Der Strand, die Steinstatue und der Eichenwald

Petronius lief durch den Wald zum Wasser hinunter. Es begann zu dämmern. Er ging nicht gern im Halbdunkel durch den Wald. Die Äste wurden dann immer zu knorrigen, braunschwarzen Gebilden; die Stämme waren dick und unverrückbar. Dam konnte nie wissen, ob dahinter nicht eine Frau lauerte. Als Petronius klein war, hatte er von dunkelgekleideten Frauen gehört, die — sich im Wald versteckten und nur darauf warteten, kleine Jungen zu fangen, um mit ihnen irgend etwas Schändliches zu treiben. Eigentlich hatte er nie richtig erfahren, was für schändliche Dinge das waren. Die Angst vor diesen dunklen Gestalten hatte ihn aber nie ganz verlassen. Plötzlich raschelte es, nur einige Meter von ihm entfernt. Petronius zuckte zusammen, dann stöhnte eine Männerstimme: „Nicht so fest, Ida.“ Ach so, nur welche, die sich liebten. Er lief schnell weiter.

Die Wellen glitzerten, als er zum Strand kam. Die großen Kullersteine leuchteten ihm entgegen, auch der Himmel war nicht so dunkel wie im Wald. Es war fast still. Die breiten, glänzenden Wellen schlugen ruhig gegen die Steine und strömten zwischen ihnen hindurch zu sich selbst zurück, als würde das Meer atmen. Hier unten war es immer ganz anders. Von der Terrasse aus schien das Meer tot zu sein, wie ein blinder Spiegel. Hier unten lebte es.

Petronius zog seine engen Schuhe aus und balancierte auf den runden, glänzenden Steinen. Sie waren noch warm, wärmer als die Luft. „Die Wibschen sollten eigentlich immer barfuß gehen.“ Jedesmal, wenn er barfuß lief, hatte er das Gefühl, daß die Füße eigentlich Greifwerkzeuge waren und einfach in viel zu enge Schuhe gepreßt wurden. Schießlich richteten sie sich immer ein wenig nach der Mode. Jetzt hatten sie gerade spitzzulaufend und kanuförmig zu sein.

Petronius’ grüne Kanu-Schuhe standen verlassen am Strand und gähnten den Himmel an. Er ging geradewegs auf die Steinstatue zu und hob einen Stock auf. Die Statue stand so weit draußen, daß sie bei Hochwasser ein Fußbad abbekam. Petronius stand vor ihr, mit den Füßen im lauwarmen Wasser. „Du bist dumm“, sagte er leise. Unberührt spähte die Steinstatue zum Horizont. „Du bist dumm“, sagte er etwas lauter. Ich verstehe dich nicht. Darum bist du dumm.“ Er hämmerte mit dem Stock gegen ihre Schläfe. „Kapierst du denn nicht, daß es nicht lohnt, hier so rumzustehen? Seit wann stehst du hier so? Seit zwanzig Jahren. Vor zwanzig Jahren ist ihnen eingefallen, auch dein Leid zu verewigen.“ Petronius umarmte den großen, runden Leib der Statue und legte seine Wange an ihren kalten rauhen Bauch.

„Ich bin so allein“, flüsterte er. „Du darfst hier nicht so stehen und versteinern, in deinem Schmerz so erhöht werden. Ich habe doch gesagt, daß ich zurückkommen werde. Erinnerst du dich? Ich habe dir doch erzählt, daß ich zum Einführungsball gehen werde.“ Er schaute auf und sah ihr steinernes Kinn. „Nein, daran erinnerst du dich nicht. Denn du denkst nur an die da draußen, an die Frauen, die nie zurückkommen. Aber jetzt nehmen wir mal an, du würdest dich an mich erinnern. Also, ich bin dort gewesen auf dem Einführungsball, ja? Genau eine Woche und einen Tag ist es her. Es war ganz anders, als ich es mir gedacht hatte. Ich hatte mir irgendwas in der Art von rosaroten Wölken vorgestellt.“ Er spürte den Wind im Nacken und rubbelte der Statue das Kreuz. „Siehst du, so. Nun werde ich dich wärmen. Hast du dir je ausgemalt, wie es ist, auf starken Armen im siebenten Himmel zu schweben? Schlaftrunken in Genüssen zu schwelgen? Aber so war es gar nicht. Und wenn die Frauen, auf die du hier wartest, wirklich nach Hause kommen, wird es auch nicht so sein. Sie kam, nahm mich, schlief ein und ging fort. Vielleicht ist sie da draußen unter denen, die du erwartest, denn soviel ich weiß...“

