12. Kapitel
Sie standen am Nordstrand und beobachteten, was auf dem Schiff vor sich ging.
Bob, Bama, Bemtoc und Connor.
Alle anderen waren im Dorf geblieben, um am Wiederaufbau zu arbeiten.
Connor schwankte wie eine Palme im Sturm und seine Augen sahen aus wie feuchte Murmeln.
»Das isch ja völlig bekloppt ...«, murmelte er.
Tatsächlich wirkte das Schauspiel verwunderlich. Auf Grund der Entfernung war nur schwer zu erkennen, worum es ging, eines aber war klar: Die Amazonen hatten eine kleine, dicke Person an ein Tau gebunden, an dem der Ärmste über einem Ruderboot hin und her schwang. Dann ließen sie ihn fallen und ihr Lachen wurde vom Wind landeinwärts getrieben.
Bob war erstaunt gewesen, dass die rothaarige Lysa sich dazu entschieden hatte. Zuerst wollte sie so schnell wie möglich die Insel untersuchen, dann jedoch ließ sie sich in einem angelegten Ruderboot zur Wing hinüber setzen. Sie hatte von einem Zwerg gesprochen, der genug gelitten hatte. Was hatte sie damit gemeint?
Eine Strickleiter wurde abgelassen und Lysa, in Begleitung von drei Amazonen, stieg in das Boot. Es legte ab und wurde kraftvoll zum Strand gerudert.
Sie sprangen leichtfüßig ins Wasser und kamen zu ihnen.
»Strafe musste sein – und Spaß auch«, sagte Lysa und lächelte. Dieses Lächeln erreichte ihre Augen nicht, erkannte Bob und ein kühler Schauer zog über seinen Rücken. Obwohl die Amazonen freundlich wirkten und keines der über sie verbreiteten Gerüchte rechtfertigten, haftete ihnen eine unterschwellige Kälte an, die zeigte, dass mit ihnen unter Umständen nicht zu spaßen war.
Es handelte sich um Kriegerinnen, auch wenn sie nicht so rauh waren wie Männer. Sie grölten und lärmten nicht, und behielten ihre Überlegenheit in den eigenen Reihen. Sie strahlten ein stilles Selbstbewusstsein aus, das sie nicht durch aggressive Aktionen bestätigt sehen mussten.
Ein kleiner Mann, dessen Gesicht man unter seinen Haaren und seinem bis zum Gürtel reichenden Bart kaum erkannte, wurde aus dem Boot geschoben. Seine Stiefel wurden nass und er taumelte auf festes Land. Dann streckte er sich und musterte hochmütig die vier Wartenden.
»Mein Name ist Frethmar Stonebrock!«
Ein Zwerg!, dachte Bob. Er hatte nie zuvor einen Zwerg gesehen, aber es musste sich um einen handeln. Er war ebenso groß wie ein Barb, sehr muskulös und in die Breite gewachsen, aber seine Haare waren glatter und fielen weich bis über die Schultern, außerdem trug er einen Bartschmuck, den ein Barbweib bei ihrem Liebsten nie akzeptieren würde.
»Ich glaubs nich ...«, sagte Connor. »Ein Zwerg!«
Frethmar Stonebrock baute sich vor Connor auf, die Hände in die Hüften gestemmt und blickte zu ihm auf. »Hallo Riese! Bist du ein Barbar?«
Bob grinste und war versucht, diese Frage zu bejahen.
Lysa trat dazwischen. »Meine Freundinnen und ich werden uns nun auf die Suche machen. Dieser kleine Mann hat fürchterlichen Hunger und Durst. Er hockte tagelang wie eine Ratte im Lagerraum versteckt. Er bekam seine Strafe und sollte nun versorgt werden.«
Frethmar brummte und senkte den Blick.
Bob lächelte. »Kein Problem. Es ist genug Fleisch am Spieß.«
»Fleisch?«, fuhr Frethmar hoch. »Fleisch am Spieß?« Seine runde Nase glühte, sein Mund zog sich in die Breite und in seine Äuglein schlichen sich Gier und Freude.
»Ich schlage vor, Connor bringt unseren neuen Gast ins Dorf«, sagte Bob. Zu dem Hünen gewandt setzte er hinzu: »Ich glaube kaum, dass du bei unserer Suche eine wirkliche Hilfe bist, nicht wahr? Besser, du wirst nüchtern, mein Freund.«
Connor grinste verlegen.
Bama öffnete den Wasserschlauch. Frethmar trank, rülpste und trank erneut. Wasser sabberte über seinen Bart, aber er endete nicht eher, bis der Schlauch geleert war. Er rieb sich die Lippen mit dem Handrücken trocken und strahlte. »Wunderbar, liebe Leute. Wisst ihr eigentlich, wie wunderbar Wasser schmecken kann?«
Connor brummte: »Dann komm mit, Zwerg!«
»Ich heiße Frethmar.«
»Alles klar, Zwerg!«
Er stapfte unsicher, Frethmar im Schlepp, die Düne hoch und verschwand mit ihm hinter den Büschen.
Bob sah dem ungleichen Paar hinterher. Hatte Connor etwas gegen Zwerge?
Gemeinsam mit Bama, Bemtoc, Lysa und ihren Begleiterinnen, machten sie sich auf.
Bei den Göttern, die Insel war groß. Es gab unzählige Büsche, Felsen, unendlich viele Möglichkeiten, wo man ein Ei verstecken konnte. Dennoch gebot es die Höflichkeit - und die Neugier! - den Amazonen zu folgen.
Eine der Begleiterinnen schloss ihre Augen und hob das Gesicht zum Himmel. Sie murmelte etwas in ihrer Sprache. Alle beobachteten sie. Sie ging vorneweg, wie von einem unsichtbaren Faden gezogen.
Die Suche nahm viel Zeit in Anspruch. Sie drehten Steine um, blickten hinter Büsche, krochen in Höhlen und tasteten sich durch hüfthohes Gras.
