Kapitel 13
MATT BRACHTE TANTE Rose am Dienstag zu ihrem letzten Chemotermin. Sie kamen spät nach Hau-se, und Rose kroch mit aschgrauem Gesicht sofort ins Bett. Als Matt in die Küche zurückkehrte, rieb er sich mit den Händen übers Gesicht. »Gott sei Dank war das die letzte.«
»Wann hat sie die nächste Untersuchung?«, erkundigte ich mich.
»In zwei Wochen.«
»Und mit etwas Glück war’s das dann.«
»Ja. Ich weiß gar nicht, warum ich auch so kaputt bin – ich hab doch überhaupt nichts getan.«
»Mir auf einer Krebsstation die Zeit totzuschlagen zählt auch nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen«, gab ich zurück.
»Es rangiert etwa auf gleicher Höhe mit dem Ausmisten des Kälberstalls«, stimmte er zu.
»Oder mit einer Fußmassage für Dallas Taipa.«
»Das wär für mich allerdings Horror pur.«
»Seine Socken …«, sagte ich versonnen. »Irgendwie scheinen sie zu knirschen.«
Er grinste. »Du lebst wirklich am Rand des Abgrunds! Tagsüber Dallas’ Füße massieren, abends die Brechschüssel ausleeren …«
»Ich schätze, das festigt den Charakter«, überlegte ich. »Wir kommen uns großmütig und edel vor und können uns einreden, was wir doch für gute Menschen sind. Das tut jedem gut.«
»Auf dich trifft das wirklich zu. Die ganze Hausarbeit, die Pflege und das Versorgen dieser Tiermeute – du solltest das wirklich nicht alles allein schultern müssen, Jo.«
»Ich möchte es aber«, erwiderte ich. »Ich möchte helfen. Aber wenn ich es übertreibe und euch zur Last falle, dann sag mir Bescheid, ja?«
»Zur Last fallen?«, entrüstete er sich. »Red doch keinen Unsinn. Ich dachte, du wärst vernünftig genug, nicht auf meine Mutter zu hören.« Soweit ich es beurteilen konnte, hatte Hazel sich bislang noch in keinster Weise nützlich gemacht, sondern ließ stattdessen immer wieder leise Andeutungen über die zusätzliche Arbeit fallen, die ein Hausgast der armen Rose bereitete.
»Da besteht eher die Gefahr, dass ich so werde wie meine Mutter, wenn mir nicht ab und zu jemand den Kopf zurechtrückt.«
»Deine Mutter ist eine patente Frau, aber ich glaube nicht, dass du Gefahr läufst, so zu werden wie sie.«
»Ach ja?«, entgegnete ich trocken. Im selben Moment klingelte das Telefon. »Vielen Dank.«
»Hallo?«, meldete sich Matt. »Bleiben Sie dran – sie steht neben mir.« Er reichte mir den Hörer.
»Du gehst nie an dein Handy«, begrüßte mich Graeme.
»Nein«, gab ich ihm recht. »Hier habe ich keinen Empfang, daher lasse ich es meistens ausgeschaltet.«
»Was dem Sinn und Zweck eines solchen Geräts widerspricht«, kam es prompt zurück.
»Was gibt es?« Ich hatte keine Lust, mit Graeme über den sinnvollen Gebrauch meines Handys zu diskutieren.
»Warum hast du am Ersten deinen Anteil an der Hypothek nicht überwiesen?«
»Habe ich das nicht?«, fragte ich verwirrt.
»Nein, Jo, das hast du nicht.« Er schlug diesen betont geduldigen, überlegenen Tonfall an, der mich immer bis aufs Blut reizte.
»Ich kümmere mich morgen darum«, versprach ich. »Entschuldige.«
»Das reicht mir nicht«, beharrte Graeme. »Es ist ein Unding, dass ich dir deswegen hinterhertelefonieren muss.«
»Hör zu, ich sagte doch, es tut mir leid. Es ist ein Dauerauftrag – das Geld hätte pünktlich da sein müssen. Ich überprüfe das.«
»Und zwar so schnell wie möglich, wenn ich bitten darf. Ich musste mein Konto überziehen – die Bank hat mich angerufen.«
»Wann führst du wieder einen Besichtigungstermin durch?«, erkundigte ich mich.
»Das habe ich am Wochenende getan.«
»Letztes Wochenende?«
»Nein«, gab Graeme giftig zurück. »An dem davor.«
»Also vor neun Tagen.«
»Ja, Jo, vor neun Tagen.« Da war er wieder, dieser aufreizende Ton.
»Und wie ist es gelaufen?«, fragte ich zuckersüß.
»Nicht schlecht – ein paar Leute scheinen zumindest interessiert.«
»Graeme«, sagte ich, »das ist eine nette kleine Geschichte, die du mir da auftischst, aber ich weiß zufällig, dass du ein romantisches Wochenende an irgendeinem Strand verbracht hast.« Danke, Chrissie, dass du jedes Detail deines Lebens so genau auf Facebook verbreitest.