Petronius erschrak und stockte. Er sehnte sich nach ihr. Er starrte in dieselbe Richtung wie die Steinstatue „O Mutter! Wäre sie doch nur hier! Ich weiß nicht, wer sie ist. Ich weiß nur, wie sie heißt. Aber ich wage es nicht, mich nach ihr zu erkundigen. Sie hat mich genommen, und ich weiß, daß ich zu ihr gehöre. Deshalb traue ich mich nicht. Begreifst du das?“

Petronius strich mit dem Stöckchen vorsichtig über den Rücken der Steinstatue und fing wieder an zu murmeln: „Juckt es dort? Ein bißchen höher? Unter dem linken Flügel vielleicht? Kann deinen Flügel fast nicht sehen. Doch, hier ist er ja. Du bist so mollig und gut. Also, wir waren beim Ball. Danach ging ich runter, aber sie war weg. Ich traute mich nicht, nach ihr zu fragen. Ich war sicher, alle konnten mir die Veränderung ansehen. Die einzige, von der ich wußte, daß sie sie kennt, lag stockbetrunken in einer Nische und schnarchte. Sie soll sich ja Syprian genommen haben. Ich ging in die Bar. Die meisten Frauen waren schon ganz schön voll. Sie starrten mich von oben bis unten an. Alle konnten es mir ansehen. Aber keine sprach ein Wort mit mir. Eine fummelte mit ihrem Zeigefinger an meinem PH herum, der habe ich aber eine gehauen. Dann bin ich nach Hause gegangen.“

Petronius begann zu frieren. Er wandte sich dem Meer zu und lehnte sich an die Steinstatue. Weit, weit draußen konnte er Ödeschär erahnen. Nie war er dort gewesen, er war überhaupt noch nicht aus Egalsund herausgekommen. Langsam ging er auf den Strand zu. Petronius zuckte zusammen. Dort, ein kleines Stück von ihm entfernt, etwa dreißig Meter weiter, sah er eine dunkle Frauengestalt. Sie stand regungslos da, die Beine ein wenig gespreizt, das Gesicht halb von ihm abgewandt. Er blieb wie versteinert stehen und starrte in ihre Richtung, als verböte ihm ihre Gegenwart, sich zu rühren. Er wußte nicht, ob sie ihn gesehen hatte. Doch so, wie sie dastand, hatte er den Eindruck, als habe sie Augen an der Seite, die auf ihn zurückstarrten. Langsam und vorsichtig balancierte er auf den glatten, schlüpfrigen Steinen weiter. Sie drehte sich nicht nach ihm um und ging in die entgegengesetzte Richtung, hinaus zum Wasser. Petronius lief zum Waldweg, wo er seine Schuhe hatte stehenlassen. Er blickte sich nicht mehr nach der Frau um und rannte noch schneller. Atemlos erreichte er den Weg. Die Schuhe waren nicht mehr da. Warum waren sie weg? Hatte sie die mitgenommen? Warum? Wollte sie, daß er zu ihr zurückkam und um seine Schuhe bat? Was wollte sie von ihm? Wer war sie? Warum hatte sie die Schuhe genommen? Petronius rannte durch den Wald. Je weiter er lief, desto ängstlicher wurde er. Zweige piekten unter den Füßen. Überall sah er dunkle Gestalten hinter den Stämmen hervorlugen. Die Äste wurden zu knorrigen Köpfen, mit krummen Nasen und grinsenden Mündern. Überall raschelte das Laub und verriet schnelle Schritte. Jetzt glaubte er, daß sie hinter ihm war. Ein Ungeheuer, doppelt so groß wie er. Schon spürte er ihren Griff in seinem Nacken. Sie würde ihn packen und zwingen, in ihr häßliches und zugleich anziehendes Gesicht zu sehen. Er versuchte, schneller zu laufen, hatte aber keine Kraft mehr. Ihm schien, als würde er sie jetzt hinter sich keuchen hören. Wenn er nicht bald eine Pause einlegte, würden seine Knie unter ihm nachgeben. Er taumelte mit dem Gesicht in einen Ast. Für einen Augenblick konnte er den Weg nicht mehr erkennen, stolperte und stürzte der Länge nach zu Boden.