»Das gibt es nicht«, fauchte Lysa. »Immer, wenn wir uns am Ziel wähnen, entzieht sich die Schwingung. Das verstehe ich nicht! Das war auf der Zwergeninsel auch schon so. Auch dort schien es auch ein Drachenei zu geben. Wie ein Phantom!«
Die Sonne ging unter, als sie sich zum Dorf der Barbs aufmachten. Die Amazonen diskutierten die ganze Zeit in ihrer Sprache. Stritten sie sich? Lysas Stimme war hin und wieder scharf und sie spuckte die fremdartigen Töne aus wie Gift. Dennoch duckten sich ihre Begleiterinnen nicht, sondern behielten ihre Würde.
»Hier gibt es kein Ei«, sagte Lysa in der Hohen Sprache.
Bob, der vor Anstrengung am ganzen Körper schwitzte, war nur noch in der Lage zu nicken. Er atmete schwer und wünschte sich für einen Moment, er habe so schlanke Beine wie die Amazonen. Er war ein kleiner, stämmiger Barb mit kurzen Beinen, die nicht für lange Märsche geschaffen waren. Nie wieder würde er sich auf so eine Wanderung einlassen. Er suchte nach Worten und keuchte: »Bist du dir sicher?«
Lysa stemmte ihren Bogen in das Gras und schüttelte den Kopf. »Nein, selbstverständlich nicht. Ein großes Rätsel und leider eines, dass ich lösen muss. Sonst werden uns die Männer wegsterben.«
Bob schwieg, auch Bama und Bemtoc. Sie wussten noch manches nicht, waren aber zu erschöpft, um nachzufragen. Alles zu seiner Zeit. Jetzt hieß es: Luft bekommen und den Rückmarsch bewältigen!
Als sie über eine Anhöhe zurück ins Dorf kamen, erwartete sie eine Überraschung.
Die Esse rauchte und Hammerschläge ertönten. Dieser Eindruck war so stark, dass Bobs Herz einen Sprung machte. So war es gewesen, so hatte es gerochen, wenn Burrl seiner Arbeit nachgegangen war, sein Freund, der nie wieder schmieden würde.
Connor schwang den Hammer, neben ihm stand der Zwerg und gab Anweisungen. Der Barbar schwitzte und arbeitete wie versessen. Er schmiedete ein Axtblatt.
Bob gesellte sich dazu. »Was geht hier vor sich?« Er wischte sich Schweiß von der Stirn. Burrl hätte ihm schon längst einen Humpen Bier angeboten! Doch Burrl gab es nicht mehr …
Der Zwerg sagte: »Dieser Riese sagte mir, sein Axtblatt sei weggeflogen, als er sich einer Herde Crocker stellte. Das macht den Ärmsten ganz traurig. Also habe ich ihm erklärt, wie man eine gute Axt fertigt. Er wollte es sich nicht nehmen lassen, das gleich in die Tat umzusetzen. Ist ein verrückter Vogel, dieser Riese. Aber die Arbeit hat ihn wieder ernüchtert.«
Connor blitzte den Zwerg an und hämmerte weiter. Dann tauchte er den geschmiedeten Stahl ins Wasser. Es zischte. Stolz hielt er das Ergebnis in die Höhe und grinste zufrieden. »Ich wusste, ich kann es.«
Bama kam zu ihnen. »Das sieht ja wunderbar aus.«
Börre stand abseits. Ihre Augen waren feucht, ihre Mundwinkel zeigten nach Süden. Bama ging zu ihr und nahm sie in den Arm. »Es tut mir leid, Börre. Burrl hätte sie viel schöner gemacht.«
Börre lächelte dankbar.
»Pah«, mischte sich Frethmar ein. »Da müsstet ihr sehen, was unsere Schmiedemeister können. Dagegen ist dieses Axtblatt nichts, gar nichts. Die schmieden Streitäxte, die es in sich haben. Die funktionieren sogar als Schildhaken. Damit kann man dem Gegner den Schild wegreißen oder festhalten. Gegenüber dem Blatt befindet sich ein Stachel, mit dem man wirkungsvoll die Köpfe der Gegner aufklopfen kann.«
Alle Blicke richteten sich auf ihn. Er rieb sich die Nase. »Äh, das interessiert euch nicht?«
Bob drehte sich zu Connor. »Gut gemacht, Connor. Du hast dich also wieder an etwas erinnert?«
»Aber leider nur daran ...«, antwortete Connor mit nüchterner Stimme. »Dieser Zwerg ...«
»Ich heiße Frethmar!«
»Alles klar, Zwerg! Dieser Zwerg hat mir gute Ratschläge erteilt. Nun können wir Äxte fertigen, die sicher am Schaft halten.« Er fügte die Axt zusammen, schlug ein paar Nägel ein und reichte sie Frethmar. »Hier, Zwerg! Wie ich sehe, hast du keine Waffe. Das ziemt sich nicht für einen deiner Art, soviel ich weiß.«
Frethmar sperrte den Mund auf, sein Blick huschte von einem zum anderen. Unsicher nahm er die Axt entgegen. »Für mich?«
»Halt die Klappe und freue dich! Auch wenn es keine Meisterleistung ist, nicht wahr?«, knurrte Connor.
»Sie ist ... sie ist schön ...«, hauchte Frethmar und begutachtete das Werk von allen Seiten. Er fuhr mit dem Zeigefinger über die Schneide. Glücklich schob er die Axt hinter seinen Gürtel.
»Na gut – das wäre also geklärt«, sagte Bob. »Jetzt habe ich Durst! Der Marsch war anstrengend.«
Börre brachte einen Krug mit Quellwasser und mehrere Becher. Mit traurigen Augen füllte sie ein und alle tranken schweigend.
Erneut hatte Bob das Gefühl, Burrl käme jeden Moment um die Ecke, mit jenem breiten Lachen, das für ihn typisch gewesen war. In ihm war so viel Trauer, dass er nicht wusste, worauf er sich als Nächstes konzentrieren sollte. Rauer als gemeint sagte er: »Nun sollten wir uns zusammensetzen und beraten, was zu tun ist. Die Amazonen haben gemeinsam mit uns die ganze Insel abgesucht – oder jedenfalls einen großen Teil davon und nichts gefunden. Sie sind der Meinung, das Drachei sei nicht auf Fuure.«
Connor wusch sich die Hände.
