Kapitel 26

AM ENDE DER MAHLZEIT an diesem Abend sah Roses Teller noch genauso aus wie am Anfang. Darauf lagen ein Hähnchenschenkel, drei Stück Süßkartoffeln und ein Esslöffel Erbsen – kein lukullisches Mahl, aber in Anbetracht der Verfassung der Köchin hätte es noch viel schlimmer kommen können. »Kannst du nicht wenigstens ein bisschen was essen?«, bat ich.

»Nein.« Rose schob ihren Stuhl zurück, legte sich mit vor Schmerz zusammengepressten Lippen auf die Chaiselongue und schloss die Augen.

Hazel erschien, als ich gerade den letzten Teller abtrocknete. »Guten Abend, Mädels«, trillerte sie, als sie den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Rosie, Schätzchen, ich habe dir ein Buch mitgebracht, das dir gefallen wird.«

Rose öffnete ein Auge. »Hoffentlich einen Schundroman«, murmelte sie.

Hazel lachte hell auf. »Nein, nein. Es geht um eine makrobiotische Diät – Ratschläge für eine natürliche Heilung.«

Das Auge schloss sich wieder. »Danke«, sagte Rose dumpf.

Der Kessel pfiff schrill und schaltete sich aus, und ich füllte kochendes Wasser in eine altmodische Gummiwärmflasche mit Häkelbezug. »Vielleicht hilft das«, sagte ich, als ich sie Rose reichte.

»Ich bezweifle es«, sagte sie, nahm die Flasche aber und schob sie sich ins Kreuz.

»Rosie«, tadelte Hazel, »es ist sehr nett von Josie, dass sie versucht, dir zu helfen.« Ihre Worte wurden mit Schweigen beantwortet, und sie fuhr fort: »Die Leute sind überhaupt alle sehr freundlich, nicht wahr? Myra Browne – die Mutter der lieben Cilla – hat mir das Buch geliehen. Ihre Freundin hatte eine sehr seltene Art von Hautkrebs, und anscheinend hatten die Ärzte sie schon aufgegeben, als sie diese makrobiotische Diät entdeckte. Und jetzt ist sie völlig geheilt.«

»Hazel«, sagte Rose erschöpft, »ich wünschte, du würdest damit aufhören.«

»Zumindest kann es nichts schaden.«

»Ich bezweifle doch sehr, dass ich länger lebe, wenn ich mich von Mungobohnen und Tofu ernähre. Vermutlich beiße ich eher früher ins Gras.«

»Sprich nicht so, Rosie!«

»Ich habe Metastasen in der Lunge und auf der Leber eine kricketballgroße Geschwulst, die ich unter der Haut sogar ertasten kann.« Ich sah sie scharf an; das hatte ich noch nicht gewusst. »Mein Körper wird langsam von dieser scheußlichen Krankheit zerfressen. Ich fühle mich ungefähr so, als wäre ich unterhalb der Hochwassermarke an einen Felsen gekettet und würde auf das Einsetzen der Flut warten. Und mittlerweile kennst sogar du sicher meine Ansicht über Leute, die Todkranken nutzlose Heilmethoden aufschwatzen wollen.«

»Oh, Rosie«, sagte ihre Schwester hilflos. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Fang bloß nicht an zu weinen«, stöhnte Rose. »Nicht heute Abend; mir fehlt die Kraft, das zu ertragen.«

Ich schnäuzte mich in ein Papiertaschentuch – die Aufschrift auf der Schachtel versicherte mir, dass es mit Aloe vera imprägniert und hautschonend war, aber auf meiner wunden Nase fühlte es sich wie Sandpapier an – und Hazel bemerkte prompt besorgt: »Ich weiß nicht, ob Josie hier sein sollte, wenn sie so erkältet ist. Sie könnte dich anstecken.«

»Wenn, dann habe ich das vermutlich schon vor einer Woche getan«, sagte ich. »Jetzt kann man nichts mehr dagegen unternehmen.«

»Aber achte auf Hygiene, ja?«, ermahnte mich Hazel. »Wasch dir sorgfältig die Hände und halte sie dir vor den Mund, statt Rosie anzuhusten.«

Die Antwort, die mir auf der Zunge lag, hätte ich zweifellos später bereut, also stand ich wortlos auf, um unter die Dusche zu gehen.

»Vielleicht könnte sie eine kleine Glocke läuten und ›unrein, unrein‹ rufen, wenn sie näher kommt«, schlug Rose vor, als ich den Raum verließ.

