Stillzeit und Jünglingsträume
„Liebe Gro! Ich habe mich immer nach der Freiheit gesehnt...“ Was für ein idiotischer, rührseliger Anfang! Petronius starrte auf das Blatt Papier und dann aus dem Fenster seines Zimmers. Aber stimmte das denn nicht? Hatte er sich nicht immer nach der Freiheit gesehnt?
Er zerriß das Blatt und fing ein neues an. „Liebe Gro! Weißt du, es gibt da etwas, was mich schon lange beschäftigt und was ich Dir gerne erzählen möchte. Als vor drei Monaten mein kleiner Bruder geboren wurde und ich im Gebärpalast saß, kam mir der Gedanke, daß...“ Er hörte wieder auf und schaute aus dem Fenster. Es war dunkel draußen, und er konnte sich in den Scheiben sehen. Sein runder Kopf mit dem dünnen Hals, dem struppigen Haar und dem sich kräuselnden Bartflaum wirkte einfach lächerlich. Wie konnte er hier sitzen und tiefe und ernste Gefühle haben, wenn er so lächerlich aussah?
Er schaute wieder auf das Papier und las: „...kam mir der Gedanke, daß...“. Woran hatte er nur gedacht? An sie natürlich. „...eigentlich hatte ich mir gewünscht, Dich dort liegen zu sehen und derjenige zu sein, der sich erhoben und unser Kind entgegengenommen hätte. Gro, das ist es, was ich mir am allerliebsten auf der Welt wünsche. Ich will Dein Kind entgegennehmen. Nun weißt Du es. Ich sollte das vielleicht nicht sagen. Aber es ist wahr. Ich habe mir immer gewünscht...“ Frei zu sein, dachte er, frei zu sein und Gros Kind entgegenzunehmen, das Kind von der Wibsche entgegenzunehmen, die ich liebe. Und frei zu sein. Er schaute von dem Geschriebenen auf und sah sich wieder im Fenster. Diesmal betrachtete er sich aufmerksam. Wie könnte er das Kind entgegennehmen und gleichzeitig frei sein? War das möglich? Natürlich war es möglich. Warum sollte er dazu nicht imstande sein, auch wenn es für seinen Vater unmöglich gewesen war? Gro war nicht so wie Rut. Gro nahm auf ihn Rücksicht. Sie erzählte ihm vieles. Sie liebte ihn und brachte ihm viel bei. Er dachte an ihre Arme, ihre Schultern. Wie fest sie ihn hielt! Wie geborgen und warm er sich an ihrer Brust fühlte! Wie sie es immer wieder schaffte, in ihm den Wunsch hervorzurufen, nur bei ihr zu bleiben und nie mehr nach Hause zu müssen! Nie mehr! Einfach dort zu bleiben.
Er zerriß auch diesen Brief. „Liebe Gro! Ich liebe Dich“, schrieb er. Er besah sich die Wörter. Er zeichnete die Buchstaben noch einmal nach und kritzelte an ihnen herum. Dann fügte er hinzu: „Gro Maitochter. Ich liebe Dich. Petronius. Petronius Bram liebt Gro Maitochter. Liebt, liebt, liebt sie.“
Er hörte Klein-Mirabello weinen und daß Kristoffer zu ihm ging. Er hatte sein eigenes Zimmer, damit Rut ihn nachts nicht zu hören brauchte. Petronius ging hinaus.
„Papa? Ich will dem Kleinen gern etwas Vorsingen, wenn du müde bist.“ Kristoffer lächelte und strich Petronius über die Wange. Petronius hatte sich in diesen ersten Monaten ziemlich viel um Mirabello gekümmert. Er hatte ihn auch zweimal in der Woche im Anschluß an die Schule zur Direktorinnenfirma gebracht, damit Rut ihrem Jüngsten die Brust geben konnte. Das mußte zweimal während der Arbeitszeit gemacht werden — vormittags und nachmittags. Das Gerede von einem Geburtsurlaub hatte Rut nämlich mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen. Sie müsse sofort nach der Geburt an ihren Arbeitsplatz zurück. Es stand ihr — wie jeder Frau — frei, entweder sofort wieder arbeiten zu gehen oder den gesetzlichen Schwangerschaftsurlaub zu beanspruchen. Eine Extravergütung bei sofortiger Wiederaufnahme der Arbeit bekam sie nicht. Denn das hätte ja dazu geführt, daß die Frauen gezwungen worden wären, sofort nach der anstrengenden Schwangerschaft die Arbeit wieder aufzunehmen, und deshalb war eine Prämie ausgeschlossen. Aber für Rut spielte das keine Rolle. Sie hielt es zu Hause nicht mehr länger aus. Sie war ganz versessen darauf, wieder an ihren Arbeitsplatz zu kommen, ihre Anordnungen zu treffen und ihren kleinen, süßen Sekretären, wenn sie mit einem Schrieb vorbeitänzelten, auf den Hintern zu klopfen. Und Rut trat in der Tat drei Tage nach Mirabellos Geburt ihren Dienst wieder an.
Die Folge war, daß Kristoffer zweimal am Tage zur Direktorinnenfirma mußte, damit Mirabello Ruts Brust bekommen konnte. Und da die Stillzeit fünf Monate dauerte, war auch die Zeit nach der Geburt sehr anstrengend für Kristoffer.
