Die Geschichte der Eva Delektorskaja
New York 1941
Gegen Mitte November bekam Eva Delektorskaja einen Anruf von Lucas Romer persönlich. Sie saß im Büro von Transoceanic und arbeitete an den endlosen Verästelungen ihrer Seemanöver-Story – jede südamerikanische Zeitung hatte sie in der einen oder anderen Form aufgegriffen –, als er sie zu einem Treffen auf den Stufen des Metropolitan Museum bat. Also nahm sie die U-Bahn zur 86th Street und wechselte auf der Fifth Avenue von den großen Apartmenthäusern hinüber zur anderen Seite, um dem Central Park näher zu sein. Es war ein kalter und windiger Morgen, sie zog die Mütze über die Ohren und knotete den Schal fester um den Hals. Der Bürgersteig war mit Herbstblättern übersät – sie musste sich endlich an die amerikanischen Ausdrücke gewöhnen: sidewalk statt pavement und fall statt autumn. An den Straßenecken standen die Kastanienverkäufer; der süßlich-salzige Rauch von den Röstöfen kitzelte sie in der Nase, während sie gemächlich schlendernd auf das große Museumsgebäude zulief.
Romer wartete schon auf der Treppe, ohne Hut und in einen langen dunkelgrauen Mantel gehüllt, den sie noch nicht kannte. Unwillkürlich spürte sie ein Glücksgefühl in sich aufsteigen, sie musste an die zwei Tage auf Long Island denken. Im November 1941 in New York zu sein und den Geliebten auf den Stufen zum Metropolitan Museum zu treffen, schien die normalste und natürlichste Sache der Welt – als hätte sich ihr ganzes Leben auf diesen einen besonderen Moment zubewegt. Aber die Tatsachen, die sich anderswo auftürmten – die Kriegsberichte, die sie am Morgen in den Zeitungen gelesen hatte, die Deutschen im Vormarsch auf Moskau –, machten ihr deutlich, dass diese Begegnung zwischen ihr und Romer im höchsten Maße absurd und unwirklich war. Mag sein, dass wir Geliebte sind, sagte sie sich, aber wir sind auch Spione, daher ist für uns alles anders, als es scheint.
Als er sie sah, kam er die Treppe herunter und ging ihr entgegen. Sie nahm seinen ernsten, abweisenden Blick wahr und wollte ihn am liebsten küssen, sofort in das Hotel gegenüber gehen und den ganzen Nachmittag mit ihm im Bett bleiben – aber sie berührten sich nicht, gaben sich nicht einmal die Hand.
Er zeigte in den Park. »Gehen wir ein bisschen spazieren.«
»Schön, dich zu sehen. Du fehlst mir.«
Er antwortete mit einem Blick, der besagte: So können wir einfach nicht miteinander reden.
»Tut mir leid … Kalt heute, nicht wahr?«, sagte sie und lief ihm mit raschem Schritt voraus in den Park.
Nach einer Weile holte er sie ein, und sie gingen schweigend nebeneinanderher. Dann sagte er: »Hättest du Lust auf ein bisschen Wintersonne?«
Sie fanden eine Bank, die auf eine kleine Senke mit zerklüfteten Felsen blickte. Ein Junge mit Hund warf einen Stock, doch der Hund weigerte sich, zu apportieren. Also holte der Junge den Stock zurück und warf ihn erneut.
»Wintersonne?«
»Ein einfacher Kurierjob für die BSC«, sagte er. »Nach New Mexico.«
»Warum machen die das nicht selbst, wenn es so einfach ist?«
»Seit der Sache mit der Brasilien-Karte wollen sie sich absolut koscher verhalten. Sie haben Angst, dass ihnen das FBI auf den Fersen ist. Daher fragen sie, ob es jemand von Transoceanic machen kann. Ich habe da an dich gedacht. Du musst aber nicht. Ich kann auch Morris bitten, wenn du keine Lust hast.«
Sie hatte aber Lust, und ihr war klar, dass er das wusste.
