|219|28.

Der Palazzo der Familie Scroffa war aus mächtigen Steinquadern erbaut. Schmale Fensteröffnungen gaben ihm ein abweisendes Aussehen. Angelina zögerte, bevor sie den Türklopfer in Form eines Löwenkopfes bediente. Wie würde Eleonore ihr entgegentreten?

Lucas und Sonia waren ebenfalls zu diesem Essen eingeladen, das machte Angelina Mut. Sie war noch nie im Stadthaus der Scroffas gewesen, und unwillkürlich verglich sie es mit dem ihrer Eltern. Es war entschieden prächtiger! Die Eingangshalle war mit Fresken geschmückt; in der Mitte stand ein Springbrunnen. Ein Diener geleitete sie zum Primer Piano, nahm ihr den Mantel ab und führte sie in das Esszimmer. An den Wänden, die mit Stofftapeten ausgeschlagen waren, hingen Ahnenbilder. Die Decke war reich mit Stuck ausgestattet, und in den Ecken standen Statuen aus Marmor und etliche Putti. In der Mitte war eine lange Tafel mit Silberbesteck und Goldrandtellern gedeckt.

Kerzen verbreiteten ein warmes Licht. Viele der Menschen, die im Raum verteilt waren und miteinander plauderten, kannte Angelina nicht. Doch dann entdeckte sie Eleonore, in ein Gespräch mit Tomasio Venduti vertieft. Beide hielten Gläser mit Wein in den Händen. Eleonore hatte Angelina entdeckt, stellte ihr Glas auf eine Konsole und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.

»Wie freue ich mich, dich wiederzusehen!«, rief sie und schloss sie in die Arme.

»Ich freue mich auch, dich wiederzusehen, Eleonore«, sagte sie aufrichtig. »Und ich danke dir für diese Einladung.«

»Schade, dass Francesco nicht dabei sein kann«, meinte Eleonore. »Er wird schon über Siena hinaus sein. Aber ich habe Lucas und Sonia eingeladen, die wirst du gewiss auch gern begrüßen.«

|220|»Ich habe sie schon besucht, seitdem ich wieder in Florenz bin«, sagte Angelina.

»Wie ist es dir ergangen?« Eleonore schaute sie bei dieser Frage mit einem warmen Blick an. »Du bist ja … wie soll ich es sagen … etwas schnell vom Lago Trasimeno aufgebrochen.«

»Ich habe es nicht mehr ausgehalten«, antwortete Angelina ausweichend. »Mir war eingefallen, dass meine Tante in Arezzo wohnt, dort bin ich geblieben, bis die Pestwelle vorüber war.«

»Wie dem auch sei«, Eleonore strich eine Locke ihrer blonden Haare zurück, die zu einem kunstvollen Kranz geflochten waren, »in meinem Haus bist du immer willkommen!« Angelina lächelte und begrüßte Tomasio, Sonia und Lucas und die beiden Kinder Eleonores. Den übrigen etwa zehn Gästen wurde sie von Eleonore vorgestellt. Man sprach über den neuesten Klatsch in der Stadt, bis die Vorspeise, eine Hasenpastete, aufgetragen war. Das Gespräch wandte sich der Kunst zu. Ein Mann mit rosigem Gesicht, anscheinend ein Kunsthändler, erzählte eine Episode aus dem Leben des Leonardo da Vinci.

»Leonardo ist ja, wie Ihr alle wisst, mit der Ausmalung der Mailänder Kirche beschäftigt: mit dem heiligen Abendmahl. Graf Sforza hat es in Auftrag gegeben. Man sagt, dass der Prior des Klosters Leonardo sehr zur Arbeit angetrieben habe, denn er verstand es nicht, dass der Maler bisweilen einen halben Tag im Nachdenken verloren schien. Der Prior beschwerte sich beim Herzog Sforza und bedrängte ihn so lange, bis er Leonardo herbeirufen ließ und ihn im Namen des Priors bat, schneller zu arbeiten. Leonardo sagte, dass Künstler häufig dann am meisten schaffen, wenn sie am wenigsten arbeiten, nämlich wenn sie erfinden und im Geiste bilden, was sie mit ihrer Hände Arbeit vollenden. Zwei Köpfe fehlten ihm noch, sagte er, der des Christus, und der des Judas, über den er nachdenke. Es scheine ihm vollkommen unmöglich, Gesichtszüge für jemanden zu erfinden, der in der Lage gewesen war, seinen Herrn zu verraten. Finde er nichts Besseres, so seien ihm die Gesichtszüge des taktlosen und lästigen Priors gewiss eine gute Vorlage. Dies brachte |221|den Herzog zum Lachen, und er gab ihm recht. Der Prior indes war verwirrt und befleißigte sich, die Arbeiten im Garten fortzuführen, und ließ Leonardo fortan in Frieden.«

Alle am Tisch lachten.