Gemeinsam gingen sie zum Dorfplatz. Sie setzten sich um ein Feuer, das noch nicht lange brannte. Am Spieß hingen die Überreste des Festmahls.
»Lecker, das war lecker«, sagte Frethmar, der den anderen gefolgt war.
»Er auch?«, fragte Connor und zeigte auf den Zwerg.
Bob lächelte. »Warum nicht? Er scheint ein großer Axtkämpfer zu sein. So einen brauchen wir, wenn wir auf die Suche gehen.«
»Suche?«, wollte Frethmar wissen.
»Später, Zwerg!«, knurrte Connor
»Ich heiße ...«
»Klappe halten!«
Und Frethmar schwieg das zweite Mal an diesem Tag. Er hockte sich neben Connor auf einen Baumstamm. Die Amazonen gesellten sich zu ihnen. »Ihr seid ein fleißiges Volk. An diesem Tag hat sich hier viel verändert. Es sieht aufgeräumter aus.«
»Alles muss seine Ordnung haben«, sagte Bama. »Nur dann fühlen wir uns wohl.« Sie seufzte. »Obwohl das nur ein schwacher Trost ist. Doch die Arbeit hilft gegen die Trauer. Zumindest ein kleines bisschen.«
Die Amazonen lächelten und erneut fehlte Bob der Bezug zu ihren Augen. Aber hatten sie nicht so laut gelacht, dass es weit über das Meer tönte? Vielleicht war das mit den Augen und dem Lächeln eine Eigenart dieser Frauen?
Bemtoc kam hinzu.
»Was tun wir?«, wollte Bob wissen. »Suchen wir weiter?«
Lysa hob die Schultern. »Um ehrlich zu sein, weiß ich das nicht.«
»Wie groß ist die Chance, das Ei doch zu finden?«, fragte Connor.
Lysa sah ihn lange an. »Oh, du kannst ja richtig deutlich sprechen, Barbar.«
Connor grinste schief. »Wie groß ist die Chance?«
Lysa hüstelte. »Sehr gering. Falls das Ei hier ist, wird es von irgendetwas geschützt. Leyla neben mir ist ein Medium. Sie hat noch nie versagt. Heute jedoch ...«
»Nein«, fuhr die kurzhaarige Amazone auf. »Ich habe nicht versagt!« Sie spuckte diese Worte so vehement aus, dass alle zusammenzuckten.
Lysa lächelte und sagte mit milder Stimme: »Sie dachten bestimmt, du würdest die Hohe Sprache nicht beherrschen.«
Leyca zog ein Gesicht. »Wir mögen Kriegerinnen sein, doch ungebildet sind wir nicht.« Sie stemmte ihren Bogen in den Sand. »Es ist wie verhext. Ich spüre das Ei, aber darüber liegt eine seltsame Schwingung. Ich weiß nicht wirklich, wie ich sie beschreiben soll. So war es auch auf Gidweg.« Sie suchte nach Worten. »Wie eine Decke – ein Wohlgefühl – etwas Harmonisches!«
Connor grunzte. »Manchmal fliegt einem eben das Axtblatt weg. Und man kann nichts dagegen tun. Rätsel über Rätsel.«
Lysa verdrehte die Augen und machte eine Kopfbewegung. »Ist der dauernd so?«
Bama sagte: »Den Göttern sei Dank – ja.«
Bierhumpen wurden gefüllt. Die Amazonen tranken Wasser, Connor ebenfalls. Frethmar ließ es sich nicht nehmen, herzhaft zu rülpsen. »Ein guter Trunk«, sagte er und leerte den Humpen mit einem Zug. Er sah sich um. »Ich hab’s schon heute Nachmittag erfahren. Die Drachen waren hier, genauso wie bei uns in Gidweg.«
»Und warum hast du dich dann an Bord der Wing geschlichen?«, fragte Connor. »Braucht man dich nicht in deiner Heimat?«
Frethmar spuckte aus. »Das ist eine andere Geschichte. Später, Barbar!«
Connor zog ein Gesicht.
»Eines ist sicher … Wenn ihr auf die Reise geht, werde ich euch begleiten!«, sagte Frethmar.
»Davon sind wir ausgegangen«, sagte Connor.
»Danke für die Bitte, Riese!«
Connor brummte. »Obwohl wir uns fragen sollten, was dich von deiner Insel vertrieben hat. Bist du ein Mörder oder ein Dieb? Hast du eines Freundes Weib geschwängert oder sonst etwas verbrochen?«
Frethmar zog die Augenbrauen zusammen. »Das Gleiche könnte ich auch dich frage. Wie man mir berichtete, hast du deine Erinnerungen verloren.«
»Du hast deine noch«, gab Connor zurück.
Frethmar verdrehte die Augen. »Es war ein Zufall.« Er berichtet in knappen Sätzen. Auch darüber, dass er ein großer Dichter sei. Eine Ode schreiben wolle. Über den Stolz seiner ungeborenen Söhne sprach er und über die Abenteuer, die dafür zu bewältigen waren. Die Schlägerei ließ er aus. Alle lauschten. Einige lächelten. In anderer Situation hätten sie vermutlich laut gelacht und lustig gezecht. Nun war alles gedämpft.
Sie redeten noch eine ganze Weile. Ideen flogen hin und zwei Tagen am Nachmittag würden sie in Richtung Dandoria aufbrechen. Sie würden nach Bluma suchen, nach den Drachen und nach dem Drachenei.
Und Rache nehmen?
Wieder verjagte Bob diese Idee. Nein, das war eines Barb unwürdig. Und woher kam dieser Zorn, der sich manchmal kaum bändigen ließ? Würde der Zorn nach erfolgter Rache entschwinden? Darüber würde er nachdenken müssen.
