.
»Im Allegany Hotel«, wiederholte er. »Ich kann Ihnen das Hopkins-Interview vermitteln.«
»Das Gold leuchtet und glänzt«, sagte Eva. »Fast als würde es Hitze ausstrahlen.«
»Gut«, erwiderte Romer. Im Hintergrund hörte sie Stimmengewirr.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Ich bin im Büro.«
»Sie wollen, dass ich verkaufe. Morgen achtzehn Uhr im Allegany Hotel, Baltimore.«
»Unternimm nichts und sag nichts. Ich komme. Wir sehen uns morgen früh.«
Romer war gegen zehn Uhr in Washington. Sie ging in die Lobby, als die Rezeption seine Ankunft meldete, und ihr Herz schlug so sehr, während sie nach ihm Ausschau hielt, dass sie, überrascht von dieser starken Reaktion, erst einmal stehen blieb.
Sie fand ihn in einem versteckten Winkel der Lobby, aber zu ihrem Ärger mit einem anderen Mann, den er schlicht als Bradley vorstellte. Bradley war klein, dunkelhaarig, mit einem Grinsen, das immer von neuem aufflackerte wie eine schadhafte Glühlampe.
Romer stand auf, um Eva zu begrüßen. Sie schüttelten einander die Hand, und er ging mit ihr in eine andere Ecke der Lobby. Als sie saßen, griff sie verstohlen nach seiner Hand.
»Lucas, Liebling …«
»Lass das.«
»Verzeih. Wer ist Bradley?«
»Bradley ist ein Fotograf, der für uns arbeitet. Bist du bereit? Ich glaube, wir müssen los.«
Sie führen mit dem Zug von der Union Station ab. Es war eine Fahrt fast ohne Worte, weil Bradley ihnen gegenübersaß. Jedes Mal, wenn Eva ihn ansah, flackerte sein kurzlebiges Grinsen auf, es war wie ein nervöser Tick. Lieber schaute sie aus dem Fenster und bewunderte die Herbstfärbung. Sie war froh, dass die Fahrt schnell vorüber war.
Im Bahnhof von Baltimore sagte sie mit Nachdruck zu Romer, ihr sei jetzt nach Kaffee und einem Sandwich, also bat er Bradley, vorauszugehen und im Allegany zu warten. Endlich waren sie allein.
»Was soll das werden, wenn es fertig ist?«, fragte sie, als sie in der Bahnhofscafeteria saßen, obwohl ihr die Antwort schon halb bewusst war. Mit dem Handballen wischte sie ein Guckloch in die beschlagene Fensterscheibe, um auf die fast leere Straße hinauszublicken; ein paar Passanten liefen vorbei, ein Schwarzer bot bunte Sträußchen feil.
»Wir brauchen Fotos von dir und Harding, wie ihr das Hotel betretet und am nächsten Morgen verlasst.«
»Verstehe …« Plötzlich war ihr übel, aber sie beschloss, durchzuhalten. »Warum?«
Romer seufzte und blickte sich um, bevor er unter dem Tisch nach ihrer Hand griff.
»Sein Land verrät man nur aus drei Gründen«, sagte er leise, ernst, ihre nächste Frage erwartend.
»Und welche sind das?«
»Geld, Erpressung und Rache.«
Sie dachte darüber nach. War das eine neue Romer-Regel?
»Geld, Rache – und Erpressung.«
»Du weißt, was hier läuft, Eva. Du weißt, was vonnöten ist, damit uns Mr Harding plötzlich sehr nützlich werden kann.«
Sie wusste es und dachte an Mrs Harding mit all dem Geld und den kleinen Söhnen, Mason jr. und Farley.
»Hast du das alles geplant?«
»Nein.«
Sie schaute ihn an. Lügner, sagten ihre Augen.