»Leonardo da Vinci ist ein großer Mann«, sagte Tomasio, nachdem er sich mit einer Serviette den Mund abgewischt hatte. »Dadurch, dass er das heilige Abendmahl gemalt hat, erweist er sich als Meister der sakralen Kunst! Er sollte sich mehr auf diese Seite beschränken und nicht so viele Versuche in den mechanischen Künsten machen.«

»Wenn wir solche Forscher und Sucher nicht hätten, gäbe es einen Stillstand«, wandte der Herr mit dem rosigen Gesicht ein.

»Wenn ich die bescheidene Meinung eines Händlers äußern darf«, fiel Lucas ein, »dann würde ich sagen: Ich ziehe den Hut vor Künstlern aller Art! Sie sind das Salz in der Suppe einer jeden Gesellschaft.«

»Was die Künstler vor allem auszeichnet, ist der Adel ihrer Gesinnung«, sagte Eleonore. »Ich zumindest habe keinen kennengelernt, der ihn nicht besessen hätte.«

Angelina wusste, auf wen sie anspielte. Wie bleich sie aussah! Auf ihrer Stirn hatten sich Schweißtropfen gebildet. Ob es ihr so naheging, von Francesco zu sprechen?

»Auch andere, nicht nur Künstler, haben diese edle Gesinnung«, wandte Tomasio ein. »Auch mancher Mönch, manche Nonne, ein Bauer oder ein Tagelöhner können sie haben.«

»Spielt Ihr auf Savonarola an?«, fragte der Mann mit dem rosigen Gesicht. »Der mag die einmal gehabt haben, aber sie ist ihm auf dem Weg zu seinem Gottesstaat verlorengegangen.«

»Wie meint Ihr das?«, fragte Tomasio. Sein Gesicht zeigte rote Flecken.

»Er hat das, was er von Gott gegeben betrachtete, gegen die Menschen angewendet«, antwortete der Mann.

»Ich verstehe«, sagte Tomasio nachdenklich. »Ja, er hat es übertrieben. Und immer mehr Menschen empfinden es so.«

|222|»Es wird schon gemunkelt, dass er abgesetzt und aus der Stadt vertrieben wird, wenn er nicht aufhört, sich dem Papst zu widersetzen«, warf Eleonore ein. Angelina schwieg. Sie war mit ihren Gedanken immer noch bei Francesco. Zwei Dienerinnen erschienen, brachten gebratene Goldbrassen und Kalbsleber mit Salbei. Eleonore führte ihre Gabel zum Teller und ließ sie wieder sinken. Sie begann zu keuchen.

»Was ist mit dir?«, fragte Angelina und eilte zu ihr hin. Alle waren aufgeschreckt und wandten sich Eleonore zu.

»Ich habe das Gefühl, als hätte ich … Tinte getrunken«, brachte Eleonore hervor. »Macht das Fenster auf! Ich ersticke!«

Sie sank langsam zu Boden, hielt sich am Tischtuch fest. Gläser und Teller fielen auf sie herunter. Sie würgte.

»Mir ist kalt«, wimmerte sie. Angelina lief los, um Hilfe zu holen.

»Hol einen Arzt!«, rief sie der Dienerin zu, die von der Küche herankam. Angelina holte Decken aus der Schlafkammer, eilte zurück und deckte Eleonore damit zu. Die Tante, Tomasio und die anderen fächelten ihr Luft zu.

»Was hast du denn nur gegessen?«, fragte Eleonores Tante.

