8. Kapitel

 

»Warum, ich?«, fragte Ronius. »Ich bin nicht stärker als andere meines Volkes.«

Sein Lehrer, ein kantiger Riese, den alle Gratos nannten, lächelte und sagte: »Du bist deshalb bei uns, um bei diesem irrsinnigen Geschäft zu gewinnen. Niemand dachte je daran, dass diese Hohlköpfer aus den Sumpflanden ein solches Geschäft vorschlagen. Gewinnst du, werden wir fünfhundert Jahre Frieden haben. Mein lieber Ronius – dafür lohnt es sich zu kämpfen.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, sagte Ronius. Warum ich?«

»Wir alle sind stark, aber zu langsam, zu behäbig, andere wieder zu schmal. Doch Schau dich an, mein Freund. Muskulös, tapfer und geschmeidig. Nur du kannst gewinnen. Also tue es!«

Dieser letzte Satz genügte. Also tue es!

Es klang, als hätte Gratos damit alles erklärt. Doch Ronius nahm es nicht einfach hin. »Du weißt, dass Sumpfer auf Leben und Tod kämpfen?«

Gratos nickte.

Ronius fuhr fort: »Das bedeutet, ich muss meinen Gegner töten. Das kann ich nicht, werde ich nicht. Wir Steiner töten nicht!«

»Es geht um fünfhundert Jahre Frieden, mein Junge.«

Ronius schüttelte sich. »Und diese Verantwortung soll ausgerechnet ich tragen?«

»Wer sollte es sonst tun?«

Ronius wären viele andere Riesen eingefallen, aber er schwieg und biss die Zähne zusammen. »Wir haben keine andere Chance, nicht wahr?«

»Nein, die haben wir nicht.«

Ronius schüttelte den Kopf. »Ich bin noch jung und habe ein langes Leben vor mir …«

»Nicht, wenn die Sumpfer uns angreifen und niedermetzeln. Wir sollten froh sein, dass uns diese Narren den Vorschlag gemacht haben. Nur du, mein Freund, kannst diesen Kampf gewinnen!«

Es gab keinen Ausweg. Ronius würde kämpfen müssen. Er würde seine Überzeugungen dem Frieden opfern müssen.

»Einverstanden. Fangen wir an, Gratos.«

 

 

Ronius vertilgte Unmengen Fleisch und stemmte Bäume und Felsen, bis seine Muskeln zu platzen drohten. Er stemmte so lange, bis er zusehen konnte, wie sich sein Körper veränderte. Riesen neigten zur Fettleibigkeit, was an ihrer Ruhe und Behäbigkeit lag. Ronius lief durch das Tal, erklomm die Berge, immer wieder rauf und runter, wie Menschen eine Treppe benutzen würden. Er verdrehte seinen Körper, beugte sich, streckte sich und wurde geschmeidig wie eine Birke. Er riss mit bloßen Händen Steinbrocken aus dem Fels und schuf Höhlen, in denen Kinder spielen konnten. Was Schwierigkeiten machte, waren die Kampfübungen.

Die besten Holzer schnitzten für Ronius aus Wareikenholz eine Keule, wie man sie noch nie gesehen hatte. Glatt und gut ausgewogen, mit einem Kern aus Stein. Wareikenholz war hart wie Stahl. Am Rande des Tales gab es einige dieser Bäume, die normalerweise nur weiter im Westen auf einer kleinen Insel wuchsen. Hatten die Götter die Samen in das Tal der Riesen geweht?

Keiner der Steiner wusste wirklich, wie man kämpfte, dennoch hatte Gratos eine ungefähre Ahnung davon. Sie beide rangen, bis das Tal bebte.

Ronius’ Reaktionen wurden schneller. Bald erkannte er einen Angriff seines Lehrers im Blitzen seiner Augen. Er wich aus, huschte davon, drehte sich um die eigene Achse und der Baumstamm, den er als Waffe benutzte, traf den Alten in den Magen.

Keuchend sank dieser in die Knie und Tränen des Schmerzes rannen über seine breiten Wangen. »Gut gemacht …«, stöhnte er. »Aus dir wird ein Kämpfer!«

Ronius wirbelte wie ein Tänzer und seine Keule durchschnitt surrend die Luft.