In zwei Tagen würde sich sein Leben verändern.
Er, Bama und Bemtoc waren die ersten Barbs, die Fuure verließen, die ersten Barbs, die aufs Meer fuhren. Sie würden Geschichte schreiben.
Auf alles das würde Bob liebend gerne verzichten, wäre das Leben wieder wie einst. Wäre Fuure wieder die Welt, in der alles – wie hatte er gedacht, als er vor dem Unglück über die Insel geschaut hatte? – in der alles gesund war.
Er sah seine Gefährten an, deren Gesichter im Feuerschein flackerten.
Bama, seine Liebste, Bemtoc der Heiler, Connor der Barbar, Lysa die Amazone, und Frethmar der Zwerg.
Sie waren sechs Gefährten.
Sie würden auf eine lange Reise gehen.
Bluma erwachte. Sie hatte tief und fest geschlafen, das erste Mal nach vielen Tagen. Sie vermutete, dass Tage vergangen waren, seitdem die Drachen sie nach Unterwelt entführt hatten. Genau wusste sie es nicht, da es hier keine Sonne gab und keine Nacht.
Sie erinnerte sich an ihre Panik und ihre Verzweiflung, als die gigantischen Drachenklauen sie packten und über ihr Dorf wegtrugen. Unter ihr brannten Hütten und Bäume, überall lagen Tote und ihr Bobba, wie die Barbs ihre Väter nannten, schrie weinend und bedauernswert, der Drache möge seine Tochter wieder freigeben. Der Drache solle stattdessen ihn nehmen.
Wollten die Drachen sie fressen?
Trugen sie ihr Opfer ins Drachennest, um sich mit ihr aufs schrecklichste zu vergnügen?
Nein, so war es nicht.
Sie wurde nach Unterwelt gebracht.
Sie wunderte sich, dass ihr Herz nicht einfach ausgesetzt hatte. Liebe Güte, sie war ein junges Weib, knapp vor jener Zeit, da sie sich einen Kerl suchen konnte. Viele nannten sie ein ... Kind! Das passte Bluma zwar nicht, ließ sich jedoch nicht immer vermeiden. Und wie ein Kind hatte sie sich gefürchtet.
Ich will nach Hause!
Ich sterbe vor Angst!
Bitte, bitte, lasst mich gehen!
So hatte sie empfunden. Auch ihr überragender Scharfsinn hatte ihr nicht geholfen, die tiefen Ängste zu verdrängen, hatten sie im Gegenteil vertieft. Nie würde sie den Flug durch die fettig glänzenden, pulsierenden Röhren vergessen, die schreienden Fratzen, die geifernden Mäuler und die tastenden Tentakel. Sie würden Bluma bis in ihre tiefsten Träume begleiten.
Warum hatten die Drachen sie nach Unterwelt entführt?
Sie meinte, eine Ahnung zu haben, schließlich hatte sie zwei Begegnungen mit Murgon gehabt, dem Herrscher dieser Hölle, eine persönliche und eine Vision.
Darius strich mit der Hand über die Schwertklinge. Zwei davon hatten sie den Verfolgern abgenommen. »Gute Waffen«, murmelte er. Er sah zu Bluma.«Bist du wach?«
Sie rieb sich die Augen und grinste schief. »Es dauert noch.«
Er nickte. »Das glaube ich dir. Du hast sehr viel erlebt. Deine Seele und Körper brauchen Ruhe.«
»Danke, dass du mich nicht gefressen hast.«
Er grinste. »Erstaunlich, nicht wahr? Nicht immer kann man vom Äußeren auf das Innere schließen.«
Bluma reckte sich.
»Hast du eine Ahnung, warum die Drachen euer Dorf überfielen?«, fragte Darius. Er sah sie mitfühlend an.
Bluma schüttelte den Kopf. »Ich glaube zu wissen, warum ich entführt wurde.«
»Warum?«
»Murgon ist im Besitz eines Artefaktes. Ein Behältnis, das man nur öffnen kann, falls man ein Rätsel löst. Öffnet man es gewaltsam, zerstört sich die Kiste.«
»Und dafür benötigt er dich?« Darius blinzelte und zog die Augenbrauen zusammen. Er stellte das Schwert zur Seite. Er reckte den Kopf, als lausche er. Zufrieden nickte er. Sie hatten sich in eine kleine Höhle zurückgezogen. Eine mit Hinterausgang. »Murgon ist ein mächtiger Dunkelelf. Er verfügt über unfassbare magische Kräfte. Warum sollte er ein Barbkind entführen lassen?«
Ich bin kein Kind!
»Ich wusste immer, dass ich über besondere Intelligenz verfüge. Manchmal hielt ich mich für fremd. Dann wieder wollte ich so sein wie alle anderen. Ich denke anders als mein Volk. Die denken geradeaus, ich denke um die Ecke, falls du verstehst, was ich meine.«
Darius lächelte.
»Ich glaube, Murgon braucht meinen Verstand, um das Rätsel zu lösen.«
»Unfassbar ...«, murmelte Darius.
»Ja, nicht wahr? Mythenland ist voller Magier und Gelehrte, und er braucht ausgerechnet mich.«
»Du sagtest, Murgon sei dir in einer Vision erschienen.«
»Und ich sah das Artefakt.« Sollte sie ihm sagen, dass sie das Rätsel, jedenfalls in ihrer Vision, in kürzester Zeit gelöst hatte? Konnte sie ihm vertrauen?
Bei den Göttern, er war ein Dämon. Jederzeit konnte er sich verwandeln, seine freundliche nette Gestalt gegen die eines schwarzen Titanen tauschen, aus dessen rote Augen Blitze schossen.
Andererseits war er wegen dieser Gestaltwandlungssache eingekerkert worden und hatte sie gerettet.
»Ich sah das Artefakt in meiner Vision und konnte das Rätsel mühelos lösen.«
Darius riss den Mund auf. Dann fasste er sich. »Weiß Murgon davon?«
Oh nein! So war es immer gewesen. Sie war zu eitel, zu stolz auf ihre Fähigkeiten. Nun hatte sie sich verplappert.
