Die Maskulinisten auf neuen Abenteuern

„Wir wollen zum Treffpunkt für Homosexuelle!“

Die Taxifahrerin bewahrte die Fassung, kratzte sich am Kopf und sagte nichts. Sie erkundigte sich über Funk bei dem Herrn von der Zentrale und mußte dreimal das Wort homosexuell“ wiederholen, ehe er begriffen hatte. An seinem Tonfall konnten sie aber hören, daß er es schon beim ersten Mal verstanden hatte. Doch in solchen Fällen war es nötig, sich hundertprozentig vor Mißverständnissen zu schützen.

Die Taxifahrerin bekam die Adresse eines Restaurants im Hafenviertel und fuhr los. Als das Taxi endlich hielt, war keine Spur von einem Restaurant zu sehen. Doch als sie sich genauer umschauten, entdeckten sie in einem Hauseingang einen Klingelknopf, über dem ein winziges Schild „Club 84“ angebracht war. An der Tür, aus der Musik und Stimmengewirr drangen, stand „Nur für Mitglieder“. Petronius und Baldrian legten die Arme umeinander und klingelten. Nach einer Weile wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet, und eine Nase und ein Auge waren zu sehen.

„Sind Sie Mitglied?“ fragte die Nase.

„Nein, wir möchten es aber gern werden.“

„Wo wollen Sie Mitglied werden?“ fragte die Nase wieder.

„Im Homosexuellenklub.“

Erst jetzt wurde die Tür ganz geöffnet, und der Mann, dem die Nase gehörte, stand in voller Größe vor ihnen. Er war kräftig gebaut, trug lange schwarze Hosen und eine schwarze Jacke und hatte sich seines PHs entledigt.

„Ich bin der Rausschmeißer hier“, erklärte er. „Muß aufpassen, daß kein Unbefugter Zutritt erhält.“

Er faßte sie vertraulich am Ellenbogen und geleitete sie durch einen langen Korridor und dann über eine Treppe nach oben, wo er sie zur Garderobe wies.

„Zwei neue“, sagte er und verschwand durch die Schwingtür.

„Ich nehme Ihnen die Sachen ab“, sagte der Garderobenherr, der sich bei näherem Hinsehen als eine Frau entpuppte. Sie war in ihrem Äußeren nicht weniger sonderbar als der Rausschmeißer. Sie trug ihr Haar aufgesteckt, hatte eine geblümte Seidenbluse und einen engen Rock an und trippelte mit kleinen Schritten hinter der Barriere mit den Kleiderständern hin und her. Petronius und Baldrian waren fasziniert. Sie taten so, als sehe die Garderobiere wie eine ganz normale Frau aus.

„Das macht zwanzig Matraken für jeden, bitte.“

„Was?“

„Fünfzehn Matraken Eintritt und fünf für die Garderobe. Und dann muß ich noch um Ihre Namen bitten. Die müssen hier eingetragen werden.“

Beide bekamen eine kleine rosa Karte, auf der „Club 84 — Vereinigung von Gleichgesinnten“ stand und als Symbol zwei ineinandergreifende Frauenhände dargestellt waren. Petronius und Baldrian zögerten. Die Garderobenfrau beugte sich vertraulich über die Barriere.

„Sie brauchen ja nicht Ihren richtigen Namen anzugeben“, sagte sie, „einfach irgendeinen...“ Sie schrieben P. Livtochter und B. Evatochter. Das waren die gebräuchlichsten Namen, die ihnen gerade einfielen. Die Karte wurde gestempelt; dann bekamen sie sie zurück.

„Mit der können Sie überall auf der Welt in Homo-Bars gehen“, erläuterte die Garderobenfrau. Sie drehte sich um und zählte das Geld.

Der Raum hinter der Schwingtür lag im Halbdunkel und war mit zahlreichen Spiegeln, Nischen und Vorhängen, mit Plüschmöbeln, Malereien und Plakaten ausgestattet. Die Bilder zeigten bekleidete, halbbekleidete und nackte Frauen. Die Brüste und die Wölbung im Schritt waren deutlich zu sehen. Ein Bild stellte eine nackte Frau dar, die rittlings auf einem Pferd saß. Auf einem anderen stand eine Frau mit engen Hosen und halboffenem Hemd und starrte sie mit klarem, festem Blick unmittelbar aus dem Gemälde heraus an. Ihre sehnige Hand umspannte irgendwelche schwarzen Eisenketten. Ein drittes zeigte eine Frau im Profil, die an ihrem Elektro-Auto lehnte. Auf den meisten Bildern waren blutjunge schöne Frauen mit engsitzenden Hosen, entblößtem Oberkörper und flotten, wippenden Brüsten dargestellt.