»Das ist Teil des Jobs, Eva. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr uns das helfen würde. Wir hätten jemanden in Hopkins’ Büro, jemanden in seiner nächsten Umgebung.« Er schwieg kurz. »Und das heißt: jemanden in Roosevelts nächster Umgebung.«
Sie schob eine Zigarette zwischen die Lippen und sagte: »Ich muss also mit Mason Harding schlafen, damit der SIS die Absichten von Roosevelt und Hopkins erfährt.«
»Du musst nicht mit ihm schlafen. Hauptsache, wir kriegen die Fotos. Mehr an Beweisen brauchen wir nicht. Wie du das deichselst, ist deine Sache.«
Sie brachte ein trockenes Lachen heraus, aber es kam ihr nicht echt vor. »Deichseln – nettes Wort«, sagte sie. »Ich weiß: Ich werde ihm sagen, dass ich meine Periode habe.«
Er fand es nicht lustig. »Sei nicht albern. Das ist unter deinem Niveau. Hier geht es nicht um deine Gefühle, sondern um das, weshalb du für uns arbeitest.« Er lehnte sich zurück. »Aber wenn du hinschmeißen willst – sag’s mir einfach.«
Sie sagte nichts. Sie dachte an das, was vor ihr lag. Ob sie fähig war, zu tun, was Romer von ihr verlangte. Welche Empfindungen hatte Romer? Er wirkte so kalt und sachlich.
»Wie wäre das für dich«, fragte sie, »wenn ich es täte?«
Schnell und tonlos sagte er: »Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen.«
Sie versuchte, den Schmerz, der in ihr anwuchs, nicht zu zeigen. Du hättest es mir auch anders sagen können, dachte sie. Dann wäre es mir ein bisschen leichter gefallen.
»Du musst es als Job betrachten, Eva«, fuhr er fort, mit sanfterer Stimme, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Halte deine Gefühle da heraus. Es könnte sein, dass du noch unangenehmere Dinge tun musst, bevor dieser Krieg vorüber ist.« Er verdeckte den Mund mit der Hand. »Eigentlich dürfte ich dir das nicht sagen, aber der Druck aus London ist gewaltig. Immens.« Die BSC habe eine einzige, entscheidende Aufgabe, erklärte er weiter – die USA dahin zu bringen, aus eigenem Interesse in den Krieg einzutreten. Das war schon alles: Amerika schlicht und einfach zum Mitmachen zu bewegen. Er erinnerte sie daran, dass seit einem ersten Treffen zwischen Churchill und Roosevelt schon über drei Monate vergangen waren. »Da haben wir nun unsere wundervolle, vielgepriesene Atlantik-Charta«, sagte er. »Und was ist passiert? Gar nichts. Du weißt doch, was die Zeitungen in England schreiben. ›Wo bleiben die Yanks?‹, ›Was hält die Yanks zurück?‹ Wir müssen uns näher heranarbeiten. Wir müssen ins Weiße Haus hineinkommen. Und du kannst dabei helfen. So einfach ist das.«
»Aber was empfindest du?« Es war wieder die falsche Frage, sie wusste es, und sie sah, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte, aber sie wollte brutal sein, wollte ihn mit der Härte dessen konfrontieren, was ihr da abverlangt wurde. »Was empfindest du dabei, wenn ich mit Harding ins Bett gehe?«
»Ich will nur, dass wir diesen Krieg gewinnen«, sagte er. »Meine Gefühle sind irrelevant.«
»Na gut«, sagte sie. Sie schämte sich und ärgerte sich darüber, dass sie sich schämte. »Ich tue, was ich kann.«
Sie wartete um sechs in der Lobby, als Mason eintraf. Er küsste sie auf die Wange, und sie trugen sich an der Rezeption als Mr und Mrs Avery ein. Sie spürte seine Anspannung, während sie am Pult standen – Ehebruch war offensichtlich keine Routineübung für Mason Harding. Als er unterschrieb, blickte sie sich um; irgendwo, wusste sie, machte Bradley seine Fotos; später würde jemand den Rezeptionisten bestechen – für ein Foto des Hotelregisters. Sie fuhren in ihr Zimmer hinauf, und als der Page gegangen war, küsste Mason sie leidenschaftlicher, berührte ihre Brüste, dankte ihr und schwor, sie sei die schönste Frau, die er je getroffen habe.