Eine Erkältung ist an und für sich keine schwere Krankheit, aber meine hatte jetzt die unangenehme Phase erreicht, wo man sich fühlt, als wären die Augäpfel in der Sonne liegen gelassen und die Nebenhöhlen mit Beton gefüllt worden. Ich stand eine Weile unter dem kläglichen Wasserstrahl, der aus Roses Dusche kommt, schlüpfte dann in meinen Onesie, nahm zwei Panadol und ging wieder den Flur hinunter. Hazel saß noch immer in der Küche und betupfte sich die Augen auf eine Weise, die keinen Zweifel daran lassen sollte, dass sie wegen ihrer Schwester aufrichtige Tränen vergossen hatte.

»Josephine, zieh um Himmels willen bitte dieses grässliche Ding aus!« Rose musterte mich angewidert.

»Du bist nur neidisch auf diesen prachtvollen Schlafanzug«, erwiderte ich.

Der Onesie und ich waren jetzt seit einer Woche zusammen. Kalte Füße im Bett? Nicht, wenn man einen Onesie zum Freund hat. Ärger mit hochrutschenden Pyjamabeinen? Nie mehr. Dieser Onesie war das Beste, was mir seit Monaten passiert war. Am Morgen nach unserer ersten wundervollen gemeinsamen Nacht schickte ich dem Mann, durch den er in mein Leben getreten war, von der Arbeit aus eine Mail: Der Onesie ist großartig. Genau wie du.

Freut mich, dass er dir gefällt, schrieb er zurück.

»Ich kann nicht begreifen, warum du diesen unkontrollierbaren Drang verspürst, so wenig wie möglich aus dir zu machen«, sagte Rose.

»Ich will ihn ja nicht in der Öffentlichkeit tragen«, protestierte ich und zog die Kapuze hoch.

Rose schloss die Augen, als bereite mein Anblick ihr Schmerzen. »Josephine«, sagte sie, »es ist geradezu strafbar, mit naturblondem Haar und Beinen bis zur Achselhöhle gesegnet zu sein und sich dann in diesen Fetzen zu hüllen.«

Ich lächelte sie gerührt an. »Er ist warm und bequem, und ich liebe ihn. So viel dazu.«

»Oh, sei nicht so sentimental«, fauchte sie. »Wenn Matthew dir einen Kartoffelsack geschenkt hätte, würdest du das verdammte Ding auch wie einen Schatz hüten. Ich gehe zu Bett – gute Nacht.«

Sie hinterließ ein betretenes Schweigen in der Küche. Endlich gelang es mir, meine Zunge vom Gaumen zu lösen und zu sagen: »Gott sei Dank bringst du sie Freitag in die Schmerzklinik.«

»Ja«, sagte Hazel. »Ja, Gott sei Dank.« Sie schwieg einen Moment lang und fügte dann achtlos hinzu: »Ich bin froh, dass Matthew sich nicht verpflichtet gefühlt hat, heute Abend herüberzukommen. Er hängt so an Rosie und hat ein so ausgeprägtes Pflichtbewusstsein, aber ich weiß, dass es eine Belastung für ihn ist. Schön, dass er einmal Gelegenheit hat, etwas Zeit mit Cilla zu verbringen.«

Roeschen.tif

»Josephine?«, rief Rose, als ich später an diesem Abend auf dem Weg ins Bett an ihrem Zimmer vorbeiging. Sie saß gegen ihre Kissen gelehnt im Bett, neben ihr auf der Decke lagen zwei Romane, und einen mit einem besonders grellen Einband hielt sie in der Hand. Der nette Marty Holden vom Buchclub hatte ihr kartonweise Liebesromane vorbeigebracht, und sie verschlang zwei pro Tag und wechselte zu Jane Austen, wenn sie geistige Entgiftung benötigte.

»Wovon handelt der denn?«, fragte ich.

»Schöne Waise wird um ihr Erbe betrogen und von ihrem bösen Onkel vergewaltigt«, erwiderte Rose lakonisch.

»Aber von dem überaus attraktiven Stallknecht gerettet, der sich als Laird der benachbarten Burg entpuppt?«

»Zweifellos«, orakelte sie. »Ich habe das Buch gerade erst angefangen. Es tut mir leid – was ich vorhin gesagt habe, war unüberlegt und überflüssig.«

»Schon gut«, erwiderte ich. »Hazel hat mir gerade taktvoll klargemacht, wie verliebt Matt und Cilla sind.«

»Das hat dir bestimmt gefallen.«

»Und wie.« Ich lehnte mich gegen den Türrahmen. »Das ist das erste Mal, dass du in Bezug auf meine Person eine bösartige Bemerkung gemacht hast.«

»Ich fürchte, es könnte nicht das letzte Mal bleiben, Josephine.«

»Verbitterung und Wut kündigen sich an?«

»In der Tat«, bestätigte Rose. »Gute Nacht, Kindchen.« Und als ich mich zum Gehen wandte, begann sie matt zu lachen.

