Kapitel 39

ES WAR FAST VIER Uhr, als ich ganz oben im Parkhaus des Waikato Hospital einen Parkplatz fand. Laut Kims letzter SMS musste ich zu Station zwölf der Allgemeinchirurgie, wohin Matt um die Mittagszeit von der Intensivstation verlegt worden war. Das waren ermutigende Neuigkeiten, und meine Zuversicht wuchs noch, als ich die richtige Station fand, ohne mich ein einziges Mal zu verlaufen.

Ich blieb vor dem Schreibtisch im Schwesternzimmer stehen, und eine Krankenschwester um die vierzig mit der Miene einer Frau, deren Tag alles andere als gut verlaufen war, blickte auf. »Ja bitte?«

»Ich möchte zu Matthew King.«

»Ganz hinten, das letzte Zimmer.«

»Danke«, sagte ich, aber sie hatte sich bereits abgewandt und nach dem Telefon gegriffen.

Ich ging den Gang entlang, schlug Haken um etliche verlassene Rollstühle, einen Wagen mit Putzmitteln und einen Mann in flauschigen Socken und einem Krankenhausbademantel, der seinen Infusionsständer vor sich herschob. Das Zimmer am Ende hatte vier Betten, alle belegt, und eine Reihe großer, hoher Fenster. Im letzten Bett lag Matt mit geschlossenen Augen und sah beängstigend blass und mitgenommen aus.

Vermutlich hätte ich mich schluchzend an seine Hand geklammert – was mehr ist, als man jemandem mit einem Leberriss und gebrochenen Rippen zumuten sollte –, wenn ich nur in seine Nähe hätte gelangen können. Aber Hazel saß rechts von ihm auf einem Stuhl und eine kleinlaute, schuldbewusste Cilla links, während eine dritte Frau, die ich nicht kannte, einen Strauß orangefarbener Gerberas in einer Vase auf dem Tisch am Fuß des Bettes arrangierte.

»Josie!«, rief Kim im Gang hinter mir, stellte ein Tablett mit Einwegkaffeebechern auf dem nächstbesten Rollstuhlsitz ab und umarmte mich.

Ich drückte sie fest an mich. »Hey, Kimlet.«

»Du hattest sicher einen furchtbaren Tag«, murmelte sie in meine Schulter.

»Genau wie du.«

»Yeah.«

»Aber Kopf hoch. Matt ist am Leben.«

Kim machte sich seufzend von mir los. »Stimmt. Ich vermute, wir hätten ihn wirklich ein bisschen vermisst.«

»Das sagen wir ihm besser nicht, sonst trägt er die Nase noch höher.« Und wir lächelten uns zittrig zu.

»Es ist furchtbar«, sagte Kim plötzlich. »Ich vergesse Tante Rose immer wieder.«

»Ich denke, das versteht sie«, entgegnete ich. Mein Glaube an ein Leben nach dem Tod stand auf etwas wackligen Füßen, aber der Gedanke, Tante Rose könnte für immer fort sein, kam mir offen gestanden lächerlich vor. »Sie wäre empört, wenn wir zusammenklappen würden, statt weiterzumachen wie gewohnt.«

»Mhm.« Kims Blick ruhte nachdenklich auf ihrer Mutter. Dann drehte sie sich um und griff nach dem Tablett mit dem Kaffee. »Komm mit.«

Sie ging durchs Zimmer, stellte das Tablett auf den Tisch und suchte in der Tasche ihrer Jeans nach einigen Münzen. »Zwei Dollar vierzig«, sagte sie und reichte sie der unbekannten Frau.

»Danke, Schätzchen. Das ist Wucher, nicht wahr? Wie am Flughafen.« Sie sah von Kim zu mir. »Und das muss Josie sein.«

»Hallo«, sagte ich. Matt schlug mühsam die Augen auf. Unsere Blicke kreuzten sich. »Hey, Matt.« »Mein Liebster, ich liebe dich mehr, als irgendjemand in der Weltgeschichte jemals einen anderen Menschen geliebt hat« kann man vor Publikum schlecht laut sagen, und im Grunde genommen glaube ich nicht, dass irgendjemand, der mit meinem Vater verwandt ist, solche Worte über die Lippen bringt.