Sie aßen im Hotelrestaurant, es war noch früh, und Mason schwieg die meiste Zeit, dann zog er über seine Frau her, ihre Familie und die finanzielle Abhängigkeit, in der sie ihn halte. Diese Ausfälle waren hilfreich, fand sie; sie waren langweilig, kleinlich, egoistisch und ersparten ihr die Vorstellung dessen, was nun folgen würde. Dem konnte sie mit mehr Kälte begegnen. Die Leute verraten ihr Land nur aus drei Gründen, hatte Romer gesagt. Mason war bereit, sich auf diese schiefe Bahn zu begeben.
Sie tranken beide zu viel, aus unterschiedlichen Motiven, nahm sie an, aber als sie ins Zimmer hinauffuhren, merkte sie, wie es sich in ihrem Kopf drehte. Mason küsste sie im Lift, unter Einsatz seiner Zunge. Dann bestellte er eine Flasche Whisky beim Zimmerservice und begann, kaum war der Kellner gegangen, sie auszuziehen. Eva setzte ein Lächeln auf, trank noch mehr und dachte: Wenigstens ist er nicht hässlich oder abstoßend, nur eine Art Dummkopf, der seine Frau betrügen will. Zu ihrer Überraschung fand sie heraus, dass sie ihre Gefühle abschalten konnte. Es ist ein Job, sagte sie sich, einer, den nur ich machen kann.
Im Bett versuchte er vergeblich, sich zu beherrschen, und schämte sich, weil er so schnell kam. Er schob es auf die Kondome – »diese verdammten Dinger«, tröstete ihn Eva und versicherte ihm, es sei viel wichtiger, einfach zusammen zu sein. Er trank das nächste Glas und versuchte es später noch einmal, aber ohne Erfolg.
Sie tröstete ihn ein weiteres Mal, ließ sich von ihm umarmen und streicheln, schmiegte sich in seine Arme, spürte den Raum schwanken von all dem Schnaps, den sie getrunken hatte.
»Beim ersten Mal ist es immer Mist«, sagte er. »Findest du nicht auch?«
»Immer«, bestätigte sie, ohne ihn zu hassen – er tat ihr sogar ein bisschen leid, und sie fragte sich, was er wohl denken würde, wenn sich morgen jemand – nicht Romer – an ihn heranmachte und sagte: Hallo, Mr Harding, wir haben hier ein paar Fotos, die Ihre Frau und Ihren Schwiegervater sehr interessieren werden.
Als er eingeschlafen war, es ging sehr schnell, machte sie sich von ihm los und rutschte auf die andere Seite. Es gelang ihr, ebenfalls zu schlafen, aber sie wachte früh auf und ließ sich ein Bad ein, blieb lange darin liegen und bestellte Frühstück aufs Zimmer, bevor Mason aufwachte – um eventuellen amourösen Anwandlungen zuvorzukommen. Aber er war verkatert und verstimmt – vielleicht hatte er Schuldgefühle – und verhielt sich recht einsilbig. Sie ließ sich noch einmal küssen, bevor sie nach unten in die Lobby fuhren.
An der Rezeption stand sie dicht neben ihm und zupfte ihm einen Fussel vom Jackett, während er in bar bezahlte. Klick. Sie konnte Bradleys Kamera förmlich hören. Draußen am Taxistand wirkte er auf einmal unsicher und steif.
»Ich habe jetzt Sitzungen«, sagte er. »Was machst du?«
»Ich fahre zurück«, sagte sie. »Ich rufe dich an. Beim nächsten Mal wird’s besser. Keine Sorge.«
Dieses Versprechen schien ihn zu beleben, und er lächelte beglückt.
»Danke, Eve«, sagte er. »Du warst großartig. Du bist wunderschön. Ruf mich nächste Woche an. Ich muss die Kinder …« Er brach ab. »Ruf mich nächste Woche an. Am Mittwoch.«
Er küsste sie auf die Wange, und wieder hörte sie es klicken. Als sie ins Hotel zurückkam, fand sie eine Nachricht vor – einen Zettel, der unter der Tür durchgeschoben war.
»Operation Eldorado abgeschlossen«, las sie.