»Was ist?«, fragte ich.

»Das grässliche Ding hat einen Schwanz. Bitte befreie mich von seinem Anblick.«

Ich spähte über meine Schulter – sie hatte recht: An der Rückseite des Onesies war tatsächlich ein weißer Hasenpuschelschwanz befestigt. Ich weiß nicht, wie ich ihn hatte übersehen können.

»Absolut fantastisch«, sagte ich und schloss die Tür leise hinter mir.

Roeschen.tif

Als ich am nächsten Morgen um zehn vor acht zur Arbeit kam, stand Ambers rotes Auto schon da. Normalerweise kreuzt sie erst um fünf nach auf – das konnte kein gutes Zeichen sein. Vielleicht war sie früher gekommen, um ihre Kündigung einzureichen, und mir stand eine Klage wegen Beleidigung am Arbeitsplatz bevor. Von leisem Argwohn erfüllt betrat ich das Gebäude, wo sie die Theke mit einem feuchten Lappen abwischte – eine weitere Premiere.

»Guten Morgen«, zwitscherte sie fröhlich. »Ich habe staubgesaugt.«

Ich starrte sie verwirrt an. »Wer bist du?«, fragte ich. »Und was hast du mit Amber gemacht?«

Sie quittierte den lahmen Scherz mit hellem Gelächter. »Du bist immer so witzig.«

Ich öffnete den Mund, um mich dafür zu entschuldigen, dass ich sie am Abend zuvor angeschnauzt hatte, besann mich dann aber eines Besseren und schloss ihn wieder. Diese neue Amber stellte gegenüber der alten eine gewaltige Verbesserung dar; man konnte nicht ahnen, wie lange die Verwandlung anhalten würde, und es wäre töricht, etwas zu sagen, was die Dauer verkürzen könnte. Amber hielt mit dem Putzen inne, um sich die Nase an der Schulter ihrer Strickjacke abzuwischen, und ich verspürte eine unerwartete Erleichterung. Sie war also doch nicht durch einen Roboter ersetzt worden, dessen Programm jederzeit in den Massakermodus umspringen konnte.

Ambers wundersame Wandlung hielt den ganzen Vormittag an. Sie gab Daten in den Computer ein, rief die für morgen angemeldeten Patienten an, um sie an ihre Termine zu erinnern, und entfernte nicht einmal ihren Nagellack. Ich begann mich zu fragen, ob ich durch irgendeinen Zufall in einem Paralleluniversum gelandet war.

Andy kam um die Mittagszeit vorbei. In seinen beigefarbenen Moleskinhosen und den glänzenden Lederstiefeln wirkte er wie die Verkörperung des jungen, aufstrebenden Geschäftsmannes vom Land. Sein Hemdkragen stand ebenso steif hoch wie seine eingegelten Haarspitzen. Mit dieser Frisur hätte ich mich nicht an ihn ankuscheln wollen, ich hätte Angst gehabt, dabei ein Auge zu verlieren.

»Hi«, keuchte Amber, riss die Augen weit auf und lutschte am Ende ihres Stifts. Leider ließ sie das nicht aufreizend wirken, sondern nur so, als bestünde die unmittelbare Gefahr, dass ihr die Augen aus dem Kopf fielen. »Hallo, Andy.«

»Oh, hi, Amber«, erwiderte er, dann drehte er das Kinn ungefähr fünf Grad in meine Richtung. »Jo.«

»Hallo«, sagte ich.

»Zu Hause in der Gefriertruhe habe ich etwas Wildschweinfleisch für dich«, teilte er mir mit.

»Behalt es«, entgegnete ich. »Du bist derjenige, der die ganze Arbeit gemacht hat.«

»Ich dachte, ihr hättet vielleicht gern ein paar Koteletts und einige kleine Bratenstücke. Ich bringe sie nach der Arbeit vorbei, wenn ihr dann da seid.«

»Halb acht ist meistens eine gute Zeit«, schlug ich vor. »Matt und Kim kommen fast immer nach dem Dinner herüber.«

»Gut«, murmelte Andy unbehaglich. »Hör mal, Jo, könnte ich dich kurz unter vier Augen sprechen?«

»Sicher. Amber, es müsste doch Zeit für deine Mittagspause sein.«

Amber wirkte etwas geknickt, schob aber ihren Stuhl zurück und fischte ihre Handtasche unter dem Schreibtisch hervor. »Soll ich euch irgendwas mitbringen?«, fragte sie.