Darius blinzelte. »Du kannst mir vertrauen, kleine Barb.«
Ich bin nicht klein!
»Wir werden aus Unterwelt verschwinden und ich lasse dich nicht alleine. Du hast vor mir nichts zu befürchten. Auch in Dämonengestalt stelle ich für dich keine Gefahr dar.«
»Nein, ich glaube nicht, dass Murgon es weiß. Es sei denn, er hatte dieselbe Vision. Keine Ahnung! Das alles ist schrecklich neu für mich.«
»Das verstehe ich. Und glaube mir, für mich ist es genauso neu.«
»Für dich? Neu?« Sie blinzelte. »Jack sagte, du hättest gegen den Dunkelelf gekämpft und ihn besiegt.«
»Ich habe ihm einige seiner Kräfte genommen, das stimmt. Ich wollte mich nicht unterwerfen lassen. Doch seine Schwester Gwenael setzte mich mit einem mentalen Trick außer Gefecht.«
»Du bist ein Dämon, wenn du dich verwandelt hast. Ist es nicht deine Aufgabe, dich dem Lord der Unterwelt zu unterwerfen?«
»Wo steht das geschrieben?«
Bluma schwieg und senkte den Blick.
Darius legte ihr seine warme Hand auf die Schulter und mit der anderen hob er ihr Kinn. »Schau mich an, Kleine. Auch für mich ist das hier ein großes Rätsel. Normalerweise wird man zum Dämon, wenn man gestorben ist und dann nur, wenn man ein entsprechend übles Leben geführt hat. Bei mir jedoch stellt sich das anders dar.«
»Meinst du nicht, jetzt ist es an der Zeit, dass du mir etwas über dich erzählst?«
»Später, kleine Barb.«
Ich bin nicht klein!
»Durch welchen Eingang kamst du nach Unterwelt?«, fragte Darius.
»Eingang?«
»Ja ...«
»Als die Drachen mich herbrachten, flogen wir ins Meer und durch einen grausigen Tunnel. Ich frage mich sowieso, wie wir beide diesen Weg zurück bewältigen sollen?«
Darius grinste. »Es gibt einen zweiten Ausgang. Niemand weiß davon, doch ich kenne ihn.«
Bluma riss die Augen auf. Alles hier war zu viel für sie. Obwohl sie sich verzweifelt bemühte, ihre Furcht zu verdrängen, obwohl sie sich gegen den aufsteigenden Irrsinn wehrte, tasteten bereits eisige Finger über ihren Körper und bohrten sich immer tiefer in ihren Verstand. Nichts würde je wieder so sein wie zuvor, das ahnte sie. Dieses Erlebnis hatte sie verändert. Was würde von ihr übrig sein, wenn ...
Darius unterbrach ihre Gedanken. »Bevor ich dir von mir erzähle, wollen wir sehen, dass wir etwas zu Essen finden. Oder hast du keinen Hunger?«
Blumas Magen knurrte.
Darius lachte. »Das ist Antwort genug.«
Connor hatte ein Schwert geschmiedet. Er zog es aus dem dampfenden Trog und legte es zur Seite. Frethmar Stonebrock, der Zwerg, trat zu ihm.
»Hallo Barbar«, brummte Frethmar und zupfte an seinem Bart.
»Quatscht du wieder nach, was Bob dir vorsagt? Niemand weiß, ob ich ein Barbar bin.« murrte Connor.
»Mann, schau dich doch an. So einer wie du kann nur ein Barbar sein.« Er grinste. »Andererseits – manchmal redest du wie ein halbwegs gebildeter Mann und das passt nicht zu den hochgeschätzten Grunzlauten deines Volkes.«
Connor grinste. »Stirbst du, muss man dein Maul separat begraben.«
»Siehst du? Da haben wir es wieder. Separat! Das passt irgendwie nicht. Welcher Barbar kennt ein Wort wie separat?«
Connor nahm das Schwert auf und hielt es zum Spaß in Frethmars Richtung. Dieser zog ein Gesicht und strich über die Klinge seiner Streitaxt, die von Connor geschmiedet worden war. »Und was bedeutet ‚separat‘, Barbar?«
»Abgetrennt, du Narr!« Connor schwang das Schwert, als wolle er dem Zwerg den Kopf abschneiden. Dieser bückte sich unter dem langsam geführten Schwung weg, stolperte und fiel auf den Hintern.
»Na, gibt’s mal wieder Streit?«, ertönte eine tiefe Stimme. Bob erschien auf der Bildfläche.
»Wie kommst du darauf?«, wollte Frethmar wissen, der sich aufrappelte und den Staub von seiner Kleidung klopfte. »Ich bewundere die Schmiedekunst unseres blonden Riesen. Wie er den Stahl faltet, hat eine ganz besondere Qualität. Na gut, so perfekt wie unsere Schmiedemeister in Trugstedt macht er es nicht ...«
»Dann kannst du mir deine Axt ja zurückgeben!«, fuhr Connor ihn an.
»Für’s Erste wird sie es tun, Barbar. Mal sehen, wie sie funktioniert, wenn sie in Blut getauft wird. Vielleicht kann ich ihr dann einen Namen geben.«
»Mmpf«, brummte Bob. »Da kommt Lysa.«
Die rothaarige Amazone schritt über den Dorfplatz. Sie trug ihren Bogen über der Schulter und einen gefüllten Köcher mit Pfeilen. Ihre Kleidung war aus weichem Leder, unter dem kurzen Rock blitzten braune schlanke Beine in der Morgensonne.
»Heute brechen wir auf«, sagte sie.
Frethmar duckte sich unmerklich. Er hatte nicht vergessen, dass er unter der Führung der Großen Lysa für sein Verbrechen, ihr Schiff zu betreten und sich dort zu verstecken, bestraft worden war.