Als er zu sich kam, standen drei dunkle Gestalten um ihn herum. Ihre Gesichter glänzten ihm aus der Dunkelheit verschwitzt entgegen. Sie stierten ihn an, wollten etwas von ihm. Die Kraft ihrer Blicke und die unbeweglichen Gestalten nagelten ihn fest. Er merkte, daß er alle Muskeln in seinem Körper anspannte und ganz still dalag, als würde auch nur die geringste Bewegung seinen Widerwillen verraten. Mit einem Griff unter die Achseln wurde er hochgezogen. Seine Beine wurden ganz schlapp — wie bei einer Dreijährigen, die sich zu laufen weigert und vom Papa getragen werden will. Mit einem harten Griff um seine Taille wurde er einige Meter weiter in den Wald hineingezerrt und auf welkes Laub geschmissen. Er richtete sich auf.

„Aber...“, sagte er.

„Leg dich hin!“

Er legte sich hin, schloß die Augen, dachte an die etlichen hundert Meter Waldweg bis nach Hause. Er würde es nie schaffen, wegzulaufen. Gab es keine Leute in der Nähe? Keine, die ihren Abendspaziergang machten und ihn hätten um Hilfe rufen hören?

„Wenn du losbrüllst und Zicken machst, passiert was.“ Die Frau sprach ruhig und bestimmt. Die helle und durchdringende Stimme erinnerte ihn an seine Mutter. Die drei rissen sich ihre Hemden und Kittel runter. Ihre prallen Brüste glänzten in der Dunkelheit. Die Brustwarzen standen hervor. Eine Frau beugte sich über ihn. Er spürte, wie ihre Hände unter dem Hemd an seinem PH und dem Bauchgürtel fummelten. Ein hartes Zerren am Schambeutel brachte ihn zum Wimmern. „Sei ruhig! Wir tun dir nichts, wenn du nur still bist.“ Er sah die beiden anderen ihre Hosenklappe aufknöpfen und das haarige Dreieck über ihrem Geschlechtsteil entblößen. Die eine zog ein Messer hervor und gab es der, die den PH aufzumachen versuchte. „Damit geht es schneller!“ Er spürte das kalte Metall am Bauch. Sie zerschnitt den Steg zwischen Bauchgürtel und PH, zog den PH ab und warf ihn der dicken Frau zu. Sie fing ihn auf, zerriß ihn in mehrere Fetzen und schmiß sie in die Büsche. Sie griff hart nach seinem Schwanz und stopfte ihre Brust in seinen Mund. Er spürte ihren feuchten Schritt an seinem Schenkel. Er wand sich, versuchte das Bein loszukriegen. „Nein, nein! Um alles in der Welt!“ Der Griff um den Penis wurde härter. Sie keuchte ihm schwer ins Ohr, bewegte sich heftig hin und her, zwängte seinen Schenkel zwischen ihre Beine, rackerte sich ab und keuchte. Verzweifelt blickte er zu den anderen hoch. Wie konnten die da nur so rumstehen und zugucken, ohne ihm zu helfen! Ihre Brüste und Gesichter leuchteten ihm noch immer entgegen. Er schloß die Augen. Sein Penis schmerzte. Er versuchte, sich vorzustellen, er sei weit, weit weg. Dies alles geschah nicht mit ihm. Das war etwas, was einem anderen passierte. Nicht er lag hier mit einer stinkenden schweren Frau über sich. Das war ein anderer, redete er sich ein, nicht er. Sie preßte sich jetzt stärker und schneller gegen ihn. Sein Schenkel war klitschnaß. Er drückte ihn jetzt ein wenig gegen sie. Sie stöhnte, nahm die Brust aus seinem Mund und sank Für einen Augenblick mit ihrem ganzen Gewicht auf ihn nieder. Dann sprang sie auf. Petronius verharrte mit gespreizten Beinen, so als liege sie noch immer auf ihm. Er wagte kaum zu atmen, denn vielleicht hörten sie es und meinten, er sei erleichtert darüber, daß es vorbei war. Er wagte sie nicht anzusehen, lag nur dort und wartete darauf, daß sie gehen würden und er wegkonnte. Plötzlich war eine zweite über ihm. „Neiiiiiin!“ Petronius’ Stimme gellte durch den Wald. Sie klang schaurig. Nach dem Schrei war ihm noch banger zumute. Er versuchte aufzustehen. Wollte er fliehen, mußte er es jetzt tun. Durch einen festen Griff um seine Handgelenke wurde er wieder zu Boden gezerrt. „Nimm einen Schluck, dann wirst du ruhiger.“ Eine Flasche blitzte vor ihm auf. Ihr Hals wurde ihm in den Mund gezwängt. Er würgte. „Du brauchst doch nicht zu schreien. Wir tun dir doch nichts.“ Sie kniete über ihm, führte seine Hand zwischen ihre Schenkel und bewegte sich hin und her. Die Flasche wurde inzwischen von den beiden anderen geleert.