»Oh, schon zurück«, sagte Sylvia, als sie von der Arbeit kam und Eva in der Küche sitzen sah. »Wie war Washington?«
»Langweilig.«
»Ich dachte, du wärst für ein paar Wochen weg.«
»Es tat sich nichts. Nur endlose und nichtssagende Pressekonferenzen.«
»Irgendwelche netten Männer getroffen?«, fragte Sylvia und markierte einen lüsternen Blick.
»Schön wär’s. Nur so einen fetten Unterstaatssekretär vom Landwirtschaftsministerium, der versucht hat, mich zu begrabschen …«
»Der würde mir schon genügen«, sagte Sylvia und zog auf dem Weg in ihr Zimmer den Mantel aus.
Manchmal staunte Eva, wie glatt und selbstverständlich ihr die Lügen über die Lippen gingen. Denk einfach, dass dich jeder ständig belügt, hatte Romer gesagt, damit kommst du am besten durch.
Sylvia kehrte in die Küche zurück und holte einen kleinen Krug Martini aus dem Eisschrank.
»Wir feiern«, sagte sie, dann machte sie ein schuldbewusstes Gesicht. »Sorry, das falsche Wort. Die Deutschen haben wieder einen Ami-Zerstörer versenkt – die Reuben James. Hundertfünfzehn Tote. Kaum ein Grund zum Jubeln. Aber …«
»Mein Gott … Hundertfünfzehn …«
»Genau. Das bringt die Wende. Jetzt können sie nicht mehr abseits stehen.«
So viel zum Thema Mason Harding, dachte Eva. Sie sah ihn plötzlich vor sich, wie er die Unterwäsche abstreifte, wie sein Schwanz unter der Wölbung des Jungmännerbauchs hervorwuchs, wie er sich aufs Bett setzte und an der Verpackungsfolie des Kondoms zerrte. Sie stellte fest, dass sie ohne Gemütsregung an ihn denken konnte, ganz kalt, sachlich. Romer konnte zufrieden mit ihr sein.
Während sie die Martinis einschenkte, erzählte Sylvia, dass Roosevelt eine gute, aufrüttelnd militante Rede gehalten hatte – seine kriegerischste Rede seit 1939, als er konstatiert hatte, dass nun der »Schießkrieg« begann.
»Ach ja«, führ sie fort, »er hat eine wundervolle Landkarte – irgendeine Karte von Südamerika. Wie die Deutschen den Kontinent in fünf neue Riesenländer aufteilen wollen.«
Eva hörte nur halb hin, aber Sylvias Begeisterung schürte in ihr ein wenig Zuversicht – das seltsame Gefühl einer flüchtigen Euphorie. Solche Anwandlungen hatte es in den zwei Jahren, seit sie zu Romers Gruppe gehörte, immer mal wieder gegeben. Obwohl sie sich ermahnte, diesen Instinktreaktionen keinesfalls zu vertrauen, konnte sie nicht verhindern, dass sie in ihr entstanden – als wäre das Wunschdenken ein angeborenes Attribut des Menschen; der Glaube an die Wendung zum Besseren ein Teil des menschlichen Bewusstseins. Sie nippte an dem kalten Drink – vielleicht ist das die Definition eines Optimisten, dachte sie. Vielleicht bin ich nicht mehr als das: eine Optimistin.
»Also vielleicht schaffen wir’s«, sagte sie, um ihrem Optimismus Nahrung zu geben, und dachte im Stillen: Wenn die Amerikaner mitmachen, müssen wir gewinnen. Amerika, Großbritannien mit dem Empire und Russland – dann ist es nur eine Frage der Zeit.
»Lass uns morgen Abend essen gehen«, sagte sie zu Sylvia, als sie in ihre Zimmer gingen. »Eine kleine Party sind wir uns schuldig.«
»Vergiss nicht, dass wir uns von Alfie verabschieden müssen.«
Eva fiel ein, dass Blytheswood den Sender verließ und nach London zurückkehrte – nach Electra House, in die GC&CS-Abhörstation im Keller des Gebäudes von Cable & Wireless am Victoria Embankment.