Frethmar war erleichtert gewesen, immerhin verfügten diese Frauen über Humor ... und zwei Brüste! Frethmar hatte gehört, Amazonen brannten ihren kleinen Mädchen die rechte Brust ab, damit diese den Bogen besser spannen konnten, fraßen männliche Babys und hielten sich ihre Begatter als Sklaven. Offensichtlich, den Göttern sei Dank, hatten die Überlieferungen nicht in allem Recht.
Bob knurrte. »Das ist komisch. Ich verlasse mein Dorf. Ich verlasse Fuure und werde das Gefühl nicht los, meine Leute im Stich zu lassen.«
»Niemanden lässt du im Stich. Fast alle im Dorf geben dir recht. Sie würden sich nicht anders verhalten«, sagte Connor.
»Niemand garantiert uns, dass Bluma noch lebt. Vielleicht renne ich einem Trugbild hinterher. Einem Traum.«
»Das mag sein, Bob«, sagte Connor. »Dennoch besteht eine Chance. Nutze sie. Nun brauchen wir kein Schiff bauen, sondern wir haben eins.«
Lysa sah den Hünen an und schwieg.
Connor grinste. »Seht ihr? Die Große Lysa ist ganz meiner Meinung.«
Die Amazone verdrehte die Augen.
Bob blickte sie an. »Und was ist mit dem Drachenei? Du brauchst es unbedingt. Dein Volk wartet auf dich.«
»Ja, so ist es. Doch was sollen wir tun? Die Insel umgraben? Sie hochnehmen und ausschütteln wie eine Jacke?«
»Mmpf! Das tut mir leid.«
»Ich weiß, Häuptling.« Sie blickte trübe, drehte sich um und schritt davon.
Connor streckte die Füße aus und bewunderte die Stiefel, die Burrold ihm angepasst hatte. Weiches Leder, dennoch fest und sehr bequem.
»Es stinkt auf der ganzen Insel!«, murrte Frethmar.
Connor zog ein Gesicht. »So ist das, wenn gegerbt wird, Zwerg.«
»Ich heiße Frethmar.«
»In Ordnung, Zwerg!«
»Barbar, wir auf Gidwerg gerben nicht selbst, wir bekommen unser Leder aus Dandoria geliefert.«
»Auch Drachenhaut?«
Frethmar schüttelte den Kopf stützte sich auf den über Feuer gehärteten Stiel seiner Axt. »Trotzdem stinkt es!«
Drachenhaut war sehr selten und nur schwer zu bearbeiten. Normalerweise bestand Tierhaut aus Ober, Leder- und Unterhaut. Bei Drachenhaut verhielt es sich so, dass die Oberhaut durch Schuppen gepanzert war, die Lederhaut sehr dick war und die Unterhaut feuerfest und magisch. Alleine die Entschuppung und der Hautaufschluss waren eine mühevolle Sache. Dafür benötigte man Kalkmilch aus Dandoria, von denen einige Fässer den Drachenüberfall überstanden hatten, da die Barbs sie in einer Höhle lagerten. Nicht dieser Herstellungsschritt war es, der so bestialisch stank, sondern das Gerben an sich.
Hier wurde mit Laugen gearbeitet, über deren Zusammensetzung man besser den Mantel des Schweigens deckte. Da die Barbs keine Salzgrubengerbung durchführten, war der Vorgang ziemlich schnell abgeschlossen, was jedermann auf Fuure befürwortete, da es stank, als habe man alle Kloaken von Mythenland in eine einzige Grube entleert.
An diesem Tag entstand so Stück für Stück Drachenleder, nicht so perfekt wie das der Elfen, nicht so weich wie das der magischen Meister, dennoch von guter Qualität – und was am wichtigsten war – kaum zerstörbar und sehr schützend. Derzeit trockneten viele Stücke in der Sonne.
Es ging auf Mittag zu, als der Gestank sich endlich verzog und Schuster Burrold, der außerdem als Näher arbeitete, ein Problem erkannte, an das er nicht gedacht hatte. Ob er es mit der Querahle oder der Ziehklinge versuchte, im fertigen Zustand hatte er keine Möglichkeit, die Lederbögen zu bearbeiten. Sie waren zu stabil.
Mit Bluma wäre das nie passiert!, dachte Bob. Seine Tochter hätte dieses Problem bemerkt, bevor der elende Gestank die Insel verpestete und vielleicht sogar eine Lösung gefunden.
Bob war dankbar, dass es so viel zu tun gab. Das lenkte ihn und Bama von ihren düsteren Gedanken ab. So dachten sie nicht andauernd an Bamba, ihren kleinen Sohn, der bei dem Drachenüberfall gestorben war und an Burrl, ihren besten Freund, der vor Bobs Augen im Drachenhauch verbrannt war.
Wo war Der Ärger geblieben, diese düstere Schwingung, die dazu geführt hatte, dass sich jeder Barb auf Fuure an die Gurgel ging und es sogar einen Mord gegeben hatte? Gab es ihn nur dann, wenn Sonnenschein im Herzen war? Dann hatte er derzeit keine Möglichkeit, seine Düsterheit zu wirken, denn ungeachtete des Fleißes, mit dem die Barbs ihr Dorf wieder neu errichteten, war jene Heiterkeit und Lebensfreude, die einen Barb ausmachte, nicht zurückgekehrt.
Und dann war da die Sache mit dem Drachenei.
Lysa, die Amazone, hatte Stein auf Bein geschworen, dass sich auf Fuure ein Drachenei befände, da ihre Seherin dieses spürte. Gestern und vorgestern hatten Lysa und ihre Gefährtinnen die Insel abgesucht, doch nichts gefunden.
Es wurde Zeit, abzureisen. Lysa hatte sie heute Morgen aufgefordert. Sie würden am Nachmittag auslaufen. Währenddessen war die Wing um die Insel nach Süden gebracht worden.
Die Amazonen, Connor und der Zwerg, brachten Unruhe in das Dorf. Wenn alles wieder so sein sollte, wie einst, mussten die Barbs unter sich sein, ihren Ritualen folgen. Zwar hatte Lysa angeboten, drei ihrer Begleiterinnen als Schutz und Hilfe im Dorf zu lassen, doch letztendlich hatte Bob dies abgelehnt. Sie waren Barbs und sie würden ihren eigenen Weg finden.