»Wovon redest du?«, stotterte er.
»Du musst mich wirklich für strohdumm halten. Aber lass dir gesagt sein, ich bin es gründlich leid, dein Liebesnest mitzufinanzieren. Wenn du das Haus behalten willst, dann zahl mich gefälligst aus!«
»Verstehe«, sagte er. »Also hast du beschlossen, die Zahlungen einfach einzustellen.«
»Nein!«, widersprach ich ärgerlich. »Obwohl … wenn ich meinen Anteil nicht mehr zahle, dann sabotierst du vielleicht nicht mehr jedes Angebot, das dir jemand macht.«
»Sorg du nur dafür, dass das Geld morgen überwiesen wird, sonst schalte ich einen Anwalt ein, Jo. Das ist mein vollster Ernst.«
»Mann, bist du ein Kotzbrocken!« Wütend legte ich auf.
»Das klang sehr unterhaltsam«, bemerkte Matt. Er hatte sich während dieses freundschaftlichen Gesprächs taktvoll zum Spülbecken zurückgezogen und rührte in einer Tasse Kakao an.
»War es auch.« Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Augen. Wegen dieser Sache würde ich nicht mehr weinen. Es waren ohnehin hauptsächlich Tränen der Wut.
»Möchtest du etwas trinken?«
»Ja, bitte.«
»Wie viel Zucker?«, fragte er.
»Drei Stück«, entschied ich.
Er lächelte. »Hilft das?«
»Natürlich. Wusstest du das nicht?«
»Das ist wahrscheinlich eher was für Mädchen. Ich ziehe Whisky vor.«
»Verlockend, aber nicht empfehlenswert, wenn man am nächsten Tag arbeiten muss.« Ich setzte mich im Schneidersitz auf die Chaiselongue. »Ich glaube, ich muss nach Melbourne fahren und ihn mir persönlich vorknöpfen, obwohl ich dazu wirklich gar keine Lust habe.«
»Kann das nicht ein Freund für dich tun? Oder ein Anwalt?«
»Vermutlich schon«, sagte ich. »Aber wir wollten eigentlich alles selbst zwischen uns zur Hälfte aufteilen, statt einem Anwalt Tausende von Dollars in den Rachen zu werfen. Ich möchte das Haus wirklich gern verkaufen, aber offenbar hat er nun beschlossen, das zu verhindern.«
»Damit du auch weiterhin die Hälfte der Hypothek zahlst, wenn das nächste Model bei ihm einzieht?« Matt verdrehte ungläubig die Augen. »Was für ein mieser Typ!«
»Was mich am meisten aufregt, ist, dass er Chrissie dazu bringen wird, seinen Anteil an der Hypothek zur Hälfte zu übernehmen. Er ist widerlich geizig.«
»Jo?«
»Mhm?« Ich nahm die Tasse mit dem üppig gezuckerten Kakao entgegen und nippte daran.
»Warum um alles in der Welt bist du fünf Jahre mit dieser Niete zusammengeblieben?«
»Aus Dummheit wahrscheinlich«, erwiderte ich missmutig. »Ach, ich weiß nicht. Wenn er will, kann er sehr charmant sein …«
»Außerdem ist er Arzt.«
»Im Gegensatz zu dem, was du mir hier immer unterstellst, gehe ich mit Männern nicht nur aus, weil sie Ärzte sind.«
»Auf die letzten traf das zumindest zu.«
»Ich hatte überhaupt erst zwei Freunde«, protestierte ich. Der nette Junge aus dem Physiokurs, mit dem ich vor ungefähr zehn Jahren ein paar quälende Wochen verbracht hatte, zählte doch sicher nicht. »Diese Anzahl lässt sicher keine Verallgemeinerungen zu.«
»Vielleicht nicht.« Er gähnte und reckte die Arme über den Kopf. »Also, was ist damals eigentlich passiert?«
»Hast du diese Geschichte noch nicht gehört?«, fragte ich überrascht.
»Nur Mums Version, und die könnte direkt aus einer Daily Soap im Fernsehen stammen.«
Ich lächelte. »Es war tatsächlich ziemlich dramatisch. Ich kam eines Tages früher als sonst von der Arbeit nach Hause und erwischte ihn und meine beste Freundin bei leidenschaftlichem Sex in einem Sessel.«
Matt lachte. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Ich möchte ja nicht wie ein herzloser Mistkerl klingen, aber ich habe mich immer gefragt, wie man wohl in einer solchen Situation reagiert.«
»Du meinst, ob man sich höflich zurückzieht und wartet, bis sie fertig sind, oder anfängt zu kreischen und nach Wurfgeschossen zu suchen?«
»Genau das. Was hast du getan?«
»Ich habe nur mit offenem Mund dagestanden. Vermutlich vor Schock wie gelähmt.« Ich begann hysterisch zu lachen. »Er hat mich zuerst gesehen und lief dunkelrot an, und sie hat nichts gemerkt …« Hier gingen meine Nerven mit mir durch, und ich musste das Gesicht in einem Kissen vergraben, bis ich mich von meinem Kicheranfall erholt hatte. »Im ganzen Leben hab ich noch nie jemand so dämlich aus der Wäsche gucken sehen!«
»Was für ein Volltrottel«, stimmte Matt zu.