Doch es war eine notwendige Plackerei. Die Mutter durfte sich während der Stillzeit nicht unnötig aufregen, sonst, hieß es, könne die Milch ausbleiben. Und welcher Vater wollte schon, daß die Nahrungsquelle für sein Kind versiegte? Die Rücksicht auf das Kind ging in jedem Fall vor. Das empfanden und meinten alle. Auch Kristoffer.
Rut hatte ihm denn auch zu verstehen gegeben, es sei das letzte Mal gewesen — endgültig das letzte Mal — , daß sie eine Schwangerschaft durchgemacht habe. Plötzlich hörte es sich an, als habe er sich das Kind ertrotzt. Es klang auch so, als sei dieses einzigartige, orgiastische Geburtserlebnis aus ihrer Erinnerung getilgt. „Hast du denn die Freude bei der Geburt vergessen?“ deutete Kristoffer vorsichtig an. „Nein. Aber Arbeit ist Arbeit.“
Da erwiderte Kristoffer nichts mehr. Eigentlich war er ja auch erleichtert, daß Rut wieder zur Arbeit ging. „Um allen Scherereien aus dem Wege zu gehen“, fuhr sie fort, „will ich, daß dam dich sterilisiert.“ Einerseits fiel Kristoffer gewissermaßen ein Stein vom Herzen, daß Rut ihn sterilisiert haben wollte. Doch spürte er andererseits auch mit einer gewissen Angst und auch Wehmut, daß mit dieser Maßnahme seine Lebensaufgabe beendet sein würde.
Petronius hatte Kristoffer in dieser Zeit viel geholfen. Aber Rut schätzte es nicht besonders, daß Petronius Mirabello so oft zu ihr brachte. Es sei eine natürliche Aufgabe des Vaters, das Kind zur Mutterbrust zu bringen, meinte sie. Doch hatte sie sich grollend damit abgefunden. „Ja, ja“, sagte sie witzig zu ihren Kolleginnen, „eine Frau hat ja heute nichts mehr zu sagen. Diese Männer machen doch, was sie wollen.“
„Würdest du tatsächlich?“ fragte Kristoffer dankbar.
„Mmmmmm. Ich singe ihm das Lied von Rapinzel vor, das du mir vorgesungen hast, als ich klein war.“
Kristoffer küßte Petronius auf den Mund. Petronius umarmte seinen Vater und lächelte. Als sie beide so dicht beieinanderstanden, sah Petronius deutlich, wie schütter Kristoffers Haar in der letzten Zeit geworden war. Er war auch sonst schmal geworden und sah abgearbeitet aus. Bald mußte er eine Perücke haben, denn so konnte er unmöglich noch länger herumlaufen.
„Gute Nacht, Papa.“
Kristoffer drückte seine Hand, lächelte ihm sanft zu und verschwand mit gebeugtem Rücken im Schlafzimmer. Petronius ging zu Mirabello, der mit geöffneten Augen dalag und jammerte. Es gab nichts Niedlicheres auf der Welt, fand Petronius. Ganz behutsam stimmte er das Lied von Rapinzel an. Das Lied war eine alte Ballade über das schöne Jungherrlein in seinem Jungherrengemach, ganz oben in dem unendlich hohen Turm. Dort hatte ihn seine böse Mutter eingesperrt, denn keine sollte ihm die Tugend rauben. Und so saß er dort in seiner Einsamkeit und warf die prächtigsten Blumen aus dem Fenster. Woher er die Blumen hatte, darüber berichtete die Ballade nichts. Jedenfalls hatte er dort oben schon Monate und Jahre geschmachtet und Blumen aus dem Fenster geworfen. Sein Bart wuchs und wuchs. Er wuchs aus dem Fenster hinaus und an der steilen Mauer des Turmes hinunter. Eines Tages kam eine prächtige Dame vorbeigeritten. Die Brüste wippten elegant im leichten Trab. Rapinzel warf ihr eine Blume herunter. Die Dame hielt am Fuße des Turmes an, hob die wundersame Blume auf und spähte sehnsuchtsvoll zu dem schönen Jungherrn dort oben hinauf. Dann sang sie ein Lied nach dem anderen über ihr Unglück, nie zu ihm gelangen zu können. Währenddessen wuchs der Bart und wuchs und wuchs, bis zu ihr herunter, so daß sie sich an den Strähnen festhalten und zu dem Jungherrn hochklettern konnte. So bekam die vornehme Troubadoura ihren schönen Knaben, trotz des grausamen Einfalls der bösen Mutter. „Hat es denn am Bart nicht weh getan, Papa?“ hatte Klein-Petronius damals seinen Vater gefragt. Aber darüber erzählte die Geschichte nichts, und Petronius fand jetzt, daß es doch eine recht sonderbare Geschichte sei, weil die Troubadoura den Jungherrn so am Bart habe ziepen müssen, die Geschichte aber gar nicht davon handelte. Doch die Ballade hatte eine schöne Melodie, und deshalb sang er sie. Er sang sie aber auch, weil es ihn auf wunderbare Weise sorglos machte, wenn er an etwas Bekanntes dachte — selbst wenn es dumm war. Er stand am Fenster und sang alle Strophen. Als er bei der dritten angelangt war, schlief Mirabello schon, aber Petronius sang einfach weiter, während er hinaussah und sich danach sehnte, weit weg zu sein.
Vor dem Fenster unter der Straßenlaterne blitzte das nagelneue knallgelbe Elektro-Auto vom Typ Super Di-Smash 1313, das Bram sich vom Schwangerschaftsgeld angeschafft hatte.