»Nein, danke«, sagte Andy und lächelte ihr kurz zu, woraufhin ihr das Blut in die Wangen stieg. Mir kam der Gedanke, dass wir vielleicht mit einem weiteren Fall von unerwiderter Liebe rechnen mussten und ich gut daran täte, einen Extravorrat an Schokoladenkeksen anzulegen. Aber keine der Marke Tim Tam, sondern welche, die leichter zu essen waren.

Amber zog einen pinkfarbenen Nylonmantel mit zottigem Kunstpelz an den Ärmeln an, griff nach ihrer Tasche und trat in den winterlichen Sonnenschein hinaus. Wir sahen zu, wie sie die Straße hoch in Richtung Bake House ging. Andy scharrte mit den Füßen und machte ein unglückliches Gesicht.

Ich wartete eine Weile, und als er keine Anstalten machte, mit der Sprache herauszurücken, bemerkte ich: »Der hintere Teil der King-Farm ist wirklich schön, findest du nicht?«

»Mhm.«

Nach einer weiteren Pause versuchte ich es erneut. »Wie ich hörte, hast du gestern Kims Mutter kennengelernt.«

»Mhm«, wiederholte Andy, dabei betrachtete er eingehend die Nägel seiner linken Hand. Sichtlich zufrieden schob er die Hand in seine Hosentasche und begann unmelodisch durch die Zähne zu pfeifen.

Ich lachte – ich konnte nicht anders –, und er zuckte zusammen wie ein erschrockenes Kaninchen. »Andy! Ich habe in zehn Minuten einen Patienten!«

»Sorry«, murmelte er. »Äh, Jo …«

Eine neuerliche, noch längere Pause trat ein. Ich setzte mich auf Ambers Stuhl, stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und das Kinn auf die Hände. »Lass dir Zeit.«

»Ach, hör auf«, fauchte er. »Wenn ich das Mädchen einlade, mit mir auszugehen … wird man mich dann für einen alten Lustgreis halten und aus der Stadt jagen?«

»Mit ›man‹ meinst du Matt?«

»Mhm.«

»Da er Kim allein mit dir hat weggehen lassen, halte ich das für eher unwahrscheinlich. Und du hast einen guten Job und spielst in keiner obskuren Rockband, also schneidest du im Vergleich zu dem letzten Typen schon mal gut ab.«

»Ich bin fünf Jahre älter als sie«, seufzte Andy. »Sie wird mich vermutlich für einen alten Lustgreis halten.«

Niemand hätte weniger wie ein alter Lustgreis wirken können als Andy mit seinen rosigen Wangen und dem stacheligen Haar. Er sah aus wie ungefähr zwölf. »Deswegen wollte sie auch deine Telefonnummer und hat dir Müsliriegel gekauft und sich erboten, mit dir einen Hügel hochzuklettern«, erwiderte ich. »Und wenn du mich fragst, würde sie sich eher Zitronensaft in eine offene Wunde träufeln, als durch feuchtes Buschwerk zu stapfen.«

»Ich glaube nicht, dass ihre Mutter viel von mir gehalten hat«, sagte er düster.

»Nein«, stimmte ich zu. »Sie dachte, du stehst schon mit einem Fuß im Gefängnis. Tante Rose hat ihr erzählt, deiner Familie würde halb Hawkes Bay gehören, aber ich weiß nicht, ob sie das geglaubt hat.«

»Nur dreitausend Hektar«, berichtigte Andy.

»Das muss man nicht so genau nehmen.« Daneben, Tante Rose. »Lebt ihr in fünfter Generation dort?«

Er sah mich verwirrt an. »Wir sind von Feilding dorthin gezogen, als ich sechs war. Ist das wichtig?«

»Nein, ich habe Hazel nur weisgemacht, du wärst schon die fünfte Morrison-Generation. So etwas beeindruckt sie.«

»Kann ich mir vorstellen. Danke«, sagte er. »So, und jetzt sollte ich mich wieder an die Arbeit machen.«

»Andy?«, fragte ich.

»Mhm?«

»Geh behutsam mit Kim um. Sie macht im Moment eine ziemlich schwere Zeit durch.«

»Ich weiß«, erwiderte er.