»Hey, Jose«, flüsterte er.

»Ich bin Myra Browne«, stellte sich die Frau vor. »Cillas Mutter.«

»Oh, natürlich«, sagte ich. »Freut mich, Sie kennenzulernen.« Was nicht der Wahrheit entsprach, aber »Was zum Teufel haben Sie und Ihre verdammte Tochter hier zu suchen?« gehört auch zu den Dingen, die man besser für sich behält.

Hazel blickte auf. Ihr Gesicht verzerrte sich wie das eines Kindes. »Oh, Josie«, wimmerte sie und streckte die Arme aus. Das kam überraschend, aber ich umarmte sie gehorsam und tätschelte ihren schmalen, zitternden Rücken. »Er wäre beinahe n … nicht durchgekommen. Mein kleiner Junge – und R … Rosie ist … ist tot …«

»Im Schlaf gestorben«, versuchte ich sie zu trösten. »Ganz friedlich.«

»Trink einen Kaffee, Hazel«, sagte Myra. »Dann geht es dir besser. Wolltest du Zimt oder Schokolade auf deinen Cappuccino?«

Hazel seufzte, gab mich frei, sank auf ihren Stuhl neben Matts Bett zurück und versperrte mir so den Zugang. »Zimt«, sagte sie. »Danke.«

»Cilla?« Ihre Mutter hielt einen weiteren Becher hoch. »Komm, Schatz, trink ihn, solange er heiß ist.«

Cilla holte tief und zittrig Atem und warf ihr schimmerndes Haar zurück. Ihre Augen waren gerötet, ihr Gesicht vom Weinen verquollen, und über ihre Wange verlief ein langer Kratzer. Trotzdem sah sie wie ein Porzellanpüppchen aus. »Es tut mir so leid«, flüsterte sie.

»Das weiß er«, gab ihre Mutter mit Nachdruck zurück. »Matthew weiß, dass es ein Unfall war.«

Zur Bestätigung gab Matt ein schmerzliches Grunzen von sich. Cilla verbarg ihr Gesicht erneut, und ich empfand plötzlich Mitleid mit ihr – womit ich nicht gerechnet hatte, schließlich hatte das Mädchen meinen liebsten Menschen auf der Welt verletzt. Aber man muss sich das Ausmaß der Reue darüber, jemanden in die Intensivstation gebracht, gepaart mit der sengenden Scham, dem ganzen District Stoff für pikanten Klatsch geliefert zu haben – sitzengelassene Exfreundin fährt hiesigen Farmer über den Haufen! –, einmal vorstellen. Lasst eine, die niemals ihrem Freund, der mit ihr Schluss gemacht hat, einen solch unseligen nächtlichen Besuch abgestattet hat, den ersten Stein werfen. Oder so ähnlich.

»Jo?«, krächzte Matt.

»Ja?«

»Ist alles … in Ordnung?«

»Auf der Farm, meinst du?«

»Mhm.«

Ich lächelte. »Oh ja.« Wenn man auf Zuneigungsbekundungen in der Öffentlichkeit aus ist, wird man bei Matthew King lange darauf warten können. »Keine größeren Dramen. Drei neue Kälber heute Morgen, und das Melken verlief glatt.«

»Gut. Wo hast du … die Kühe hingebracht?«

»Die Milchkühe sind auf Koppel vierzig.« Die anderen hatten wir warten lassen müssen, bis es hell genug war, um eine Weide mit genug Gras zu finden. Sie waren darüber höchst ungehalten gewesen und waren geschlossen in den Stall zurückgekehrt, um sich zu beklagen.

»Scheiße«, flüsterte Matt. Meine Zuversicht schwand.

»Warum?«, wollte ich wissen.