„Ich will nicht!“ rief Petronius und versuchte, seine Hand wieder freizubekommen. Sie rissen ihn erneut zu Boden. „Warum denn nicht? Das ist doch nicht schlimm.“ Die eine, die schon auf ihm war, machte heftiger weiter als zuvor. Jetzt setzte sich noch die dritte auf sein Knie, grapschte seine andere Hand und rubbelte damit an ihrer Möse herum. Nun bewegten sich beide auf ihm hin und her. Die Dicke saß hinter ihm und faßte ihn um die Taille. Wie lange sollte dieser Alptraum noch dauern! Würde er nie aufhören? Während er halb lag, halb saß, hatte er das Gefühl, daß er nie aus dieser Situation herauskommen würde, daß er für alle Ewigkeit mitmachen mußte, bis sie sich an ihm befriedigt hatten. Es gab keine andere Möglichkeit. Er hatte die Hoffnung aufgegeben, daß noch irgendwer kam und ihn rettete. Es würde schließlich heißen, er gehöre zu der Sorte von Männern, die sich auf so etwas mit Frauen einließen. Keine durfte es sehen, keine durfte es wissen. Er hörte die beiden gleichzeitig stöhnen. Sie standen auf, suchten ihre Hemden und Kittel zusammen und zogen sich an.

„Mach’s gut, du“, sagte die eine und feixte. Die drei verschwanden im Wald. Petronius lag da und hörte das Rascheln der Blätter unter ihren Füßen, hörte, wie sie miteinander brabbelten und dazwischen ein bißchen lachten. Er wartete, bis es völlig still war. Er atmete tief aus, stand auf und klopfte seine Sachen ab. Er wollte nicht denken. Nie daran denken. Nie etwas sagen. Er hatte etwas erlebt, was nie geschehen war. Sein Penis schmerzte. Er sah auf ihn herunter, wie er hilflos zwischen den Beinen baumelte, und sammelte den zerfetzten PH auf, dessen Reste verstreut auf dem Waldboden lagen. Was würden die Leute denken, wenn sie morgen früh auf ihrem idyllischen Spaziergang vorbeikamen und die kläglichen Fetzen sahen?