»Dann können wir hinterher tanzen gehen.« Zum Tanzen hätte ich jetzt Lust, dachte Eva, als sie sich auszog und versuchte, Mason Harding und seine Finger auf ihrer Haut aus ihrem Gedächtnis zu vertreiben.
Am nächsten Morgen im Büro zeigte ihr Morris Devereux eine Abschrift der Roosevelt-Rede. Sie blätterte durch die Seiten, bis sie die erwähnte Stelle gefunden hatte. »In meinem Besitz befindet sich eine Geheimkarte«, las sie, »angefertigt in Deutschland von der Hitlerregierung. Es ist eine Karte von Südamerika, die zeigt, wie Hitler den Kontinent neu ordnen möchte. Die geographischen Experten in Berlin haben Südamerika in fünf Vasallenstaaten aufgeteilt … Sie haben auch dafür gesorgt, dass einer dieser neuen Marionettenstaaten die Republik Panama umfasst und unsere große Lebensader, den Panamakanal … Diese Karte beweist, dass es die Nazis nicht nur auf Südamerika abgesehen haben, sondern ebenso auf die Vereinigten Staaten.«
»Tja«, sagte sie zu Devereux, »ganz schön starker Tobak, findest du nicht? Wenn ich Amerikanerin wäre, würde mir jetzt ein wenig anders. Ein ganz klein bisschen mulmig, nicht wahr?«
»Hoffen wir, dass sie es genauso sehen – auch was die Versenkung der Reuben James betrifft … Ich weiß nicht: Man sollte meinen, dass sie nicht mehr ganz so ruhig schlafen.« Er lächelte ihr zu. »Wie war Washington?«
»Gut. Ich habe jetzt einen guten Kontaktmann in Hopkins’ Büro«, sagte sie leichthin. »Einen Presseattaché. Den können wir mit unseren Sachen futtern.«
»Interessant. Hat er irgendwelche Tipps gegeben?«
»Nein, eher nicht«, erwiderte sie, nun schon vorsichtiger. »Was er zu sagen hatte, war sehr entmutigend. Der Kongress ist gegen den Krieg, FDR sind die Hände gebunden und so weiter. Aber ich gebe ihm die Übersetzungen unserer spanischen Storys.«
»Gute Idee«, meinte er vage und ging davon.
Eva kam ins Grübeln. In letzter Zeit interessierte er sich auffallend für ihr Treiben und ihre Arbeit. Aber warum hatte er nicht nach dem Namen des Attachés gefragt? Das war merkwürdig … Wusste er etwa schon Bescheid?
Sie ging in ihr Zimmer und sah den Eingangskorb durch. Eine Zeitung aus Buenos Aires, Critica, hatte ihre Meldung über deutsche Seemanöver vor der südamerikanischen Atlantikküste aufgegriffen. Jetzt hatte sie einen Startpunkt. Sie schrieb die Meldung um, kennzeichnete sie als argentinische Quelle und versandte sie an alle Transoceanic-Kunden. Sie rief Blytheswood beim Radiosender WRUL an – unter Nutzung ihres verabredeten Dringlichkeitscodes, »Mr Blytheswood, hier spricht Miss Dalton« – und sagte, sie habe eine spannende Story aus Argentinien zu bieten. Blytheswood erwiderte, er sei interessiert, aber die Story müsse eine amerikanische Quelle haben, bevor er sie in alle Welt hinausschicken könne. Also sandte sie Fernschreiben an Johnson in Meadowville und Witoldski in Franklin Forks, die sie einfach mit Transoceanic signierte, und dazu eine Abschrift der wichtigsten Sätze aus Roosevelts Rede. Die beiden würden schon erraten, dass sie dahintersteckte. Wenn einer von ihnen die Meldung aus der Critica sendete, konnte sie die als Meldung einer unabhängigen US-Radiostation deklarieren. Und so würde das Märchen seinen Weg durch die Nachrichtenmedien machen, an Gewicht und Bedeutung gewinnen, sich auf immer mehr Quellen berufen können und so den Status einer unbezweifelbaren Tatsache gewinnen, die nicht mehr ahnen ließ, dass sie dem Kopf von Eva Delektorskaja entsprungen war. Schließlich würde eine der großen amerikanischen Tageszeitungen die Story aufgreifen (vielleicht mit ein bisschen Nachhilfe von Angus Woolf), und die deutsche Botschaft würde die Meldung nach Berlin kabeln. Dann kämen die Dementis, Botschafter würden einbestellt, ihre Erklärungen und Gegendarstellungen vorlegen, und das ergäbe wieder eine neue Story – oder ganze Serien davon, die Transoceanic über den Fernschreiber verbreiten konnte. Eva genoss das Gefühl der Macht, wenn sie an die große Zukunft ihrer Fälschungen dachte – sie sah sich selbst als winzige Spinne im Mittelpunkt eines wachsenden Netzes aus Unterstellungen, Halbwahrheiten und Erfindungen. Aber dann, wie eine heiße Welle, kamen die peinlichen Erinnerungen an die Nacht mit Mason Harding in ihr hoch. Ein Krieg ist immer ein dreckiger Krieg, hatte Romer wiederholt gesagt, wer da hineingeht, muss mit allem rechnen.