»Wer? Ich?«
»Nein, nicht du. Er. Du bist nämlich eine Wucht, weißt du?«
Eine heftige Hitzewelle stieg in mir auf, von den Fußsohlen bis zu den Ohrenspitzen. Das war wohl nicht zu übersehen; ebenso gut hätte ich ein Schild mit der Aufschrift ICH ERINNERE MICH GERADE AN JEDE EINZELHEIT UNSERER GEMEINSAMEN NACHT schwenken können. Ich unterdrückte mühsam den Drang, das Gesicht wieder ins Kissen zu vergraben, und fuhr hastig fort: »Ich glaube, das Schlimmste war das Gefühl, in meinem eigenen Leben keinen Platz mehr zu haben. Monatelang hatte ich mich bei Chrissie darüber beklagt, dass er nur schlechte Laune hatte und ständig gestresst war, und sie schenkte mir Wein ein, hörte zu und schlief mit ihm, sobald ich ihr den Rücken zukehrte. Die beiden sind anscheinend ineinander vernarrt, und sie leben in meinem Haus und laden all die Leute, die ich für meine Freunde gehalten habe, zu Drinks bei sich ein, und alle finden das Ganze wundervoll. Es ist, als hätte es mich nie gegeben.«
»Die meisten Menschen sind jämmerliche Feiglinge«, sagte Matt, den Blick fest auf den Boden geheftet. Auch er hatte rote Ohren bekommen. »Sie halten die ganze Sache vermutlich für ziemlich mies, aber niemand hat den Mut, das laut zu sagen. Also schreiben sie die Geschichte einfach neu und behaupten, ihr zwei hättet sowieso nie besonders gut zusammengepasst und du hättest vermutlich schon seit Jahren lieber in deine Heimat zurückkehren wollen.«
»Ein Einziger hat mich in die Arme genommen und gesagt, die beiden gehörten aufgeknüpft«, erzählte ich weiter. »Das war Graemes englischer Arbeitskollege Stu, der tuntigste Schwule, der mir je begegnet ist, und außerdem einer der nettesten Menschen der Welt.« Ich rümpfte die Nase. »Tut mir leid. Schau mich nicht so mitfühlend an – das verleitet mich dazu, dich noch weiter zu langweilen.«
»Das tust du nicht. Und ich hatte schließlich gefragt.«
Ich lächelte ihn an. »Das wird dir eine Lehre sein.«
Er erwiderte das Lächeln. »Nun, es tut mir leid, dass dein Leben aus den Fugen geraten ist, aber wenigstens war der Zeitpunkt günstig.«
»Das ist ausgesprochen tröstlich. Vielen herzlichen Dank.«
»Keine Ursache«, sagte er fröhlich. »In solchen Dingen bin ich gut.«
Er verließ die Küche, und ich warf mich der Länge nach auf die Chaiselongue.
Also war ich über Matt doch noch nicht hinweg, dachte ich trübselig. Das hatte ich mir nur deshalb eingebildet, weil ich, nachdem ich ihn jahrelang nicht gesehen hatte, vergessen hatte, wie toll ich ihn fand. Und nun war er mit einer Lipgloss und Perlenohrringe tragenden Farmer-Barbie zusammen, und ich war nur seine alte Kameradin Jo, ein guter Kumpel, aber ungefähr so reizvoll wie Shona vom Four Square, die hundert Kilo wiegt und direkt unter dem rechten Auge eine Warze mit einem langen Haar in der Mitte hat. Mist. Ich hasse es, zugeben zu müssen, dass meine Mutter recht hat.
Matt und mich verband nie eine dieser idyllischen Kinderfreundschaften, die sich langsam in Liebe verwandeln. Solche Freundschaften gibt es vermutlich ohnehin nur in Kitschromanen. Wir spielten zu Hause miteinander, in der Schule hingegen beachteten wir uns nicht; wir fütterten die Kälber, angelten Aale, schwammen im Fluss und gingen Tante Rose auf die Nerven, und mindestens einmal pro Woche zankten wir uns wie die Kesselflicker. In unserer Teenagerzeit verliebte sich regelmäßig einer von uns in den anderen, aber nie zur selben Zeit, und nach der Highschool hatten wir beschlossen, dass wir nur gute Freunde waren. Und dann, als er zwanzig und ich einundzwanzig war, hatten wir einen fantastischen One-Night-Stand, und am nächsten Tag reiste er nach Schottland ab, und seither war es uns abgesehen von der Beerdigung seines Vaters nicht gelungen, uns beide zur selben Zeit im selben Land aufzuhalten.