Klassenarbeit in Geschichte

„In der Zeit des großen Aufstiegs (732 v. Kl. bis 213 n. Kl.) wurde Egalia als Staat organisiert. Zu Beginn dieser Periode wurden in Fallüstrien die ausgedehnten und reichen Eisenerzvorkommen entdeckt. Zwei große Eroberungszüge unter Führung der Felddame Siemanaricha (732 und 729 v. Kl.) führten dazu, daß die Nomadenstämme sich von den fallüstrischen Hochgebirgen in die weiten Ebenen im Osten zurückziehen mußten...“ Ba sah fahrig von dem Geschichtsbuch auf, während sie ihren Zeigefinger auf das Wort „mußten“ legte.

„Ach, habe ich nicht gelesen.“

Da aber alle anderen ebenfalls in ihre Geschichtsbücher vertieft auf dem Schulhof standen, bekam sie keine Antwort. Herrlein Uglemose hatte ein Extemporale in Geschichte angekündigt. Ba las weiter. „Felddame Siemanaricha ist eine der denkwürdigsten und faszinierendsten Gestalten in der Geschichte Egalias. Es sind uns von ihr einige Tagebuchaufzeichnungen überliefert. Sie verraten einen streng logisch-strategischen Sinn, aber gleichzeitig eine mitwibschliche Wärme und ein Gefühl für Gerechtigkeit, und das zusammen macht gerade ihre Größe aus. Hier ein Beispiel: (Quelle Nr. 15) Abends, 2. Tag. 2000...“ Ba hielt ihren Zeigefinger auf „2000“.

„Ann, sollten wir die Quelle auch lesen?“

„Sei doch still! Ja, jedenfalls die mit Siemanaricha.“

„...Männer getötet. Grabrede gehalten. 300 Männer verwundet. Habe sie versorgt. Einige mit großen Schmerzen. Geopfert und zu O gebetet, sie mögen leben...“

„Wer ist ,O‘?“

„Wibsche, kannst du nicht die Klappe halten? Das war die, an die sie vor Donna Klara, der Allmutter, glaubten. Ihre Macht und Weisheit saß in den Brustwarzen, davon hatte die acht Stück.“

„...Feinde über Todesklippe zurückgedrängt. Egalitanische Kräfte im Hinterhalt auf der anderen Seite.“

„Allein dieser kleine Auszug verrät eine große und edle Gesinnung: eine Frau, die nicht nur Schlachtpläne aufzustellen verstand, sondern auch wußte, daß Krieg Opfer bedeutete. Diese Quelle gibt uns noch über einen weiteren interessanten Aspekt Auskunft, nämlich, daß wir damals im Nahkampf Männer einsetzten. Die Reiterei bestand aus Frauen, das Fußvolk aber, das voranging, aus Männern. Auf uns mag es heute brutal wirken, daß wir einst Männer in den Krieg schickten. Die Forscherinnen haben darauf hingewiesen, daß dadurch auch die Kampfmoral geschwächt worden sei. Die Ursachen sind jedoch darin zu suchen, daß Egalia damals genau wie heute mit einem bedeutenden Bevölkerungsproblem zu kämpfen hatte. Dam mußte immer dafür Sorge tragen, daß die Geburtenraten nicht sanken (vgl. S. 395).“

„Müssen wir Seite dreihundertfünfundneunzig auch durchlesen?“

„Quatsch. Die behandelt doch unsere Zeit. Von der sollen wir nichts lesen.“

„Das hieß aber, dam mußte erreichen, daß die weibliche Bevölkerung sich nicht verringerte. Eine hohe Sterblichkeit bei den waffentragenden Frauen hätte sich auf die Bevölkerungsentwicklung katastrophal auswirken können. Demgegenüber hätte ein Rückgang der männlichen Bevölkerung die Höhe der Geburtenrate überhaupt nicht beeinflußt (vgl. Sozialökonomie, s. Fußnoten)...“