Sie lief nach Hause, am Central Park South entlang, und betrachtete die Bäume, deren Laub sich gelb und orange verfärbte, als sie Schritte hinter sich bemerkte, die genau ihrem Rhythmus folgten. Das war einer der Tricks, die sie in Lyne gelernt hatte; er war fast so effektiv, als würde man jemandem auf die Schulter tippen. Sie blieb stehen, um einen Schnürsenkel festzuknoten, blickte dabei nach hinten und sah Romer, der wie gebannt ins Schaufenster eines Juweliers starrte. Er machte auf dem Absatz kehrt, und nach kurzem Abwarten folgte sie ihm in die Sixth Avenue, wo er in einem großen Delikatessenimbiss verschwand. Sie stellte sich in die Warteschlange, er bekam ein Sandwich und ein Bier und setzte sich damit in eine belebte Ecke. Sie nahm einen Kaffee und ging zu ihm hinüber.
»Hallo«, sagte sie. »Darf ich?«
Sie setzte sich.
»Sehr konspirativ«, sagte sie.
»Wir müssen vorsichtiger werden«, erwiderte er. »Doppelt und dreifach sichern. Um ehrlich zu sein, interessieren sich manche unserer amerikanischen Freunde ein bisschen zu sehr dafür, was wir hier treiben. Ich glaube, wir sind zu groß geworden; die Ausmaße, die das angenommen hat, sind nicht mehr zu übersehen. Also: Wachsamkeit steigern, noch besser absichern, noch mehr auf Beschatter achten, falsche Freunde, seltsame Geräusche im Telefon. Das ist nur so eine Vermutung – aber wir sind alle ein bisschen nachlässig geworden.«
»Stimmt«, sagte sie und schaute zu, wie er in sein riesiges Sandwich biss. Nichts von dieser Größe hat man je auf den Britischen Inseln gesehen, dachte sie. Er kaute und schluckte eine ganze Weile, bevor er wieder sprach.
»Ich wollte dir sagen, dass man zufrieden ist wegen Washington. Die Komplimente habe alle ich eingesteckt, aber ich wollte dir sagen, dass du deine Sache gut gemacht hast, Eva. Sehr gut sogar. Glaub nicht, dass ich das für selbstverständlich halte. Oder dass wir das für selbstverständlich halten.«
»Danke.« Was sie empfand, war nicht unbedingt ein warmes Gefühl der Zufriedenheit.
»›Gold‹ ist auf dem besten Wege, unser Goldjunge zu werden.«
»Gut«, sagte sie, dann nachdenklich: »Ist er schon …«
»Gestern ist er aktiviert worden.«
»Oh.« Eva stellte sich vor, wie jemand Fotos vor Mason ausbreitete, dazu sein verdutztes Gesicht. Sie sah ihn sogar weinen und fragte sich, was er jetzt von ihr denken mochte. »Was, wenn er mich anruft?«
»Er wird dich nicht anrufen.« Nach einer kurzen Pause sagte Romer: »Wir sind noch nie so nahe am Chef dran gewesen. Das ist dein Verdienst.«
»Vielleicht brauchen wir ihn nicht lange«, mutmaßte sie, wie um ihre wachsenden Schuldgefühle zu beschwichtigen, den Makel, der auf ihr lastete, ein wenig zu verringern.
