An dem Morgen, an dem Angelina sich auf den Weg machte, verschwammen die Konturen von See, Dorf und Bergen noch im Dunst. Als die Sonne höher am Horizont stand, erreichte sie das Nordufer des Sees. Bisher war sie keiner Menschenseele begegnet. Nun kamen ihr einzelne Bauern mit Karren entgegen, die zu ihren Feldern fuhren, vom Wasser kehrten Fischerboote mit ihrem nächtlichen Fang zurück. Dann wieder wanderte Angelina durch feuchte Auen und Erlengehölze, in denen die Mücken schwärmten. Um die Mittagszeit rastete sie im Schatten eines Baumes, unter dem ein Brunnen sprudelte. Ein Pilger, der vorüberging, grüßte sie verwundert. Angelina vermied es, mit irgendjemandem zu sprechen. Wie sollte sie erklären, warum sie ganz allein am See entlangwanderte?
Wie hatte es nur so weit kommen können? Warum war sie eigentlich damals von zu Hause fortgegangen? Ach, wenn doch alles geblieben wäre, wie es war! Aber sie selbst hatte das zu verantworten, vor sich, vor ihrer Familie und vor Gott. Welcher Teufel hatte sie nur verblendet? Angelina schaute hinauf, durch den Wipfel des Baumes in den Himmel. Sie bat den Herrgott inbrünstig, dass sie ihr Ziel erreichen möge. Dann erhob sie sich, leidlich erquickt durch die Rast. Die Sonne stand fast im Zenit und brannte unbarmherzig nieder. Angelinas Kleid war vollkommen verschwitzt. Gegen Abend gelangte sie in das Dörfchen Borghetto, ließ sich in einer Herberge Käse und Wein reichen und schlief allein in einem Raum, der sonst wohl von Pilgern genutzt wurde. Glücklicherweise hatte sie ein wenig Geld eingesteckt, sonst hätte sie unter freiem Himmel übernachten müssen und wäre möglicherweise die Beute eines Landstreichers oder eines wilden Tieres geworden. Vor dem Einschlafen |161|vergewisserte sie sich, dass Eleonores Messer noch da war, das sie immer in einer ledernen Scheide am Gürtel trug.
Am Nachmittag des nächsten Tages kam Angelina vor den Mauern Arezzos an. Das letzte Stück hatte sie ein Bauer mit seinem Ochsenkarren mitgenommen. Die Tore waren schon geschlossen; so nahm der Bauer sie mit zu Verwandten, denen das Ziel seiner Reise galt. Die Familie half Angelina, den weiteren Weg herauszufinden. Am nächsten Morgen stand sie endlich vor einem niedrigen ockerbraunen Haus, umgeben von Weinbergen. Ihre Mutter hatte oft erzählt, dass sie aus einer umbrischen Winzerfamilie stamme. Gestern Abend war Angelina endlich wieder eingefallen, dass da noch eine Schwester gewesen war, die hier irgendwo in der Nähe leben musste. Auf der Hinreise zum Haus von Tomasios Tuchhändler hatte sie sogar einen Wegweiser gesehen und dabei gedacht: Oh, das ist der Ort, an dem meine Tante, wie hieß sie noch, lebt? Richtig, Arezzo hieß der Ort, und der Name der Tante war Bergitta.
Geranien und Glockenblumen wuchsen in Kübeln, die um das Haus herum standen. Wie würde die Tante sie wohl aufnehmen? Angelina hatte Bergitta einige Jahre nicht mehr gesehen, wusste nur noch, dass sie eine stämmige, von der Arbeit im Freien braungebrannte Frau war, die gern redete und dem Wein zusprach, aber ein goldenes Herz hatte. Ihr Mann war schon vor langer Zeit an der Auszehrung gestorben. Angelina sehnte sich danach, mit jemandem zu sprechen. Und Tante Bergitta hatte schon immer ein offenes Ohr für ihre Belange gehabt. Sie klopfte an die blau bemalte Tür. Es rührte sich nichts. Vielleicht war sie noch bei der Arbeit im Weinberg. Angelina wandte sich um. Von fern sah sie eine kleine Gestalt winken und ging auf sie zu. Tatsächlich, es war ihre Tante, mit einem grünen Kopftuch, einer ebenso farbigen Schürze und einem Gesicht, das Angelina unter vielen eingebrannten Fältchen entgegenlachte.