»Nichts, Frau Tante, was ihr nicht auch gegessen hättet.« Eleonore hustete und musste sich erbrechen. Tomasio rannte zur Küche, um eine Schüssel zu holen. Eleonores Gesicht wurde noch bleicher, der Schweiß brach ihr am ganzen Körper aus. Ihre Finger krampften sich in die Decke.

Angelina saß wie erstarrt neben ihr auf dem Boden und hielt ihre Hand.

Die Finger waren kalt wie bei einer Toten. Eleonores Augen suchten die ihren, ihre Zähne schlugen gegeneinander. Was war nur geschehen? Gab es eine neue Seuche in der Stadt? Angelina ließ sich Wasser und ein Tuch bringen, wischte die Stirn von Eleonore immer wieder ab. Warum musste Eleonore so sehr leiden? Die Gäste waren hinausgegangen, nur Tomasio und der Mann mit dem rosigen Gesicht befanden sich noch im Raum. Die weinenden |223|Kinder waren von den Dienern weggebracht worden. Eleonore wand sich in Krämpfen, sie hielt sich den Leib und gab unterdrückte Schreie von sich. Angelina hielt weiter ihre Hand, wischte ihr noch einmal die Stirn ab. Da war es wieder. Ein metallischer Geruch. Angelina fiel Matteo ein, da war es ähnlich gewesen. Was hatte der Bader damals gesagt? Matteo sei vermutlich durch Gift gestorben.

»Wir brauchen ein Gegenmittel«, sagte sie und stand auf.

»Was habt Ihr gesagt?«, fragte Tomasio. Er war ebenfalls bleich im Gesicht. Vor der Tür polterte es. Der Arzt, ein untersetzter Mann mit Einglas und schwarzem Hut, trat ein und setzte seine Ledertasche neben Eleonore nieder.

»Sie ist vergiftet worden!«, rief Angelina, »schnell, sie braucht ein Gegenmittel!«

»Woher wollt Ihr das wissen?«, fragte der Arzt zurück.

»Schaut sie doch an!«, rief Angelina verzweifelt.

Der Arzt untersuchte Eleonore, drückte auf den Bauch, was Eleonore zu einem Stöhnen brachte, fühlte den Puls.

»Der ist viel zu schnell«, stellte er fest. Eleonores Atem ging inzwischen ruhiger, aber ihr Gesicht hatte eine fast bläuliche Farbe angenommen.

»Es sieht wie eine Vergiftung aus«, meinte der Arzt. »Ich gebe ihr ein Brechmittel.«

Nachdem er es ihr eingeflößt hatte, erbrach sich Eleonore immer wieder. Ihre Augen waren geschlossen. Angelina nahm sie fest in den Arm. Eleonore durfte nicht sterben! Alles, was sie jemals Böses über sie gedacht hatte, tat ihr in diesem Augenblick furchtbar leid. Sie lauschte den leisen Atemzügen, die allmählich wieder in ein Röcheln übergingen.

»Komm näher her zu mir«, flüsterte Eleonore. »Ich möchte dir etwas sagen.«

Angelina rannen die Tränen aus den Augen.

»Ich habe nichts mit Francesco gehabt«, sagte sie und drückte Angelinas Hand. »Es war jemand anderes. Versprich mir eins.«

|224|»Ja, ich verspreche, was immer du willst, wenn du nur wieder gesund wirst!«

»Versprich mir: Du wirst denjenigen finden, der all dies zu verantworten hat. Dann kann ich in Ruhe sterben.«

»Du darfst nicht sterben!«, flüsterte Angelina. »Der Arzt wird dir Senfpflaster machen, dich schröpfen, er wird dir schon helfen!«

Der Arzt schüttelte den Kopf.

»Versprich es mir!«

Angelina nickte unter Tränen.

»Mein liebes Mädchen«, sagte Eleonore erschöpft. »Grüße mir alle, die mir liebgeworden sind in meinem Leben. Und ganz besonders Francesco, den Gefährten meiner Kindheit.«

Ihre Augen blickten starr geradeaus, auf einen Punkt, den niemand außer ihr sehen konnte. Das Weiße des Augapfels war rot verfärbt. Eleonore schrie auf, hielt sich den Bauch, atmete rasselnd, fiel zurück. Dann wurden ihre Glieder weich, ihre Augen brachen. Eleonores Tante trat hinzu und drückte ihr die Lider zu. Angelina glaubte, in einem Alptraum befangen zu sein. Es konnte doch nicht sein, dass Eleonore tot war. Es dauerte lange, bis sie endlich aufstand.