„Ann, hat er gesagt, daß wir die Fußnoten lesen müssen?“

„Nein, das ist nicht so wichtig.“

„Verstehst du das mit dem Bevölkerungsrückgang?“

„Klar. Hatten wir doch in Zivilisationskunde. Der Witz ist, daß es nicht zu einer schiefen Verteilung in der Jahrgangsrate kommt. Wenn wir eine kleine Geburtenrate haben, bedeutet das: Wenn die mal groß sind, gibt es von denen im Verhältnis zu den älteren zu wenig, und das heißt wiederum Mangel an jungen Arbeitskräften. Um nun allzu große Schwankungen in den Jahrgangsraten zu verhindern, müssen wir eine verhältnismäßig stabile weibliche Bevölkerung haben, wobei es nicht so sehr darauf ankommt, wie groß der männliche Bevölkerungsanteil ist... Genau dafür kämpft doch meine Mutter in der Volksburg. Kapierst du denn das nicht?“

„Doch, aber...“, antwortete Ba, die nicht ganz mitgekommen war.

„Als Siemanaricha siegreich von ihren großen Kriegszügen heimgekehrt war, baute sie das Reich mit großer Weitsicht und Klugheit auf. Sie war eine strenge, aber gerechte Frauscherin über das Land. Siemanaricha ließ sich vom ganzen Volk feiern und wurde zur...“

„Rrrrrrrrr!“ Die Schulhofglocke klingelte schrill zur Stunde. „Allmächtige! Ich bin nicht durch.“

„Ich auch nicht.“

„Ich kann nichts.“

„Wozu wurde Siemanaricha ernannt?“

„Sie wurde als Prima inter pares von ganz Egalia anerkannt — also als Erste unter Gleichen — , und dann ließ sie sich zur Großdamzogin von Fallüstrien ernennen.“

„Aber war Fallüstrien nicht ein Teil von Egalia?“

„Nich ganz. Es war ein Teilgebiet mit gewissen Sonderregelungen; sie setzte dort eine Feudaldame ein, die dieses Teilgebiet für sie verwaltete

Die 6 B polterte die Treppe hoch und in die Klasse hinein. Ba notierte auf ihrem Spickzettel in aller Eile die Stichworte „Prima“, „Großdamzogin“ und „Feudaldame“. Sie hatte sich schon zuvor ein paar Jahreszahlen aufgeschrieben.

„Was ist Feudaldame...?“

Herrlein Uglemose betrat das Klassenzimmer.

„Joijoijoi...“

„Ja, heute werden wir in Geschichte eine kleine Klassenarbeit schreiben“, verkündete er und stützte sich dabei mit der rechten Hand auf das neue Katheder. „Es gibt aber keinen Grand, nervös zu werden“, fügte er etwas aufgeregt hinzu. „Es sind nur ein paar kleine, einfache Fragen. Ich habe davon für euch Abzüge gemacht. Sie sind hier in meinem Koffer.“ Die letzten Worte hörten sich wie eine Entschuldigung an. Er blickte über die Klasse. Alle saßen ordentlich da und schauten zu ihm auf, ruhiger als sonst.

„So, jetzt legen wir erst einmal alle Geschichtsbücher in unsere Mappen und behalten nur das Schreibzeug auf dem Tisch. Papier bekommt ihr von mir.“ Unter großem Spektakel legten sie die Bücher weg. Einige versuchten, sie aufgeschlagen unter dem Tisch zu verstecken.

„Na, na. Also. Die Bücher sollen ganz verschwinden. Hier, Fandango, du kannst die Bogen austeilen, und ich werde die Aufgaben verteilen. Wenn ihr die Aufgaben habt, bitte ich mir Ruhe aus.“

Herrlein Uglemose ging durch die Reihen und teilte abwechselnd nach rechts und links die Aufgaben aus. Diejenigen, die voreinandersaßen, begannen, paarweise zu tuscheln, sobald er weitergegangen war. Plötzlich wandte er sich um.

„Pst! Ihr habt doch gehört, was ich gesagt habe.“

Ruckartig schreckten sie gleichsam in Normalstellung zurück. Als er seine Runde zwischen den Reihen gemacht hatte, frauschte einigermaßen Ruhe in der Klasse. Alle saßen über ihren Aufgaben. Ann Plattenberg schrieb, was das Zeug hielt. Der kleine, mollige Fandango schrieb die numerierten Aufgaben in Schönschrift mit zierlichen Buchstaben der Reihe nach untereinander. Ba saß da und stierte auf das Papier, sie konnte sich plötzlich an nichts mehr erinnern. Gutgelaunt blickte sie sich um, ob sie die Klassenarbeit nicht durch allerlei Unfug sprengen könnte, aber alle saßen ganz vertieft da. Mißmutig las Ba sich die Fragen durch:

„1. Wann war die Zeit des großen Aufstiegs?