Sie zuckte die Schultern. »Ich könnte es übernehmen.«
»Es ist nicht, um dir einen Gefallen zu tun. Ich weiß, dass du deine Sache gut machst. Ein einfacher, sicherer Job. Du übergibst ein Päckchen und kommst zurück.«
»Wer führt mich? Doch nicht die BSC?«
»Transoceanic wird dich führen.«
»In Ordnung.«
Er reichte ihr einen Zettel, den sie lesen und sich einprägen sollte. Sie dachte an Mr Dimarco in Lyne, an seinen Trick, Wörter mit Farben, Erinnerungen mit Zahlen zu verbinden. Sie las den Zettel und gab ihn zurück.
»Das übliche Telefonkennwort?«, fragte sie.
»Ja. In allen Varianten.«
»Wohin fahre ich von Albuquerque aus?«
»Dein Kontakt wird es dir sagen. Ein Ort in New Mexico, vielleicht auch Texas.«
»Und dann?«
»Kommst du zurück und machst weiter wie zuvor. Das Ganze dürfte drei oder vier Tage dauern. Du kriegst ein bisschen Sonne ab und siehst einen interessanten Teil dieses riesigen Landes.«
Er strich mit der Hand über die Bank und verhakte seinen kleinen Finger mit ihrem.
»Wann sehe ich dich wieder?«, fragte sie leise und schaute in eine andere Richtung. »Es war so schön im Narragansett Inn. Können wir das nicht noch einmal machen?«
»Wahrscheinlich nicht. Es ist schwierig. Die Lage spitzt sich zu. London gerät in Panik. Alles ist ziemlich …« Er zögerte, wie um einer unangenehmen Wahrheit auszuweichen. »Ziemlich außer Kontrolle.«
»Was macht ›Gold‹?«
»Gold ist unser einziger Lichtblick. Sehr hilfreich, kann man sagen. Ehe ich’s vergesse, deine Operation heißt ›Zimt‹. Und du bist›Salbei‹.«
»Salbei.«
»Du weißt, sie lieben diese Rituale. Sie werden eine Akte anlegen und ›Zimt‹ draufschreiben. ›Top secret‹.« Er griff in die Tasche und übergab ihr einen dicken gelbbraunen Umschlag.
»Was ist das?«
»Fünftausend Dollar. Für den Mann am anderen Ende, wer immer das ist. Ich würde gleich morgen abreisen an deiner Stelle.«
»Klar.«
»Möchtest du eine Pistole?«
»Werde ich die brauchen?«
»Nein. Aber ich frage trotzdem immer.«
»Wozu habe ich meine Nägel und meine Zähne?« Sie machte Krallen und entblößte das Gebiss.
Romer lachte. Er zeigte wieder das strahlende Lächeln, das ihr sofort Paris und ihre erste Begegnung ins Gedächtnis rief. Sie sah ihn vor sich, wie er über die Straße auf sie zukam, und ein Gefühl von Schwäche überfiel sie.
»Mach’s gut, Lucas«, sagte sie und blickte ihn forschend an. »Wir müssen einiges klären, wenn ich wieder zurück bin.« Sie zögerte. »Ich weiß nicht, ob ich noch lange so weitermachen kann – es fällt mir immer schwerer. Du weißt, was ich meine. Ich glaube …«
Er unterbrach sie. »Wir werden einiges klären, mach dir keine Sorgen«, sagte er und presste ihre Hand.
Jetzt konnte sie damit herausrücken, jetzt war es schon egal. »Ich glaube, ich liebe dich, Lucas. Deshalb.«
Er erwiderte nichts, nahm es nur entgegen, mit leicht gespitzten Lippen. Noch einmal presste er ihre Hand, dann ließ er sie los.
»Bon voyage«, sagte er. »Sei wachsam.«
»Ich bin immer wachsam, wie du weißt.«
Er stand auf und ging weg, den Weg hinab. Eva schaute ihm nach und sagte zu sich selbst: Ich befehle dir, dich noch einmal umzudrehen, ich bestehe darauf, dass du dich noch einmal zu mir umdrehst. Und tatsächlich, er tat es. Er drehte sich um, lief ein paar Schritte rückwärts und hob die Hand zu seiner vertrauten Geste – ein halbes Winken, ein halbes Grüßen.
Am nächsten Morgen fuhr Eva zur Penn Station und kaufte ein Ticket nach Albuquerque, New Mexico.