Alleine!
Und mit der Hilfe der Götter!
»Es gibt in Dandoria Spezialisten, die Drachenleder verarbeiten«, sagte Lysa und rümpfte die Nase.
»Ja, es stinkt«, sagte Bob und versuchte, ihr das Rümpfen nachzumachen. »Für die Vorgerbung braucht man Holzasche, das ist geruchlos.« Er machte eine verzweifelte Geste. »Von Holzasche haben wir ja jetzt ausreichend. Aber die Hauptgerbung ist kaum zu ertragen.«
»Wir nehmen das Leder mit, trocknen es an Deck und lassen es in Dandoria schneidern.«
»Von wem?«, fragte Bob.
»Dort gibt es Männer, die mit Magie schneidern.«
Bob gab die entsprechenden Befehle und das teilweise noch feuchte Leder wurde zum Strand gebracht, wo es in ein Boot geladen wurde, dass es zur Wing brachte. Das waren vermutlich die letzten Anweisungen für eine lange Zeit, wurde Bob klar. Mit jedem Herzschlag, den die Abreise näher rückte, steigerte sich seine Nervosität. Ihm wurde klar, dass sein Leben und das seiner Bama einen Riss bekam.
Später saßen sie auf dem Dorfplatz um einen Spieß, an dem sich eine fette Crockerkeule drehte. Bier wurde ausgeschenkt, Quellwasser, Früchte und Erdknollen, die in heißem Wasser weichgekocht worden waren.
Bama lehnte ihren Kopf an Bobs Schulter. Bob ahnte, dass sie nicht nur um ihre Kinder trauerte, sondern weil sie ihre geliebte Insel verlassen sollte. Noch nie war ein Barb aufs Meer gefahren.
Er streichelte ihren Rücken.
»Wie geht es dir?«, flüsterte sie.
»Grauenvoll«, flüsterte er zurück. »Trotzdem weiß ich, dass wir das Richtige tun.«
»Ja.« Mehr sagte sie nicht, doch das genügte, um Bobs Stimmung etwas aufzuhellen.
Connor steckte sein Schwert in die Lederscheide, die er am Gürtel befestigt hatte. Seine Hand lag auf dem Heft aus Wareikenholz. Er saß mit starrer Miene zwischen ihnen wie ein Turm. Frethmar hatte sich von Burrold eine Lederhaube für seine Axt fertigen lassen, damit sich niemand versehentlich verletzte. Die Waffe lag auf seinen Knien. Er strich mit der Handfläche darüber und summte zwischen den Schlucken aus seinem Humpen vor sich hin. Lysa hob den Bogen über ihren Kopf und lehnte ihn an einen Holzklotz, da er sie am Sitzen hinderte. Ihre Begleiterinnen taten es ihr nach.
»Und wir sollen wirklich niemanden von uns hier lassen?«, fragte Lysa.
»Das ist ein großzügiges Angebot«, brummte Bob. »Ich habe darüber geschlafen. Ich glaube, es stärkt das Selbstbewusstsein meiner Leute, wenn sie den Aufbau alleine schaffen.«
Die Amazone nickte. »Das verstehe ich.«
Bemtoc, der Heiler, fragte: »Und ich darf nicht mitreisen? Das hörte sich vorgestern noch anders an.«
»Man benötigt dich hier«, sagte Bama. »Du bist der beste Heiler auf Fuure. Beim Neuaufbau kann viel geschehen.«
Bemtoc grinste schief. »Und was ist, wenn ihr in Gefahr kommt? Was ist, wenn euch etwas zustößt? Wer ist dann für euch da?«
Lysa sagte: »Wir haben eine Heilerin an Bord.«
Bemtoc grunzte. »Ihr habt Recht. Stellt euch vor, einem fällt ein Holzbalken auf den Fuß oder jemand bricht sich ein Bein? Dann bin ich gefragt.«
Bob lächelte und schlug seinem Freund auf die Schulter. »Du bist ein einsichtiger Barb, mein Lieber. Keine Sorge, wir werden uns bald wiedersehen.«
In Bemtocs Augen standen Tränen und Bob ahnte, dass der Heiler an diese Worte nicht glaubte.
»Wir kehren zurück und bringen Bluma mit«, stimmte Bama bestätigend ein.
»Klar werden wir das«, sagte Connor. Seine blauen Augen leuchteten unter blonden langen Haaren. Das kantige Kinn strahlte Zuversicht aus.
»Und wenn wir sie aus Fels schneiden müssen«, fügte Frethmar hinzu und strich über seine Axt.
»Fels schneiden?«, fragte Connor.
Frethmars Nase wurde rot und der Rest des Gesichts vermutlich auch, doch der verschwand unter seinem Bart. »Na ja – oder aus den Klauen von grausigen stinkenden ...«
»Halt die Klappe, Zwerg!«, sagte Connor.
Frethmar murrte und schwieg.
Sie aßen bedächtig. Ihnen war bewusst, dass ihre Reise Gefahren barg. Bob und Bama war nicht wohl bei dem Gedanken, sich einem schwankenden Stück Holz mit Segeln anzuvertrauen. Connor, der nach seinem Gedächtnis suchte, wusste nicht, was ihn außerhalb dieser Inselwelt erwartete. Und Frethmar ahnte, dass Spaß und Trunk ein Ende hatten.
Bob schien es, als hätte niemand Lust, die Runde aufzuheben. Sie kauten und tranken und warteten, die Sonne zeigte den Nachmittag an und noch immer rief niemand zum Aufbruch.
»Es ist Zeit«, sagte Lysa. »Wir wollen vor Sonnenuntergang weg sein.«
»Warum nicht morgen früh?«, fragte Bemtoc und Börre nickte. Sie fügte hinzu: »Ihr könnt genauso gut im Morgengrauen aufbrechen. Dann habt ihr den Tag vor euch.«
Bob schickte Lysa einen fragenden Blick. Die Amazone schüttelte den Kopf. Warum sie diesen Abreisezeitpunkt geplant hatte, war ihr Geheimnis.
