|157|19.

Francesco bemerkte Angelinas Verschwinden schon kurz bevor er aufgestanden war. Etwas hatte sich verändert, er spürte es genau. Sangen die Vögel nicht leiser als sonst? War die Morgensonne von einer Wolke bedeckt? Angelina war gestern Abend ohne Gruß in ihr Zimmer gegangen. Hatte sie ihn möglicherweise im Garten gesehen, nachdem er so niedergeschlagen von seiner erfolglosen Suche nach ihr zurückgekehrt war? Wie Eleonore ihn darauf getröstet hatte? Das durfte nicht wahr sein! Seine Ahnung wurde zur Gewissheit, als er zu den anderen herunterkam, die schon beim Frühstück saßen.

»Weißt du, wo Angelina ist?«, fragte Eleonore ihn.

»Ich dachte, sie wäre zum See hinübergegangen«, fiel Sonia ein. »Und bin dorthin gelaufen, aber ich habe sie nirgends entdeckt.«

»Ich glaube, sie ist abgereist«, sagte Francesco mit trüber Stimme.

»Aber warum denn?«, rief Lucas. »Hier ist doch der einzig sichere Ort!«

»Wohin könnte sie nur gegangen sein?«, überlegte Eleonore.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Sonia. »Vielleicht nach Florenz oder zum Landsitz ihrer Eltern?«

»Das glaube ich nicht«, meinte Francesco. »Zu ihren Eltern traute sie sich nicht zurück. Und in Florenz herrschen die Pest und Savonarola.«

»Wir können das Mädchen nicht allein durch die Lande irren lassen«, gab Lucas unruhig zu bedenken.

»Lasst uns im Dorf nachfragen«, entschied Eleonore. »Möglicherweise hat jemand sie gesehen.«

Hastig beendeten sie ihr Frühstück und eilten zum Dorf hinüber. Ein Fischer hatte eine junge Frau in einem grauen Reisekleid gesehen. |158|Sie sei in Richtung des Nordufers gegangen, sagte der Mann. Die vier berieten, was sie tun sollten. Francesco erklärte, dass er alles versuchen würde, um Angelina zu finden. Nachdem sie zum Haus zurückgekehrt waren, ließ er ein Pferd satteln und schwang sich hinauf. Die anderen, auch die Diener, umstanden ihn, um Abschied zu nehmen. Eleonore küsste ihn auf beide Wangen.

»Komm gesund zurück und bring Angelina wohlbehalten nach Hause!«

Francesco gab seinem Pferd die Sporen. An einem Tag umrundete er den See. Ein Hausierer hatte sie wohl noch gesehen, aber dann verlor sich jede Spur. Mit einem schweißtriefenden Pferd, müde und niedergeschlagen, kam Francesco am Abend zurück.

»Ich habe ihre Spur verloren«, sagte er nur, stieg ab und gab die Zügel einem Diener in die Hand. Mitten in der Bewegung erstarrte er.

»Was für fiebrige Augen du hast!«, sagte er zu dem Diener.

»Mir ist so elend«, sagte der Bedienstete. Die anderen wichen zurück.

»Schnell, lasst den Bader des Dorfes holen!«, rief Eleonore. Ein anderer Diener eilte davon. Als er zurückkam, sagte er:

»Der Bader will nicht kommen. Es habe zwei Fälle von Pest im Dorf gegeben. Wir sollen schauen, ob er Fieber und Schmerzen hat und ob die schwarzen Beulen aufgetreten sind.«

Eleonore ließ den Diener in die Knechtekammer bringen und sagte, sie wolle ihn selber untersuchen. Als sie zurückkam, war sie kreidebleich.

»Es ist die Pest«, flüsterte sie. Francescos Herz begann schneller zu schlagen. Das konnte den Tod für sie alle bedeuten. Fast sollte er noch froh sein, dass Angelina heute Morgen gegangen war. Ratlos saßen Eleonore, Lucas und Francesco unter der Linde. Sonia hatte sich bereit erklärt, die Pflege des Dieners zu übernehmen. Francesco schaute in die Knechtekammer hinein und sah, dass sie den Raum mit brennenden Wacholderzweigen ausgeräuchert hatte |159|und einen essiggetränkten Lappen vor dem Mund trug. Sonia reichte ihm ebenfalls ein solches Tuch.

»Sag den anderen, sie sollen sich Tücher vor die Nase binden«, bat sie ihn. »Und wenn sie ihnen zu sehr stinken, sollen sie die Tücher in Rosenwasser tränken.«

Francesco sah, dass er nicht helfen konnte. Eleonore verteilte Pillen aus Aloe, Theriak und Safran, die sie vom Bader erstanden hatte. Am Abend kam Sonia herunter. Sie zuckte hilflos mit den Achseln. Ihr standen die Tränen in den Augen. Eleonore ordnete an, dass der Mann hinter das Haus gebracht würde, mit Decken zugedeckt. Am nächsten Morgen wollte sie den Totengräber holen lassen. Gedrückt saßen sie beieinander. Wie konnten sie dem schwarzen Tod entfliehen, jetzt, wo er zu ihnen gekommen war? Der Totengräber kam und schaffte den Leichnam weg.

»Nicht mal ein ordentliches Begräbnis bekommt er«, klagte Eleonore. Die restlichen Diener, auch die Dienerin, die sie am Anfang des Sommers begrüßt hatte, waren über Nacht geflohen. Francesco war der erste, der es aussprach.

»Die Pest hat uns also eingeholt«, sagte er. »Im Dorf wird niemand mehr mit uns verkehren wollen, da wir nun einen Toten begraben mussten. Hat einer von euch einen Vorschlag, wie wir uns verhalten sollen?«

»Die Diener sind weg, unsere Vorräte neigen sich dem Ende zu«, versetzte Eleonore. »Die Leute aus dem Dorf werden uns nichts mehr verkaufen. Kein Fisch, kein Fleisch, keine Butter, kein Brot …«

»Und wenn wir selber Fische fangen?«, fragte Sonia, aber ihre Stimme klang kleinlaut. »Und Brot backen?«

»Womit denn?«, fuhr Eleonore sie an.

»Wir sollten von hier fortgehen«, ließ sich die ruhige Stimme von Lucas vernehmen.

»Aber wohin?« Eleonores Stimme schnappte fast über.

»Wir müssen hier bleiben und das Ende der Pest abwarten«, stellte Sonia fest. »Die Krankheit wird inzwischen überall wüten.«

»Wir sind hier gefangen«, sagte Eleonore tonlos.