»Wie kommst du darauf?«
»Die Versenkung der Reuben James.«
»Die scheint in der Öffentlichkeit keine spürbare Wirkung zu hinterlassen«, sagte Romer mit einigem Sarkasmus. »Die Leute interessieren sich mehr für die Football-Ergebnisse von Army gegen Notre Dame.«
»Aber wieso? Da sind hundert junge Matrosen ertrunken, um Gottes willen.«
»Dass amerikanische Schiffe von U-Booten versenkt werden, damit hat man sie schon in den letzten Krieg hineingezogen«, sagte er und schob kapitulierend zwei Drittel seines Sandwiches fort. »Die Amerikaner haben ein gutes Gedächtnis.«
Er lächelte, aber sein Lächeln war unangenehm. Überhaupt ist er in seltsamer Stimmung heute, dachte sie und spürte fast so etwas wie Wut in sich aufsteigen.
»Sie wollen diesen Krieg nicht, Eva, egal was ihr Präsident oder Harry Hopkins oder Gale Winant denkt.« Er zeigte auf die Leute im Lokal, Männer und Frauen nach Feierabend, lachende, schnatternde Kinder, mit ihren riesenhaften Sandwiches und ihren sprudelnden Drinks. »Das Leben ist gut hier. Sie sind glücklich. Sollen sie das wegen eines Krieges, der dreitausend Meilen weit weg ist, alles aufs Spiel setzen? Würdest du das tun?«
Sie fand keine überzeugende Antwort darauf.
»Ja, aber was ist mit der Landkarte?«, warf sie ein, spürte jedoch schon, dass sie nicht gegen ihn ankam. »Ändert die nicht alles?« Sie suchte weiter nach Argumenten. »Und Roosevelts Rede. Der Krieg rückt näher, das können sie nicht leugnen. Panama ist der Hinterhof der USA.«
Romer jedoch ging mit einem leichten Lächeln über ihre Anstrengungen hinweg.
»Ja, schon. Ich muss zugeben, das mit der Karte freut uns sehr. Wir hätten nie gedacht, dass es so schnell und reibungslos funktioniert.«
Sie zögerte kurz, bevor sie ihre Frage stellte, um so unbeteiligt wie möglich zu wirken. »Kommt die Karte etwa von uns? Willst du das damit sagen?«
In Romers Blick lag milder Tadel, als hätte sie ihre Lektion nicht gelernt. »Natürlich. Hier die Story: Ein deutscher Kurier hatte einen Autounfall in Rio de Janeiro. Ein leichtsinniger Mensch. Er kam ins Krankenhaus, in seiner Aktentasche befand sich diese faszinierende Karte. Ziemlich billig, nicht wahr? Eigentlich hatte ich keine Lust, mich auf diese Story einzulassen, aber unsere Freunde haben sie offenbar gefressen, mit Haut und Haar.« Er schwieg kurz. »Übrigens, ich möchte, dass du das morgen über Transoceanic verbreitest. An alle Empfänger. Quelle US-Regierung, Washington, D. C. Hast du Stift und Papier?«
Eva kramte Notizblock und Bleistift aus ihrer Handtasche und stenographierte Romers Aufzählung: fünf neue Staaten auf dem südamerikanischen Kontinent, wie sie von Roosevelts Geheimkarte definiert wurden. »Argentinien« umfasste jetzt Uruguay und Paraguay und die Hälfte Boliviens. Zu »Chile« zählte die andere Hälfte Boliviens und ganz Peru. »Neu-Spanien« bestand aus Kolumbien, Venezuela, Ecuador und vor allem dem Panamakanal. Nur »Brasilien« blieb im Wesentlichen, wie es war.