»Ich habe dich gleich erkannt, Angelina«, sagte Bergitta. »Du bist |162|ja eine richtig hübsche junge Frau geworden! Was führt dich aus der großen Stadt Florenz zu mir? Wo sind deine Eltern und Geschwister?«
Als sie Angelinas Zögern bemerkte, meinte sie: »Lass uns erst einmal ins Haus gehen, da kannst du erzählen.«
In der Küche machte sich Bergitta am Herd zu schaffen. Sie briet in einer eisernen Pfanne Eier, Wurst und Speck, stellte sie zusammen mit einer Kanne heißen Würzweins und einem Becher vor Angelina auf den blankgescheuerten Tisch und setzte sich ihrer Nichte gegenüber.
»Iss und trink, dann erzähle mir, was dich hierhergeführt hat.«
Angelina atmete tief aus. Sie schluckte ein Stück Speck herunter, und dann erzählt sie ihrer Tante von dem ganzen Fiasko, das am Frühlingsfest mit ihrer misslungenen Verlobung begonnen hatte.
»Hat dein Vater dich vorher nicht gefragt?«, unterbrach Bergitta.
»Nein, sie haben mich damit vollkommen überrascht.«
»Das sieht ihnen ähnlich«, schmunzelte Bergitta. »Und, hat die Verlobung stattgefunden?«
»Nein, das ist ja gerade das Merkwürdige. Eine Gruppe von Fanciulli del Frate kam an die Tür. Während alle dem Gespräch mit ihnen lauschten, wurde Fredi im Garten erstochen.«
»Mein Gott, wie furchtbar! Du armes Kind, meine arme Schwester Lukrezia! Habt ihr den Täter gefunden?«
»Leider nein«, entgegnete Angelina. Sie nahm einen Schluck Würzwein, verschluckte sich, musste husten. Bergitta klopfte ihr auf den Rücken, dann fuhr Angelina stockend fort.
»Später haben mich meine Eltern eingesperrt, weil sie wollten, dass ich Signor Venduti zum Mann nehme.«
»Warum denn eingesperrt?«
»Ich verstehe das auch nicht! Sie haben doch extra ein Porträt von mir bestellt. Bei Francesco, einem der Gesellen Botticellis. Aber dann haben sie mir verboten, weiter hinzugehen. Sie fanden wohl, ich gehe zu gerne hin.«
»Und wer ist dieser Signor Venduti schon wieder?«
|163|»Mit erstem Namen heißt er Tomasio«, erwiderte Angelina. »Mein Vater kennt ihn über das Handelshaus.«
Tante Bergitta räumte das Geschirr weg und setzte sich wieder hin.
»Für dein zartes Alter sind aber eine ganze Menge Männer in deinem Leben, findest du nicht?« Angelina wurde rot. »Viele von ihnen können einen Grund gehabt haben, deinen dir zugedachten Ehemann zu töten«, fuhr sie fort.
»Was denkt Ihr, Tante Bergitta, wer?«, fragte Angelina.
»Einmal Francesco, weil er dich vielleicht für sich selber haben wollte. Oder dieser Tomasio, aus eben demselben Grund.«
»Francesco doch nicht!«, fuhr Angelina auf.
»Liebst du ihn?« Die Tante schaute sie aus ihren hellen Augen erwartungsvoll an.
»Ich … ja, mag sein. Aber das ist jetzt aus und vorbei!«
»Komm mit in den Weinberg, Angelina«, beschied die Tante. »Und dann erzählst du mir, wie es dich hierher verschlagen hat, derweil du mir beim Hochbinden der Stöcke und beim Unkrautziehen hilfst.«
Während Angelina ihrer Tante das Herz ausschüttete, schüttelte diese ein ums andere Mal den Kopf. »Du hättest sicher besser daran getan, bei deinen Eltern zu bleiben«, befand sie schließlich. »Jetzt bist du in einer ganz verzwickten Lage!«
»Ich weiß!«, stammelte Angelina. »Vielleicht könnt Ihr mir einen Rat geben, wie ich da wieder herauskomme.«
Bergitta überlegte, stützte sich auf ihren Sauzahn. Dann ging ein Lächeln über ihr gegerbtes Gesicht.