Das gesamte Dorf begleitete die Reisenden zum Nordstrand. Bob und Bama, ebenso wie Frethmar und Connor, trugen ihre wenige Habseligkeit in Reisebeuteln. Bama stützte sich auf ihren Carnusstab, Bob trug Burrls Hammer im Gürtel. Jeder hatte Messer und Dolch im Gepäck, Werkzeuge, mit denen sie Früchte schälen, jedoch niemanden töten wollten.
Die Wing schickte zwei Ruderboote zum Strand.
Die Gefährten kletterten hinein und blickten zu den schweigenden Dorfbewohnern.
Lehrer Biggert trat vor, neben ihm Bemtoc. »Wir werden unser Dorf aufbauen!«, sagte der hagere Barb mit fester Stimme. »Wenn ihr zurückkommt, wird alles wieder gut sein. Findet Bluma und löst jedes Rätsel, das euch auf eurer Reise festhalten will. Denkt immer daran, wer ihr seid. Bross, der Gott der Winde und Broom, der Gott des Lebens, haben uns hier abgesetzt, damit wir ein glückliches Leben führen. Die Drachen haben unser Leben verändert. Gleichwohl sind und bleiben wir Barbs. Wir pflücken die Wareiken, was niemandem in ganz Mythenland mit reiner Muskelkraft gelingt ...«!
Er machte eine kleine Pause. »Es gelang uns sogar, einen Drachen zu töten! Wer so etwas vermag, ist stärker als er aussieht und tapferer als man meint. Noch nie ging ein Barb auf eine Reise, nie aufs Wasser. Ihr werdet Geschichte schreiben, liebe Freunde, lieber Bob, liebe Bama. Wir alle warten auf euch, wir warten auf eure neuen Lieder, wir warten auf Bluma.«
Die Barbs jubelten los und klatschten in die Hände.
Bama weinte und Bob hatte einen Kloß im Hals. Er überlegte, ob er seine Rolle als Häuptling bis zuletzt ausfüllen und etwas sagen sollte. Er schwieg. Frethmar schnäuzte und Connor räusperte sich. Lysa lächelte freundlich. Ihre Begleiterinnen ruderten los und der Strand entfernte sich.
Die Barbs winkten, riefen gegen den Wind, sprangen auf und ab und bald verwehten ihre Stimmen.
Bemtoc blickte den weißen Segeln der Wing hinterher.
Nun trugen er und Biggert die Verantwortung für das Dorf. Sie hatten es Bob und Bama versprochen. Sie würden sich um das Volk der Barbs kümmern. Sie würden dafür sorgen, dass nach der Rückkehr ihres Häuptlings – und sollte es Zyklen dauern – nichts mehr an den Drachenüberfall erinnerte. Biggert war vorgegangen und verschwand mit den Dorfbewohnern hinter der kleinen Hügelkette, wo ein Weg zum Dorf führte.
Bemtoc wischte sich die Augen trocken. Bob und Bama würden ihm fehlen, auch der freundliche Barbar und sogar ein bisschen der Zwerg. Mit den Amazonen hatte er sich nicht so recht anfreunden können, doch sie hatten immerhin seinem Häuptling und Connor das Leben gerettet.
Boik, ein kleiner Barb, dem er vor acht Zyklen ans Lebenslicht geholfen hatte, kam angerannt. »Sind sie weg?«, quietschte er.
»Wo warst du?«, fragte Bemtoc.
»Ich hab gespielt. Warum hat mich keiner gerufen?«
Bemtoc schüttelte den Kopf. »Es immer das gleiche mit dir. Boik, der frechste Schüler der Klasse, braucht eine Sonderaufforderung, nicht wahr? Ich sollte mal wieder ein Gespräch mit Lehrer Biggert führen. So geht das nicht weiter, mein Lieber. Immerzu träumst du oder blickst den Vögeln hinterher. Jetzt sind sie weg. Wenn du genau hinschaust, siehst du die Segel des Schiffes. Es wird gleich hinter den Felsen verschwinden.«
Der Kleine warf etwas in den Sand und schützte seine Augen gegen die Sonne. Er zog eine Schnute. »So ein Mist. Ich hätt dem dicken Bob ...«
»Häuptling Bob«, korrigierte Bemtoc und verkniff sich ein Grinsen.
»Ich wollt Häuptling Bob gern was schenken.«
Bemtoc kniete sich hin und stützte seine Hände auf den runden Stein, den der Junge hatte fallen lassen. »Und was?«
»Das da!« Der Junge zeigte auf den Stein.
Bemtoc nahm seine Hand zurück. »Was soll Häuptling Bob damit?«
»Der ist nich so schwer als wie normal«, quietschte Boik. Sein breites Gesicht strahlte begeistert. »Eigentlich ist er ganz leicht. Sowas hab ich noch nie gefunden. Ich hab einen Hammer draufgehauen, doch der Stein ist nich kaputt gegangen. Ich glaub, dass er etwas Besonderes ist. Vielleicht was magisches oder so was.«
Bemtoc hob den Stein hoch und ein Blitz fuhr durch seinen Körper. Er betrachtete das Ding von allen Seiten und seine Kinnlade klappte herunter.
»Ist was damit? Ist es was Magisches?«, fragte Boik besorgt.
»Nein«, ächzte Bemtoc. »Nein, mein Kleiner. Der Häuptling hätte sich über dein Geschenk gefreut ... und vor allen Dingen Lysa, die Amazone!«
Er stemmt sich hoch, drückte den Rücken gerade und starrte aufs Meer hinaus. Die Wing war verschwunden, und die Barbs hatten nur ein Fischerboot, mit dem sie den Schoner niemals einholen konnten.
Es war unglaublich.
Vor seinen Füßen im Sand lag das weiße Drachenei!