Würden sie eine Suche nach dem Besitzer veranstalten? Wie könnten sie es rauskriegen? Es gab hunderte von demselben Modell. Aber die Größe, die Farbe? Das könnte sie auf die Spur bringen. Er stopfte ihn unter die Bluse. Dann ging er nach Hause.

Er schlich, so leise er konnte, durch die Tür. Es war zehn. Der Fernseher plärrte im Zimmer. Er hatte die erste Stufe erreicht, als die Stimme des Vaters aus dem Zimmer tönte: „Bist du es, Petronius?“ Er spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte, wollte weinen, wollte nur die Arme um den Hals des Vaters legen und weinen. Nichts sagen. Nichts erklären. Er schluckte.

„Ja. Ich geh’ rauf ins Bett.“

„Was ist denn los, Petronius? Bist du traurig?“ Petronius spürte, wie ihm die warmen Tränen in die Augen schossen. „Nein, ich bin nur so... müde. Ich gehe ins Bett.“

„Willst du nicht noch etwas trinken, bevor du ins Bett gehst? Ich bin hier allein. Mama ist im Klub.“

„Ich gehe ins Bett. Gute Nacht.“ Er stürzte die Treppen hoch, rannte in sein Zimmer und drehte den Schlüssel herum. Tränen kullerten über seine Wangen. Er zog die Reste des PHs hervor, leerte den Papierkorb, schmiß den PH zusammen mit einigen Schnipseln Papier hinein und zündete alles an. Die Flammen züngelten über den Rand des Papierkorbes, und das Zimmer füllte sich mit schwarzem Rauch. Er weinte die ganze Zeit. Schließlich öffnete er das Fenster. Für einen Augenblick fürchtete er, es könnte einen Brand geben, doch die Flammen ließen nach. Er starrte auf die verkohlten Reste, schüttete sie in Zeitungspapier und ging nach unten, um sie in die Mülltonne zu werfen. Kristoffer kam ihm bis zum Treppenabsatz nach.

„Was machst du denn da?“

„Leere den Papierkorb“, murmelte Petronius und wurde puterrot, als er die Mülltonne öffnete und das Paket fallen ließ.

„Ich fand, es hat so komisch gerochen...“

Das Herz schlug Petronius bis zum Halse. „Ich habe ein paar Sachen verbrannt, Gedichte und so.“ Verlegen sah er zu Boden. Kristoffer schaute ihm mitten ins Gesicht.

„Was hast du denn mit deinem PH gemacht? Trägst du ihn nicht mehr?“

„Nee, bin schon beim Ausziehen.“ Er ging an ihm vorbei.

„Willst du dich nicht noch ein bißchen mit mir unterhalten, ehe du zu Bett gehst?“

„Nee. Muß die Aufgaben noch ansehen.“ Er verschwand wieder in seinem Zimmer. Wie sollte er erklären, daß sein PH weg war? Er hatte nur zwei. Der andere, den er auf den Einführungsball getragen hatte, war der aus Tüll. Mit dem konnte er nicht in die Schule gehen. Und ein PH war teuer, wenigstens fünfzig Matraken. Er öffnete die Schreibtischschublade. Dort lag das Geld, das er für einen Taucherspeer gespart hatte. Er wußte, was er zu tun hatte. Er mußte sich morgen früh, ehe die anderen aufgestanden waren, hinausschleichen und noch vor Schulbeginn einen neuen PH kaufen. Es gab keine andere Möglichkeit.