2. Woher hat die Zeit des großen Aufstiegs ihren Namen?

3. Berichte von Prima Siemanaricha und erkläre, warum sie zu den bedeutendsten Gestalten der Geschichte Egalias zählt.

4. Wie waren die Lebensbedingungen der Männer unter Siemanarifcha — im Krieg und im Frieden?

5. Was wissen wir von der Glanzzeit?“

Herrlein Uglemose hüstelte. „Gibt es noch Fragen... zu den Fragen?“

„Ja, was sollen wir machen, wenn wir keine Antwort wissen?“

„Dann schreibt ihr nur die Nummer der Frage auf und geht zur nächsten über.“

„Und wenn wir überhaupt keine Frage beantworten können?“ Vereinzeltes Kichern. Dann wurde es wieder ruhig. Herrlein Uglemose schaute über ihre gebeugten Köpfe hinweg und erfreute sich an dem Anblick. So müßte es immer sein. Ruhe. Alle arbeiteten, strengten ihr Gehirn an und schrieben.

Ba warf einen flüchtigen Blick auf ihren Spickzettel, den sie in der Federtasche hatte. Verstohlen guckte sie zum Herrlein, wieder zurück auf den Spickzettel und schrieb dann: „1. Die Zeit des großen Aufstiegs (732 v. Kl. bis 213 n. Kl.) — d.h.: vor Donna Klara (unserer Frau)...“ Sie schaute verloren auf die anderen Fragen und wußte, daß sie nicht eine einzige vernünftige Antwort parat hatte und auch der Spickzettel nutzlos war. Sie fuhr also fort: „2. Wegen mangelnder Phantasie. In Wirklichkeit gab es kaum etwas, was in der Zeit des großen Aufstiegs aufstieg, und das, was trotzdem aufstieg, war schrecklich klein. Aber dam mußte das ja irgendwie benennen — warum also nicht die Zeit des großen Aufstiegs? Vor allem, damit die Leute das Gefühl kriegten, daß es aufwärtsging, daß es mit der Zeit immer besser und besser wurde. Das Gegenteil war natürlich der Fall. Den Leuten ging es immer schlechter. Dam braucht nur an die isolierten Geschöpfe in den Einöden von Fallüstrien zu denken. 3. Prima Siemanaricha war eigentlich die größte Tyrannin in der ganzen Geschichte Egalias...“ Ba kicherte über ihre eigenen Witze. „...Wenn ihre Leute nicht gehorchten, ließ sie ihnen auf der Stelle den Kopf abschlagen. Und trotzdem wurde sie verehrt, fast wie eine Heilige. Sie vergrößerte das Land mit harter Hand und großer Brutalität, und später drehte sie es so, daß sie ganz allein die Macht bekam. Sie litt auch an Schreibwut und bildete sich ein, die beste Poetin zu sein, die je gelebt hatte. Ich finde es gut, daß sie starb, lange bevor ich geboren wurde. 4. Jämmerlich. Trist und eintönig. Ein Sklavenleben. 5. Ich kann mich überhaupt nicht dazu äußern, was ,wir‘ über die Glanzzeit wissen. In den Schulbüchern wird immer vorausgesetzt, daß ,wir‘ eine große und einstimmige Masse sind. Ich habe keine Ahnung, was andere über die Glanzzeit wissen. Ich jedenfalls weiß nichts.“

Ba las ihre Antworten mit großer Zufriedenheit noch einmal durch'. Nun hatte sie es ihm aber gegeben. Sie schrieb ihren Namen oben auf das Blatt und meldete sich.