»Wir konnten ja nicht mal einen Priester holen«, sagte sie mit matter Stimme. Die Tränen flossen ihr immer noch über die Wangen. Die Diener kamen, um die Tote zu waschen und aufzubahren. Der Arzt stellte einen Totenschein aus, in dem vermerkt war: ›Es besteht der Verdacht auf Vergiftung.‹

Giacomo und Lisetta, Eleonores Kinder, waren zurückgekommen. Sie standen bleich, mit aufgerissenen Augen im Zimmer. Sonia nahm sich der beiden an und führte sie hinaus. Angelina folgte ihnen. Sie wischte sich die Tränen ab.

»Ich kann da drin nichts mehr für sie tun«, meinte sie.

»Damit, dass Eleonore sterben würde, hätte ich nie gerechnet«, sagte Sonia, die Arme liebevoll um die Kinder gelegt. Sie schluchzte. »Die armen Kinder! Zum Glück ist ihre Großtante hier!«

Eine Dienerin holte die Kinder ab, um sie ins Bett zu bringen. |225|Lucas kam aus dem Zimmer und meinte: »Komm mit zu uns, Angelina, wir sollten uns besprechen. Es hat uns alle sehr getroffen.«

Angelina schwankte einen Augenblick. Sollte sie das Angebot annehmen?

»Warum ist Eleonore gestorben, was meint ihr?«, fragte sie.

»Sie ist vergiftet worden«, sagte Sonia bitter.

»Es hat etwas mit unseren Geständnissen am Lago Trasimeno zu tun«, folgerte Angelina. »Jemand weiß darüber Bescheid.«

»Aber wie kommt derjenige hierher, und warum sollte er Eleonore vergiften?«, fragte Sonia verzweifelt.

»Wir sind alle in Gefahr!«, sagte Angelina leise. »Vielleicht ist der Mörder sogar in unserer Nähe.«

»Lasst uns schnell von hier fortgehen«, drängte Lucas. »Sonst sind wir die Nächsten.« Er schaute sich vorsichtig um, aber es war niemand da, der sie hätte belauschen können. »Wir müssen jetzt zusammenhalten und uns gegenseitig beschützen.«

Angelina kam ein Gedanke. Er war seltsam und unangenehm, doch er ergab einen Sinn.

»Ich bin es, der euch allen Unglück bringt«, sagte sie. »Ihr müsst euch von mir fernhalten beziehungsweise muss ich mich von euch fernhalten, weil ich jedem Unglück und Tod bringe, der in meine Nähe kommt!«

»Unsinn«, entgegnete Lucas. »Das redest du dir nur ein, weil du dich schuldig fühlst. Aber du bist nicht schuld, an gar nichts!«

»Doch«, sagte Angelina. »Ich weiß es. Ich weiß es in diesem Augenblick genauer, als ich es je geahnt hätte. Ich werde zu Rinaldo gehen und ihm sagen, dass ich fortmuss. Wenn Francesco zurückkommt, sagt ihm bitte, dass ich ihn nicht mehr sehen kann.« Bei diesen Worten stiegen ihr wieder die Tränen in die Augen. Sie wandte sich zum Gehen.

»Angelina, bleib doch«, bat Sonia.

»Ich kann es nicht, Sonia, ich darf es nicht!« Angelina umarmte die Freundin und Lucas und verabschiedete sich von den Gästen mit den Worten:

|226|»Ich muss nach Hause. Seid alle meiner aufrichtigsten Teilnahme versichert. Zur Beerdigung werde ich da sein.«

Sie lief die Treppe hinunter. Auf der Straße schlug ihr ein eiskalter Wind entgegen. Angelina ging langsam durch die dunklen Gassen zur Wirtschaft Al Carpa. Ihre Beine waren schwer, die Augen brannten. Sie nahm alles wie in einem Nebel wahr. Um diese Nachtzeit war niemand mehr unterwegs. Warum war sie allein gegangen, hatte sich nicht begleiten lassen? Wenn nun der Mann im Kapuzenmantel käme und sie tötete? Angelina hörte klackende Schritte auf dem Pflaster hinter ihr und begann schneller auszuschreiten. Sollte sie sich verstecken? Aber derjenige hatte sie gewiss schon gesehen. Angelina stellte sich in den Eingang eines Geschäftes. Ihr Herz klopfte überlaut, so dass sie fürchtete, der Unbekannte könnte es hören. Die Schritte kamen immer näher. Angelina wagte sich nicht zu rühren. Ihre Knie drohten nachzugeben. Eine Gestalt mit wehendem Mantel huschte vorbei. Gott sei Dank, der Unbekannte hatte sie nicht bemerkt!