Petronius zog sich aus und legte sich hin. Er hatte Angst einzuschlafen, hatte Angst davor, das Grenzland zwischen Wachen und Schlafen zu erreichen, dort, wo die Bilder auftauchen. Er würde all die dunklen, schweigenden Gestalten sehen, die sich an ihm zu schaffen machten und um ihn herum standen. Er merkte, daß sie kamen. Er schloß die Augen und versuchte, sich zu entspannen. Sein Körper schmerzte, er war müde. Im Schritt tat es weh. Der Penis tat weh. Die Dunkelheit schlich sich in seinen Kopf. Es sauste. Und dann sah er eine Gestalt, die weit, weit entfernt war — am anderen Ende eines langen Tunnels. Sie kam näher, war schwarzgekleidet. Er konnte die Konturen gegen die Öffnung sehen. Sie kam mit langen Schritten auf ihn zu. Er erkannte sie wieder. Es war die Gestalt vom Strand. Sie kam näher. Er konnte das Gesicht sehen. Es war ein schönes Gesicht mit hohen Wangenknochen. Das Gesicht wurde größer. Schließlich war es nur noch ein Gesicht ohne Körper. Es veränderte sich allmählich beim Näherkommen. Plötzlich stürzte das Gesicht auf seines, wie ein Komet. Es war Gro! Er schrie und fuhr mit Schrecken hoch. Dann legte er sich wieder hin. Es war nur ein Traum.

Als Petronius sich am nächsten Morgen aus der Wohnung schleichen wollte, mit fünfzig Matraken und seiner Schultasche bewaffnet, lugte Bas Kopf aus dem Badezimmer. Petronius legte den Finger auf den Mund. „Pscht!“

„Hallo, Petronius!“ rief Ba. „Gehst schon vor dem Frühstück los?“ Petronius zischte wütend „Blödfrau!“ und versuchte, die Tür aufzukriegen. „Warum hast du denn deinen PH nicht um? Neue Baumelkampagne?“ fragte Balaut. Er packte sie am Handgelenk und schaute ihr bedeutungsvoll in die Augen. „Nicht ein Wort zu Mama und Papa, verstehst du? flüsterte er eindringlich. „Wenn du die Klappe hältst, kauf ich dir auch etwas.“

„Was denn?“ fragte Ba, diesmal nicht ganz so laut.

Petronius brauchte nicht nachzudenken. Er wußte, was sich Ba brennend wünschte. „Ein Messer“, sagte er. Ba nickte eifrig. Die Lippen waren zusammengekniffen. Sie legte ihren Zeigefinger drauf und schlich sich ins Schlafzimmer. Petronius glitt aus der Tür.

Petronius kam am Nachmittag mit einem neuen PH, einer exakten Kopie des alten. Er hatte auch ein Messer für Ba gekauft. Das Geld dafür hatte er sich von Baldrian geliehen. Aber das nützte alles nichts, die Katastrophe war bereits geschehen. Kristoffer hatte Bruchstücke des Gesprächs am Morgen aufgeschnappt, und als Rut zum Frühstück kam, hatte sie Ba alles entlockt, was diese wußte.

Bram wartete, bis alle saßen. Dann nahm sie Petronius mit in ihr Arbeitszimmer. „Was hat das zu bedeuten, daß du dich morgens um halb sieben ohne Frühstück und halb angezogen davonschleichst?“ Petronius schaute auf den Teppich. Er hatte es geahnt. Als er in Bas Zimmer gegangen war, um ihr das Messer zu geben, hatte sie nur den Kopf geschüttelt und wollte es nicht nehmen.

„Antworte!“ Petronius starrte auf das Muster im Teppich. Es war ein schwarzes Zickzackmuster mit einem dunkelroten Sechseck dazwischen. Er antwortete nicht. „Petronius“, sagte Bram etwas milder, „es ist sinnlos, mich anzuschwindeln. Ich sehe doch, daß du einen neuen PH hast.

per gleicht zwar haargenau dem alten, den hast du aber gestern abend verbrannt. Stimmt’s, Petronius?“

petronius nickte und starrte auf das Sechseck. Die ganze Geschichte fand sich im Muster des Teppichs wieder. Er verfolgte es mit den Augen hin und zurück, immer und immer wieder.

,Was ist gestern abend passiert, Petronius?“

Petronius schüttelte den Kopf. Er schämte sich. Sie durfte es nicht wissen. Um alles in der Welt nicht. Er würde es ihr nie im Leben erzählen. „Du warst draußen und hast einen Spaziergang gemacht, stimmt’s?“ Petronius nickte.