Das schlimmste und schmerzhafteste am Training waren die Fallübungen. Auf Grund des hohen Gewichtes eines Riesen war ein Sturz nicht ganz ungefährlich. Es konnte zu Knochenbrüchen kommen oder die Innereien wurden gequetscht. Also galt es fallen zu lernen. Ronius begann, während er hockte. Er ließ sich zur Seite fallen und rollte sich ab, um wieder auf die Beine zu kommen. Langsam erhöhte er das Risiko, bis er zwar blaue Flecken hatte, aber einen oder mehrere Stürze gefahrlos bewältigte.

Er wurde behandelt wie ein König. Um nichts musste er sich kümmern. Weiber machten ihm schöne Augen, Kinder bewunderten ihn und ahmten ihn nach.

Die Alten nickten zustimmend und Gratos schritt mit geschwollener Brust durch das Tal. »Er ist mein Schüler! Er wird uns retten!«

Hin und wieder, wenn Ronius nicht schlafen konnte, dachte er über die Verantwortung nach, die auf seinen Schultern lag. Er hatte diese Verantwortung weder gewollt noch gesucht. Manchmal blitzte der Gedanke auf, er könne den Kampf verlieren. Es wäre seine Schuld, wenn die Steiner versklavt wurden. Aber auch, wenn es so sein sollte, würden nur wenige sterben, da sie sich ergeben würden. Ein Gemetzel hingegen würde zu einem Massaker führen.

Vielleicht waren die Sumpfer doch nicht so dumm, wie man annahm. Wussten sie, dass ihnen die Steiner wertvoller waren, wenn sie ihnen dienten? Was nützte es ihnen, ein Volk auszurotten?

Das alles waren Annahmen. Es führte kein Weg an seiner Verantwortung vorbei. Er musste sich darauf konzentrieren. Nur so konnte er seinem Volk für fünfhundert Jahre den Frieden sichern.

Mit diesen Gedanken schlief er ein und ein bitteres Lächeln lag auf seinen Lippen.

 

 

Das Wohl eines ganzen Volkes lag auf seinen Schultern. Denn auch Steinriesen hielten sich an Kontrakte! Sie würden sich, verlor Ronius den Kampf, ergeben.

Mit diesem Wissen ging Ronius in diesen Kampf.

Und der Traum setzte dort fort, wo er abgerissen war.

Ronius ahnte nicht, was ihn erwartete und war erstaunt, wie schnell er die Oberhand gewann.

Er war in den Kampf zurückgeschleudert worden.

War wieder im nebeligen Gebiet der Sumpfer, wo es nach Aas und Verderben stank, nicht nach Blüten, Wasser und Frische wie im Tal der Riesen. Eine üble düstere Atmosphäre. Steiner und Sumpfer bildeten eine undurchdringliche Mauer rund um den Kampfplatz. Sie zischten und rempelten sich an und nicht wenige Sumpfer machten kein Hehl daraus, dass sie am liebsten ihre Keulen gezogen hätten, um alles an Ort und Stelle zu beenden.

Doch es gab den Kontrakt.

Ronius konzentrierte sich auf seinen Gegner.

Dessen Waffe steckte in dem Baumstamm, mit dem Ronius sich verteidigt hatte. Das war der Nachteil, wenn man seine Keule spickte.

Jorgol wich vor ihm zurück. Eine Falle? Warum hatte der Sumpfer seine Waffe aufs Spiel gesetzt? Oder wusste er nichts von Taktik? So war es - der abscheuliche Kämpfer dachte gar nicht an so etwas. Er vertraute alleine seiner Kampfkraft.

»Du bist besiegt!«, grollte Ronius.

Hinter ihm stöhnten und ächzten die Sumpfer, wohingegen die Zuschauer aus dem Steintal jubelten. Es klang wie Donnerhall.

Ronius hob seine Keule. Das fast schwarze Holz glänzte im Sonnenlicht.

Jorgols Lippen zitterten. Schweiß lief über sein Gesicht. Sein Blick huschte zum Baum, in der seine Keule steckte, dann wieder zurück zu Ronius‘ Waffe. Ronius meinte Furcht in den Augen seines Gegners zu sehen.