»Hab sie … mit Abwasser … gesprengt.«

»Aber wir hatten letzte Nacht ungefähr hundert Liter Regen«, wandte ich ein. »Der muss alles weggewaschen haben. Mach dir keine Sorgen.«

Cilla hob den Kopf und sah mich über Matts Bett hinweg verachtungsvoll an. »Mit Abwasser gesprengtes Gras enthält sehr viel Kalium«, erklärte sie. »Und Kalium fördert die Aufnahme von Magnesium, daher legen sich die Kühe schneller hin. Vor allem bei schlechtem Wetter.« Du dämliche Großstadtpflanze. Den letzten Satz sagte sie nicht laut, aber ich sah ihr an, dass sie ihn dachte.

Eins zu null, Farmer-Barbie, dachte ich zur Antwort. »Wir haben ihnen Magnesiumoxid gegeben. Andy treibt sie heute Abend auf die lange, schmale Weide mit den Pappeln – ist das okay?«

»Ja«, murmelte Matt. Seine Augen schlossen sich; die Anstrengung, sie offen zu halten, war zu groß. »Danke.« Dann: »Du musst sie … morgen … heiß abspritzen.«

»Matthew, Liebling«, warf seine Mutter zärtlich ein. »Mach dir wegen der Farm keine Gedanken. Du brauchst Ruhe, um wieder gesund zu werden.«

Er schenkte ihr nicht die geringste Beachtung. »Weißt du noch, wie das geht, Jose?«

»Nicht wirklich. Aber an der Milchkammertür hängt ein Zettel, oder? Und Andy wird mir helfen. Wo sollen die Kühe morgen hin?«

»Josie«, mahnte Hazel ruhig.

»Tut mir leid, aber ich muss fragen.«

»Das ist doch jetzt wohl kaum wichtig«, sagte sie. »Matthew ist sehr schwach – er hat Glück, dass er noch lebt …« Sie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel ihrer Strickjacke und drückte es gegen die Augen.

»Milchkühe auf Siebzehn.« Er bewegte unruhig den Kopf auf dem Kissen. »Die hochträchtigen kriegen die doppelte Futterration. Und … ruf Kevin Goulding an … soll beim Melken helfen.«

»Haben wir schon gemacht. Dieses Wochenende hat er zu tun, aber er kommt am Montag.«

»Gutes Mädchen.« Er öffnete ein Auge einen Spalt weit und schenkte mir ein schiefes Lächeln.

Roeschen.tif

»Josie, du spinnst«, stellte Kim fest.

»Sei nett zu mir«, verteidigte ich mich. »Sonst fange ich an zu weinen, und das wäre der nächste Schritt ins absolute Elend.«

Fünf Minuten nachdem ich verkündet hatte, dass das Auto wohl gestohlen war, entdeckten wir es schließlich. Es stand zwei Ebenen über unserem Ausgangspunkt hinter einem Pfeiler, von dem ich insgeheim überzeugt war, dass er beim Einparken noch nicht dagestanden hatte.

»Gib mir die Schlüssel«, befahl Kim.

Ich kramte in meiner Tasche danach. »Nein.«

»Und warum nicht?«

»Weil ich älter und hässlicher bin als du. Und weil ich heute Nacht wenigstens ein paar Stunden geschlafen habe, was man von dir nicht behaupten kann.« Ich schloss das Auto auf, und wir stiegen ein.

»Ich schätze, ich habe ungefähr eine halbe Stunde auf einem Stuhl im Wartezimmer gedöst.« Sie seufzte und legte den Kopf gegen die Rückenlehne des Sitzes. »Der Chirurg hat uns gesagt, dass er großes Glück hat, noch am Leben zu sein. Wegen des Sturms konnten sie den Rettungshubschrauber nicht einsetzen, und er hätte während der Fahrt im Krankenwagen verbluten können.«

Ich schluckte hart, ließ den Motor an und setzte den Wagen mit einem Ruck rückwärts gegen den Pfeiler. Eine kurze, geschockte Pause trat ein.

»Soll ich nicht lieber doch fahren?«, fragte Kim dann.

Ich schluckte erneut. »Okay.«