Angelina wartete eine Zeitlang, bis ihr Herzschlag sich wieder beruhigt hatte. Sie setzte ihren Weg fort. In ihr war es so düster wie die Welt um sie herum. Sie würde sich von allen Menschen trennen müssen, die ihr in irgendeiner Weise nahestanden. Doch halt! Angelina verlangsamte ihren Schritt. Matteo und Eleonore hatten zu der Gruppe gehört, mit der sie am Lago Trasimeno gewesen war. Ebenso Lucas und Sonia. Aber Rinaldo und seine Töchter hatten damit nichts zu tun. Zu ihnen würde sie gehen können. Müde schleppte sie sich die letzten Schritte zu der Wirtschaft Al Carpa. Aus den Fenstern drang kein Licht. Wahrscheinlich hatte Rinaldo heute früher zugemacht. Aber warum? Waren die Gäste ausgeblieben? Angelina überquerte die Straße, an welcher der Turm des Palazzo Acciaiuoli lag. Auch hier drang kein Licht aus dem Inneren. Waren sie schon schlafen gegangen? Das sah ihnen gar nicht ähnlich. Sie rüttelte an der Tür. Nichts, kein Laut, keine Spur eines Menschen.

Angelina begann zu frieren. Jetzt hatte sie es erreicht, sie war für |227|ihren Hochmut und ihren Eigensinn endgültig bestraft worden. Sie war ganz allein auf der Welt, in einer kalten Nacht Ende Oktober. Das Geld, das sie von ihrer Tante erhalten hatte, würde gerade für ein, zwei Wochen in einem Zimmer reichen, das sie mieten könnte. Doch dazu war es heute Nacht zu spät. Sie würde auf der Gasse übernachten müssen. Zu Sonia und Lucas wagte sie nicht zu gehen. Angelina kauerte sich in den Eingang zu dem Turm, zog ihren Mantel über sich und starrte vor sich hin. Eine Glocke schlug zwölf, dann eins. Angelina fror erbärmlich. Die Bilder von Eleonores Tod standen ihr vor Augen. Alle Ereignisse der vergangenen Monate zogen an ihr vorüber. Sie allein war schuld an all dem Elend, war schon immer schuldig gewesen! Ihr würde nichts anderes übrigbleiben, als in ein Kloster zu gehen. Vielleicht konnte sie dort ihre Sünden büßen, bis Gott sie von ihrem traurigen Leben erlöste? Doch wenn sie den Schleier nahm, würde sie Francesco nie wiedersehen. Angelina sah ihn auf dem Weg nach Rom, mit seinem feinen Haar und dem entschlossenen Zug in den Mundwinkeln. Ach, wäre doch alles anders gekommen!

In welches Kloster sollte sie gehen? Hier in Florenz gab es nur Klöster, die unter Savonarolas Herrschaft standen. Und hier würde sie der Unbekannte finden und töten, dessen war sie gewiss. Aber durfte sie sich einfach so fortschleichen, musste sie die anderen nicht beschützen? Wie sollte sie jemanden beschützen, wenn sie nicht einmal wusste, vor wem? Das Gift konnte jederzeit von außen in das Haus von Eleonore gebracht worden sein. Alles war genauso rätselhaft wie die anderen Morde. Sollte Tomasio etwas damit zu tun haben? Aber aus welchem Grund sollte er andere umbringen? Als sie am Lago Trasimeno waren, hatte er sich weit entfernt in Ravenna befunden. Angelinas Gedanken drehten sich im Kreis, bis ihr schwindelig wurde. Ihre Arme und Beine waren eiskalt, die Kälte kroch in ihren Mantel. Irgendwann dämmerte sie hinüber.