Auf einem ziemlich kleinformatigen Bild erkannten Petronius und Baldrian zwei altmodisch gekleidete Männer mit Blumen im Haar, die sich schelmisch anlächelten.

Um die kleinen Tische herum, die in den Nischen standen, saßen Frauen entweder zu zweit oder in Gruppen und tranken und rauchten. In Petronius’ und Baldrians Haarwurzeln begann es zu kribbeln. An der einen Längsseite des Raumes war die Bar; hier standen Frauen gleichsam in Reih und Glied. Einige sprachen eifrig miteinander und gestikulierten dabei.

„Was du heute für eine schöne Perlenkette umhast!“ hörten sie eine Frau zu einer anderen sagen.

„Und du? Wo hast du dein Rouge gekauft? Das steht dir wirklich ausgezeichnet.“ Sie redeten und schwatzten genau wie die Männer. Einige trugen sogar enge, lose herunterhängende PHs. Doch die meisten hatten ganz gewöhnliche Damenhosen und dazu ein buntes Hemd an. Viele führten kleine Herrenköfferchen mit sich, die sie in einem fort auf- und zumachten, um ihnen verschiedene Kleinigkeiten — Zigarettenetui, Geld, Taschenspiegel — zu entnehmen. Andere wieder standen einfach nur mit einem Glas in der Hand da, starrten geradeaus und sagten nichts. Nur die Augen bewegten sich unentwegt.

Petronius und Baldrian schlenderten durch die Bar und gelangten in einen anderen, viel größeren Raum mit ständig wechselnder Beleuchtung und lauter Musik. Die geräumige Tanzfläche wogte geradezu von Frauenpaaren, die nach Rocke-Heidis schriller, von rhythmischem Getrommel begleiteter Sopranstimme losrockten. Viele Frauen hatten sich die allerneueste Damenfrisur zugelegt: ein dünner Borstenstreifen von Ohr zu Ohr über den sonst völlig kahlrasierten Schädel. Sie wirbelten in dem neuen sexbetonten Tanzstil herum.

Donnamutter! Diese Frauen konnten ja tanzen! Und wie! Petronius und Baldrian blieben stehen und sahen zu, wie Hüften, Schultern, Beine und Arme sich mit verkrampfter Geschwindigkeit und im Takt über den Boden bewegten. Mitunter stießen die Tanzenden buchstäblich zusammen, so daß die Brüste aufeinanderprallten, und trennten sich dann wieder. Einige tanzten engumschlungen und rieben sich an der Bauchpartie. Petronius und Baldrian starrten wie hypnotisiert auf dieses Bild. Plötzlich blieben sie wie angewurzelt stehen: Direkt auf sie zu steuerten Rektorin Barmerud und Lis Ödeschär. Sie hatten hochgesteckte Frisuren, gingen Arm in Arm und trugen beide ihr lachsrotes Herrenköfferchen. Sie blickten durch ihre Söhne hindurch, als hätten diese sich in Luft aufgelöst, und entschwanden im Gewühl der Tanzenden. Petronius und Baldrian sahen sich an. „Aber... aber waren das nicht...?“

„Ja, das waren doch...“

„Bist du sicher?“

„Ich sollte doch meine eigene Mutter kennen.“

„Glaubst du nicht, daß wir ein bißchen zuviel getrunken haben?“

„Die taten doch glatt so, als hätten sie uns nicht erkannt.“

„Vielleicht bilden wir uns das bloß ein

„Oder vielleicht sind wir wirklich nicht ganz dicht im Kopf?“

„Was sollen wir jetzt machen? Wieder gehen?“

„Nein, warum denn? Warum sollen wir denn auf sie Rücksicht nehmen, egal, ob sie es nun sind oder nicht?!“

Sie schlängelten sich durch das Meer von Frauenleibem. Doch das Paar, das sie eben noch gesehen hatten, blieb wie vom Erdboden verschluckt. Im ganzen Tanzsaal saßen dichtgedrängt nur Frauen an den Tischen.

„Ist das nicht ein Klub für Männer und Frauen, Petronius?“

Sie lachten, obgleich ihnen gar nicht zum Lachen zumute war. Sie setzten sich an einen kleinen Tisch für zwei Personen, der gerade frei wurde. Jetzt bemerkten sie ein Männerpaar, das in einer Ecke der Tanzfläche sozusagen auf der Stelle tanzte, vor und wieder zurück. Sie hielten sich umschlungen und bekamen von den vorbeischwofenden Frauenpaaren ab und zu einen Knuff in die Seite.