»Du kannst bis zum Ende des Monats September bei mir bleiben«, sagte sie. »Dann kommen die Erntehelfer, die mir bei der Weinlese zur Hand gehen, die muss ich unterbringen. Bis dahin wird die Pest wieder verschwunden sein, so, wie es letztes Jahr auch der Fall war. Dann kannst du nach Florenz und zu deinen Eltern zurückkehren. Willst du ihnen nicht einen Brief schreiben?«
Die Aussicht, vorerst bei Bergitta bleiben zu können, tröstete |164|Angelina. »Gedacht habe ich schon oft daran. Aber ich habe mich nicht getraut.«
»Versuche es, schaden kann es auf keinen Fall«, erwiderte die Tante.
»Ich kann mich des Eindruck nicht erwehren«, fuhr Angelina fort und wandte sich wieder der Arbeit zu, »als hätte der Predigermönch Savonarola etwas mit diesen Morden zu tun.«
Bergitta wischte sich mit der Schürze den Schweiß von der Stirn. »Aber aus welchem Grund?«, fragte sie. »Fredi könnte durch einen fanatischen Fanciullo getötet worden sein, das ist allerdings möglich. Aber wer hat dann Matteo umgebracht?«
»Wir dürfen nicht vergessen«, warf Angelina ein »dass Francesco fast zu Tode geprügelt wurde … seiner Ansicht nach von Fanciulli. Sie haben ihm zugerufen, er solle ablassen von seinem sündigen Tun, womit sie wohl das Bild meinten, das er von mir malte.«
»Und, war es so sündig?«
Angelina errötete schon wieder.
»Das Kleid, das Signor Venduti herstellen ließ, hatte einen sehr tiefen Ausschnitt. Ich trug aber einen Schal darüber, und Francesco hat diesen Schal auch darüber gemalt.«
»Was sagst du? Das Kleid war von Signor Venduti?«
»Ja, er besitzt ein Tuchgeschäft am Domplatz von Florenz.«
»Nehmen wir einmal an, die Fanciulli haben im Auftrag von Savonarola die Morde begangen und auch Francesco verprügelt. Wie willst du ihnen das jemals nachweisen, Angelina?«
»Francesco könnte sie wiedererkennen. Ach, im Augenblick kommen wir damit nicht weiter, ich sehe es schon. Wenn ich erst einmal wieder in Florenz bin …«
»Hast du Angst, Angelina?«, wollte die Tante wissen. »Du bist so bleich, du zitterst ja.«
Angelina schlugen einen Augenblick lang die Zähne gegeneinander.
»Ich bin mehrmals von einem Unbekannten bedroht worden. Er zischte mir zu, ich sei des Todes, wenn ich mit meinem sündigen |165|Verhalten nicht aufhöre. In dem Haus am Lago Trasimeno haben wir uns gegenseitig unsere Lebensgeschichten erzählt. Nicht einer unter uns war ohne Sünde! Ich befürchte nun, dass uns allen, auch Eleonore, Francesco, Lucas und Sonia, etwas Furchtbares zustoßen könnte.«
»Aber wer sollte davon wissen? Hat euch jemand belauscht?«
»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte Angelina. »Aber ich glaube inzwischen, dass derjenige, der uns verfolgt, übernatürliche Kräfte besitzt!«
»Warum bist du dann von dort fortgegangen?«, wollte Bergitta wissen, »wenn du doch Francesco liebst.«
»Ach, ich bin ein Feigling, Tante Bergitta. Ich habe sie alle im Stich gelassen. Wenn auch nur einem von ihnen etwas geschieht, ist es meine Schuld!«
»Warum bist du von Francesco weggegangen?«, beharrte die Tante.
»Weil … weil er mich nicht liebt, sondern seine Cousine Eleonore!«
»Woher willst du das wissen?«, fragte die Tante.
»Er umarmt und küsst sie.«
»Ist das zwischen Vetter und Base nicht üblich?«
»Ach, ich weiß nicht«, sagte Angelina. Sie begann, mit der Hacke die Erde zwischen den Rebstöcken zu bearbeiten. Der feuchte Humusgeruch stieg ihr in die Nase. Mit einem Mal wurde ihr übel. Ein Brechreiz überkam sie.
»Du bist aber sehr erschöpft, Mädchen«, murmelte ihre Tante.