„Warum bist du draußen gewesen? Warum kannst du nicht zu Hause bleiben? Was willst du draußen in der Nacht?“

„Ich wollte zum Strand...“

„Was wolltest du dort? Sei ehrlich! Wolltest du irgendwen treffen?“ „Nein.“

„Bist du sicher?“

„Nein... ich meine, ja.“

„Da haben wir’s. Du wolltest irgendeine treffen. Du hast sie getroffen, und dann überfiel sie dich. Riß dir den PH runter. Zwang dich, mit ihr zu schlafen. Gib es nur zu, Petronius. Ich will doch nur dein Bestes.“

„Aber so war es doch gar nicht. Sie hat mich nicht überfallen.“

„Was?! Dann hast du also freiwillig mitgemacht! Und nach einer Weile hast du es dir anders überlegt und versucht abzuhauen, und dann nahm sie dich mit Gewalt! Ja, ich kenne diese Geschichten. Als Direktorin der Sozialfürsorge sind mir Hunderte solche Geschichten vorgekommen, wo hysterische Mannspersonen mir erzählen wollten, sie seien zu dem einen wie zu dem anderen gezwungen worden, was sie sich doch in Wirklichkeit selber eingebrockt haben. Was erwartest du eigentlich, Petronius, wenn du abends um zehn ganz allein zum Strand gehst?“

„Ich wollte doch nur mit der Sta...“

„Nur reden! Ja, das sagen alle. Nur reden. Du solltest aber nicht vergessen, Petronius — und das ist ein wohlgemeinter Rat von Mutter zu Sohn — , daß eine Frau eine Frau ist und das Ihre verlangt. Und letztendlich sieht eine Frau im Mann nur eine Matratze. Sie denkt immer nur an das eine. Du mußt nicht glauben, daß sie sich nur mit Reden begnügt. Du solltest dich mal in ihre Lage versetzen, Petronius, wie dein armer, kleiner Schwanz sie erregt, und wenn dann die Dunkelheit hereinbricht, kannst du einfach nicht erwarten, daß sie sich mit einem Gespräch abspeisen läßt.“

Es war entsetzlich. Sie stand da und sprach ganz ungeniert von seinem

Schwanz. Er schämte sich deswegen und weil er so vor ihr stand — mit seinem neuen PH — , weil sie ihn anschauen und ihm geradeheraus sagen konnte, daß er ihn eigentlich verstecken müßte. Er vergaß darüber fast, daß sie die ganze Geschichte verdreht hatte. Das empfand er beinahe als Erleichterung; so brauchte er wenigstens nicht zu erzählen, wie sich alles wirklich zugetragen hatte. Er starrte nur auf das Teppichmuster und ließ sie weiterreden.

„Normalerweise werden solche Geschichten direkt zum Gewaltdezernat weitergeleitet. Da du aber mein Sohn bist, bleibt dir das erspart. Solche Dinge sind für die betroffenen Männer äußerst peinlich. Und was noch schlimmer ist: Sie haben fast keine Chance, später ein Vaterschaftspatronat zu bekommen. Du kannst froh sein, Petronius, daß du eine Mutter hast, die dich beschützt. Natürlich .wäre es mir im Büro auch sehr unangenehm. Eine Frau in meiner Position. Aber das hätte ich auch noch verkraftet.“

Hier machte sie eine kleine Pause, um ihre Tapferkeit zu unterstreichen. Ja, sie war schon couragiert. Sie hatte schon viele Anfeindungen ertragen. Die würde sie auch noch einstecken können.

„Wir erstatten keine Anzeige, Petronius. Wir wollen die Sache vergessen. Das wird das beste sein. Denn wer will schon ein Mannsbild haben, das auf diese Weise geschändet wurde?! Nein. Am besten, wir vergessen das Ganze. Diesmal lasse ich es noch einmal durchgehen. Doch eins steht fest: Du darfst nicht mehr allein im Dunkeln zum Strand gehen.“