An einem Tisch ganz in der Nähe sahen Petronius und Baldrian jetzt auch einige Männer sitzen. Einer faßte seine Nebenfrau um die Taille. Die Nebenfrau gab nach und schmiegte sich eng an ihn. Er küßte ihn innig und lange. Jetzt tönte einer der beliebtesten Schlager aus dem Lautsprecher: „Sag, du bist mein, sag, du bist mein“. Drei Männerpaare bahnten sich einen Weg zur Tanzfläche. Sie lächelten und berührten sich. Ihre Arme und Schultern wirkten kräftig. Frei und ungezwungen bewegten sie Hüften und Hintern rhythmisch aufeinander zu und voneinander weg. Auf eine Art sah es so aus, als sei jedes Paar ein einziger Körper. Es war ein schöner und zugleich sonderbar erregender Anblick.

Ein Mann in schwarzer Jacke und Hose trat an ihren Tisch.

„Seid ihr neu hier?“

„Ja.“ Petronius und Baldrian nickten.

„Wollt ihr nicht mitmachen und tanzen?“

Petronius und Baldrian sahen sich etwas unsicher an.

„Nein, vorläufig sitzen wir nur hier und reden...“ Das stimmte aber eigentlich nicht. Sie waren nämlich sprachlos.

„Störe ich vielleicht?“

„Nein, nein, durchaus nicht...“

„Etwas dagegen, wenn ich mich setze?“ Sie schüttelten den Kopf. „Ganz sicher?“,

„Ja, ja.“ Sie antworteten im Chor. Der Mann setzte sich und zündete eine Zigarette an.

„Eigentlich können wir ja nichts dafür, daß wir so sind, wie wir sind“, sagte er. „Leicht pervers ist es ja wohl. Bisweilen fühle ich mich als Frauenseele, die in einem Männerkörper steckt. Doch bei der Arbeit trage ich natürlich einen PH... Nur gut, wenigstens an einem Ort auf der Welt so sein zu können, wie dam ist.“

„Glaubst du?“

„Ja, glaubt ihr denn nicht, daß ihr so geboren seid?“

Petronius und Baldrian vermieden es, sich anzusehen, und antworteten nicht.

„Seid ihr sicher, daß ich nicht störe? Sonst gehe ich.“

„Nein, nein, es ist nur... wir wissen nicht, ob wir so sind...“

Der Mann lächelte. „Die Leute haben wirklich ganz phantastische Vorstellungen, wie wir es angeblich machen. Sie glauben, wir benutzen Gummikitzler und Riesenersatzbrüste aus Schaumgummi. Sie glauben, wir müssen Mann und Frau spielen, und wenn wir zusammen sind, trägt einer von uns diese Riesenersatzbrüste aus Schaumgummi und mimt die ganz große. Ich wünschte, die sähen ein, daß wir ganz normale Bürger sind.“

Unmittelbar hinter ihnen lachte irgendwer. Sie unterhielten sich weiter, aber es wurde noch immer hinter ihnen gelacht. Was waren das für Idioten? So komisch konnten sie doch nicht sein, auch wenn sie ganz gewöhnliche Männerkleidung trugen. Petronius und Baldrian drehten sich um. Da standen doch tatsächlich Herrlein Uglemose und Fandango und strahlten über das ganze Gesicht. „Baldrian und Petronius! Ihr hier?!“ Fandango umarmte sie.

„Das müssen wir unbedingt feiern“, sagte Herrlein Uglemose und lachte. Er sah gut und gerne fünfzehn Jahre jünger aus.

„Ist das so ’ne Art Doppelhochzeit?“ fragte der Mann, stand auf und bot Herrlein Uglemose mit einer kleinen Handbewegung seinen Stuhl an. „Gratuliere! Hoffe, wir treffen uns wieder.“ Dann verschwand er. Herrlein Uglemose nahm auf dem Stuhl Platz, und Fandango setzte sich auf seinen Schoß.

„Vielleicht meint ihr, daß der Altersunterschied ein bißchen groß ist...“, sagte Herrlein Uglemose ein wenig nachdenklich.

„Dafür ist der Geschlechtsunterschied nicht so groß“, sagte Fandango und küßte das Herrlein auf den Mund. Baldrian hatte ihn noch nie so froh gesehen.

„Eure Flasche Champagner!“ rief das Herrlein einer der Servierdamen zu, die die Bestellung eilfertig auf ihrem Block notierte. „Und vier Gläser.“ Sie war im Nu zurück, lächelte dem Herrlein freundlich zu und fragte, wie es ihm gehe.