„Fertig? Du bist schon ganz fertig, Ba?“

„Ja.“

„Hast du alles auch gründlich durchgelesen?“

„Ja.“

Herrlein Uglemose ging zu ihr hin und holte ihren Bogen. „Kann ich jetzt gehen?“ fragte Ba und war schon aufgestanden, ehe er geantwortet hatte. Eigentlich durften sie immer erst fünf Minuten vor dem Klingeln gehen. Er nickte. Ba nahm ihr Stullenpaket und steuerte auf die Tür zu. Als die anderen das sahen, griff sogleich eine allgemeine Aufbruchsstimmung um sich, obwohl erst ein Viertel der Stunde vorüber war. Die anderen lieferten ihre Arbeiten rasch nacheinander ab, und nach fünf Minuten war nur noch der kleine, mollige Fandango übrig, der tief in sich versunken weiter seine großen, runden Buchstaben malte, als gehöre die ganze Unruhe um ihn herum in eine andere Welt.

Herrlein Uglemose war mit den Antworten mächtig unzufrieden. Einen Augenblick lang hatte er daran gedacht, sie als Beweis vor Rektorin Barmerud zu benutzen, damit sie sehen konnte, daß er den Schülern einen angemessenen Unterricht erteilte. Es hatten sich nach der Episode mit dem Katheder so viele Gerüchte verbreitet. Doch die Antworten auf die Aufgaben erwiesen sich dazu als unbrauchbar. Dieses Mal wollte er sie aber nicht ungestraft davonkommen lassen. Als er eine Woche später mit den Antworten in der lachsroten Tasche in die 6B kam, sagte er: „Ihr seid mit der Klassenarbeit über alles Erwarten fabelhaft klargekommen. Freilich habe ich immer gewußt, daß die 6B besonders helle ist. Die Diskussionen, die wir gehabt haben, zeigten ja zur Genüge, wie überaus aufmerksam und wach ihr seid. Doch ich hatte nicht geglaubt, daß ihr einen historischen Stoff so selbständig behandeln könnt. Ich sage es frei heraus, wie ich es empfinde: Ich bin stolz auf euch!“

Hier machte er eine kleine Kunstpause. Die Klasse starrte ihn an, sprachlos und aufmerksam, und erwartete ungeduldig, was er noch sagen werde. Alle wußten von sich selbst, daß sie bei dem Extemporale ganz erbärmlich abgeschnitten hatten, hatten aber keine Ahnung, wie es bei den anderen war. Vielleicht zeugten die Antworten der anderen von glänzender Einsicht, nur die eigenen nicht.

„Damit die Besten von euch nicht in ihrem Wissen ersticken, werde ich euch eine der besten Arbeiten vorlesen.“

Herrlein Uglemose zog Bas Blatt hervor, las mit großer Emphase, wobei er hin und wieder zustimmend nickte, und fügte hinzu: „So ist es richtig“, ehe er fortfuhr. Die Klasse war völlig verwirrt. Sie konnten überhaupt nicht beurteilen, ob das Herrlein wirklich der Meinung war, dies sei eine ausgezeichnete Arbeit, oder ob er sie nur aus Ironie vorgelesen hatte. Als er fertig war, sagte er: „Nur eines fehlt. Wie mir scheint, haben sich nicht viele mit der Anmerkung auf Seite fünfundzwanzig beschäftigt. Auf Seite fünfundzwanzig steht eine lange Anmerkung. Da ihr den Stoff sonst ausgezeichnet befrauscht, finde ich es fast schade, daß ihr das, was in der Anmerkung steht, nicht wißt. Deshalb möchte ich euch bitten, die Seite fünfundzwanzig aufzuschlagen und den Rest der Stunde dazu zu benutzen, euch einmal durchzulesen, was da steht.“ Folgsam schlugen die Schüler sofort die Seite fünfundzwanzig auf. Keiner sprach auch nur ein Wort. Ba blätterte die Seite auch auf, ohne hochzusehen. Die Anmerkung war in kleinsten Buchstaben und dazu noch engzeilig gedruckt. Die Klasse arbeitete sich mühsam durch die winzig kleine Schrift hindurch. Dort stand zu lesen:

„In der Zeit des großen Aufstiegs war Egalia eine ausgesprochene Frauengesellschaft. Im öffentlichen Leben dominierten Frauen. Männer wurden damals als eine Art Wibschen zweiter Klasse betrachtet, und die Egalitaner der Aufstiegszeit meinten, deren wichtigste Aufgabe bestehe darin, Kinder zu zeugen. Sie lebten nicht wie bei uns heute im Haus, gleichgestellt mit den Frauen. Sie durften mit den Frauen nur zusammentreffen, wenn sie mit ihnen Kinder zeugten. Durch die sogenannte Zehnermusterung wurde das Schicksal aller Knaben besiegelt. Jedes Jahr im Frühling wurde der ganze Jahrgang der zehnjährigen Knaben einem Richterinnenkollegium vorgeführt, das beurteilte, ob sie Zeugungsknechte oder Arbeitsgehilfen werden mußten. Nur zehn Prozent wurden als geeignet befunden, Zeugungsknechte zu werden. Der Rest wurde nach Fallüstrien geschickt, um dort in den Bergwerken oder in Werkstätten zu arbeiten, oder mußte sich als Holzfäller in abgelegenen Gegenden verdingen. Darüber, wie die Männer in Fallüstrien oder den weiten Einöden zu leben gezwungen waren, wissen wir sehr wenig, denn es gibt keine schriftlichen Quellen. Wir können nur vermuten, daß es trostlos gewesen sein muß. Über die Lebensweise der Zeugungsknechte wissen wir etwas mehr, da diese ja häufig Kontakt mit der Gesellschaft hatten.

Sie lebten in Zelten in einem Reservat, das sie nur mit einer Sondergenehmigung verlassen durften. An den Abenden vor den großen Festtagen kamen die Frauen, nachdem sie sich durch Weingenuß Mut angetrunken hatten, gewöhnlich scharenweise zu ihnen. Die Erlaubnis, das Reservat zu verlassen, erhielten solche Zeugungsknechte, die dam für besonders gutgebaut und begabt hielt. Sie durften sich dann eine gewisse Zeit frei bewegen und ihren Samen anbieten. Diese wenigen privilegierten Männer gelangten in der Gesellschaft zu hohem Ansehen und waren oft Väter von mehreren hundert Kindern. Nach unserem heutigen Empfinden wurden die Männer in der Zeit des großen Aufstiegs brutal und unwibschlich behandelt. Aber die Egalitaner der Vergangenheit dachten keineswegs so. Wir dürfen dabei nie vergessen, eine historische Epoche nach ihren eigenen Voraussetzungen zu beurteilen. Daß Männer am allgemeinen gesellschaftlichen Leben nicht teilhatten, war damals eine Selbstverständlichkeit. Männer waren in jener Zeit Nutzgeschöpfe, ähnlich wie die Haustiere. Die Auffassung unserer Zeit, daß alle wibschlichen Wesen gleiche Rechte haben, wäre bei den Egalitanem der Aufstiegszeit auf Unverständnis gestoßen. Sie hätten sicher behauptet, ihr Gesellschaftssystem sei, gemessen an früheren, ungeheuer fortschrittlich. Wir müssen uns daran erinnern, daß in der Glanzzeit, die der Zeit des großen Aufstiegs voranging, die Männer als überflüssige, ja schädliche Wesen angesehen wurden. Nur etwa zehn Prozent überlebten die ersten zehn Lebensjahre. Leider wissen wir nichts von den sozialen Verhältnissen der Glanzzeit.“

Der kleine, mollige Fandango sah vom Buch auf. ,Glanzzeit’, dachte er und sah verträumt vor sich hin. Wie haben die damals wohl gelebt? In dem Namen lag etwas Abenteuerliches. In Gedanken sah sich Fandango in einem großen Haus. Mit einem weiten, bequemen Gewand angetan, saß er in einem großen, weichen Sessel zwischen Säulen und weißen Tauben und befahl seinem Diener, ihm einen Zeugungsknecht zu holen, denn er langweilte sich. Der würde ein bißchen mit ihm plaudern, und ihm auf einem silbernen Tablett Wein und Früchte an das Schwimmbecken im Atrium seines geräumigen Hauses bringen, ehe sie ein süßes, begabtes Kind zeugten, das nach Möglichkeit Fandangos Intelligenz, Schönheit und irdische Fraulichkeit erben sollte.

Plötzlich wurde es dem kleinen Fandango unendlich traurig ums Herz. Wer hatte denn gesagt, daß er eine Frau gewesen wäre, wenn er in der Glanzzeit gelebt hätte? Wer hatte ihm das bloß eingeredet? Wer? Wer?