»Ich muss sagen, es war ein hübsches Dokument: ›Argentinien, Brasilien, Neu-Spanien‹ – und schon dicht überzogen von den geplanten Routen der Lufthansa.« Er kicherte amüsiert.
Eva steckte ihr Notizbuch weg und nutzte die Pause, um nachzudenken. Ihre Gutgläubigkeit, ihre Verletzlichkeit stellten immer noch ein Problem dar, wie ihr nun bewusst wurde. War sie zu leicht zu überrumpeln? Nie etwas glauben, hatte Romer gesagt. Auf keinen Fall. Immer nach anderen Erklärungen suchen, anderen Möglichkeiten, der Kehrseite.
Als sie wieder aufschaute, sah sie, dass sich sein Blick geändert hatte. Jetzt hätte sie ihn zärtlich genannt, mit einer Unterströmung von Begehrlichkeit.
»Du fehlst mir, Eva.«
»Du mir auch, Lucas. Was können wir dagegen tun?«
»Ich will dich zu einem Kurs nach Kanada schicken. Umgang mit Dokumenten, Ablage, solche Sachen.«
Sie wusste, dass er Station M meinte – ein Fälscherlabor der BSC unter dem Dach der Canadian Broadcasting Company.
Station M stellte alle ihre gefälschten Dokumente her – auch die Karte stammte von dort, wie sie vermutete.
»Wie lange?«
»Ein paar Tage – aber du darfst ein bisschen Urlaub machen, bevor du abreist, als Belohnung für deine gute Arbeit. Ich schlage Long Island vor.«
»Long Island? Wirklich?«
»Ja. Ich kann dir das Narragansett Inn in St. James empfehlen. Ein Mr und eine Mrs Washington haben dort für dieses Wochenende ein Zimmer gebucht.«
Sofort spürte sie das Verlangen in sich aufsteigen.
»Hingt nett«, sagte sie, ohne den Blick von ihm abzuwenden. »Da können sich Mr und Mrs Washington aber freuen.« Sie stand auf. »Ich muss jetzt los. Sylvia und ich, wir wollen uns heute noch amüsieren gehen.«
»Seid aber vorsichtig. Äußerst wachsam«, sagte er mit Ernst, plötzlich wie ein besorgter Vater. Sie wollte ihn küssen, mehr als alles andere, sein Gesicht berühren.
»Zu Befehl«, erwiderte sie.
Er stand auf und ließ ein paar Münzen als Trinkgeld liegen. »Hast du dir ein sicheres Quartier besorgt?«
»Ja«, sagte sie. Ihr Quartier in New York war ein Zimmer mit kaltem Wasser in Brooklyn. »Ich habe etwas außerhalb der Stadt.« Es war beinahe die Wahrheit.
»Gut.« Er lächelte. »Viel Spaß im Urlaub.«
Am Freitagabend fuhr Eva mit dem Zug nach Long Island. In Farmingdale stieg sie aus und fuhr mit dem nächsten Zug zurück nach Brooklyn. Sie verließ den Bahnhof, lief zehn Minuten umher und bestieg dann einen Zug der Zweiglinie, der in Port Jefferson endete. Von dort fuhr sie mit dem Taxi zum Busbahnhof von St. James. Während der Taxifahrt beobachtete sie die Autos, die hinter ihr fuhren. Da war eins, das immer Abstand zu halten schien, aber als sie den Fahrer bat, langsamer zu fahren, überholte es flink. Vom Busbahnhof ging sie zu Fuß zum Narragansett Inn – unbeschattet, soweit sie es beurteilen konnte –, sie hielt sich streng an Romers Instruktionen. Das Inn war ein großes, bequemes, cremefarbenes Holzhaus am Stadtrand, wie sie erfreut feststellte, von ferne sah man die Dünen. Vom Sund wehte ein kalter Wind herüber, und sie war froh, dass sie ihren Mantel hatte. Romer erwartete sie im Clubzimmer, wo ein Treibholzfeuer im Kamin knisterte. Mr und Mrs Washington gingen sofort hinauf in ihr Zimmer und ließen sich erst am nächsten Morgen wieder blicken.