„Ganz ausgezeichnet!“ antwortete das Herrlein. Die Servierdame warf einen raschen Blick auf Fandango.

„Das ist ein alter Freund von mir. Er heißt Fandango.“

„Angenehm“, sagte die Servierdame und reichte Fandango die Hand. „Du mußt gut auf ihn aufpassen, Fandango. Ich heiße Aud und bin ein alter Freund von Lisello.“ Dann machte Aud die Flasche auf, schenkte ein und verschwand.

Sie redeten durcheinander, prosteten sich zu und lachten. Fandango und das Herrlein erzählten abwechselnd, wie sie in die unmöglichsten, lächerlichen Situationen geraten waren, nur damit sie nicht entdeckt wurden. Doch einmal mußte es ja sowieso herauskommen. Die Männerbewegung sollte sich doch nicht der Illusion hingeben, sie könnte ohne fallüstrische Männer auskommen. Im Gegenteil. Ohne Fallüstrismus hätte es nie eine Männerbewegung gegeben — weder damals noch heute. Aus dem Lautsprecher tönte eine Männerstimme. Es war ein Sänger aus Pax, der jetzt ein Lied von der Stärke und Solidarität der Männer sang. Sie standen auf, gingen zur Tanzfläche und hielten sich, während sie tanzten und sangen, an den Schultern fest. Herrlein Uglemoses Bariton überraschte sie. Sie verstummten und hörten ihm zu. Gab es in der Schule irgendeine, die wußte, daß er so eine Stimme besaß? In der Schule hatte bisher immer Lehrerin Ei vorgesungen und auf sämtlichen Abschlußfeiern mit ihrem souverän falschen Sopran unverdrossen die Hymne „Töchter Egalias — das uralte Reich“ angestimmt.

Die Musik hörte auf.

Baldrian legte die Hände auf Petronius’ Schultern und blickte ihm mit tränenfeuchten, glänzenden Augen ins Gesicht.

„Müßten wir das hier nicht so machen?“

Er zog ihn an sich und küßte ihn. Sie lachten, schlangen die Arme umeinander und standen ganz dicht beisammen, küßten sich ein übers andere Mal und lachten. Wie war das möglich? Das war ja ein unbeschreiblich schönes Gefühl. Sie wagten kaum, sich anzusehen, hielten sich nur fest und lächelten sich mit einer Art Körpersprache an. Sie vergaßen ihre Umgebung und empfanden in der Umarmung des anderen ein Gefühl der Schwerelosigkeit. Ihnen schien es, als würden sie in höhere Sphären emporgehoben. Mit nichts, was sie in ihrem bisherigen mühevollen Leben erfahren hatten, ließ sich dieses Gefühl vergleichen.

„Nun folgt der ,Gute-Nacht-Tanz‘.“ Der Discjockey, der Männerkleider und eine Perücke trug, hielt das Mikrophon ganz dicht an den Mund. „Die letzte Chance heute abend. Beth singt: ,Auf dich hab’ ich gewartet.’“

Petronius und Baldrian, Herrlein Uglemose und Fandango tanzten paarweise zu den Klängen der Musik.

Konnte das sein, dieses Gefühl, den Körper eines anderen Mannes am eigenen zu spüren? Warum hatten sie das nicht schon früher probiert? Baldrians Arme auf seinem Körper — flüchtige Klänge im Halbdunkel — alles auf der Welt war einfach und schön. „Baldrian, du bist bezaubernd. Baldrian, ich will bei dir sein.“

Das Licht ging an. Es brannte in den Augen. Sie starrten in ihre Alltagsgesichter, sahen zu Boden. War es nicht an der Zeit zu gehen? Sicher. Sie holten ihre Sachen. Die Frauen drängelten sich vor, riefen ihre Nummer und bekamen ihre Garderobe zuerst ausgehändigt.

Dann standen sie wieder auf der Straße, wo nicht eine Spur verriet, daß es einen solchen Ort auf der Welt gab. Sie sahen den Bürgersteig entlang. Ein älteres Frauenpaar mit zwei lachsroten Köfferchen verschwand um die Ecke.

„Aber war das nicht...?“

„...alles nur Einbildung?“

Petronius spürte Baldrians warme Hand und gewann sofort seine Sicherheit zurück. Herrlein Uglemose und Fandango kamen aus der Tür gehüpft. Sie blieben auf der Treppe stehen und gaben sich einen Kuß. Sanft lächelnd und glücklich standen die beiden da und strahlten sich an.

„Das Abendessen wartet bereits“, erklärte Herrlein Uglemose. Dann gingen sie alle vier Arm in Arm zur großen, weißen Villa auf dem Plattenberg.