Jorgol wusste gewiss, dass ein Riese lange starb. Nicht so schnell wie Mensch oder Tier. In seinen Adern rauschten Flüsse von Blut, sein mächtiges Herz pumpte ohne Unterlass. Seine Haut war dick und zäh. Seine Muskeln stählerne Berge. Alles an ihm war für ein langes Leben vorgesehen. Am besten löschte man es aus, indem man einen Riesen in eine Schlucht warf oder dessen Schädel zertrümmerte. Das tötete ihn auf der Stelle.

Ronius‘ Arm begann zu zittern.

Er würde viele Schläge benötigen.

Doch er musste es tun!

Für sein Volk!

Jorgol spürte die Unsicherheit des Steiners und grinste hart. Die Furcht verschwand aus seinem breiten Gesicht und verwandelte sich in Häme.

»Du kannst es nicht, habe ich Recht?«, grollte Jorgol.

Ronius senkte die Keule. Sie wog schwer in seiner Hand.

»Genau deshalb könnt ihr nicht siegen. Ihr könnt niemals siegen! Du magst ein großer Kämpfer sein, Ronius, doch du kannst einen Riesen nicht töten. Wir haben gewonnen. Ich habe gewonnen! Ihr seid unsere Sklaven und werdet uns für alle Zeiten zu Diensten sein.« Er spie die Worte aus und Ronius erkannte, dass es doch einen Haken gab, an dem er soeben aufgehängt wurde.

Er hatte alles gelernt. Er führte die Keule meisterhaft, doch niemand hatte ihn gelehrt, wie man tötete.

»Lass uns verhandeln«, sagte er zornig.

»Was sollten wir verhandeln?«

»Ich lasse dich leben und wir haben nicht fünfhundert, sondern dreihundert Jahre Frieden.«

Jorgol grinste.

Ich muss ihn erschlagen! Ob ich will oder nicht!

»TÖTEN! TÖTEN!«, brüllten die Zuschauer.

Ronius riss die Keule hoch und schwang sie über seinen Kopf. Sie surrte und krachte nieder - nur eine Handbreit neben Jorgol, der sich instinktiv Schutz suchend zur Seite gerollt hatte. Der Sumpfer rang nach Luft, da sein Gewicht ihn niederdrückte. Er griff nach Ronius‘ Beinen und zog. Ronius stürzte. Jorgol warf sich auf ihn und versuchte, seinem Gegner die Waffe zu entreißen. Ronius stemmte sich hoch. Er spannte alle seine Muskeln an und riss sich auf die Beine.

Die Zuschauer waren aus dem Häuschen. Ihr Gebrüll scholl über Mythenland. In den Regionen Amazoniens würde man es für ein schwaches Erdbeben halten.

Noch immer hielt Ronius die Keule in der Hand. Wie ein Berg warf sich der Sumpfer gegen ihn und wackelte mit dem Kopf, um den Gegner mit seinen Hörnern aufzuspießen.

Ronius sprang zurück und krachend landete die Keule auf Jorgols Schädel. Ein Horn brach ab und der Sumpfer kreischte. Der Verletzte bückte sich und versuchte, seine gespickte Keule aus dem Baum zu ziehen. Das gelang nicht, also hob er den Baum gleich mit auf. Er duckte sich und wirbelte herum. Ein mächtiger Schlag traf Ronius an die Brust und raubte ihm den Atem.

Die Menge tobte. Die Stimmen der Sumpfer übertönten die der Steiner. Jeder wusste, dass der Kampf wieder offen war, was bedeutete, dass Ronius kaum eine Chance hatte. Jorgol kämpfte flink und sicher. Er hatte sein ganzes Leben nichts anderes getan.

»Dreihundert, wenn ich dich am Leben lasse!«, schrie Ronius und seine Stimme klang wie das Knirschen von Fels.

»Ewigkeiten, wenn ich dich töte!«, brüllte Jorgol.

»Zweihundert und wir beenden den Kampf!«

Jorgol führte einen gewieften Schlag gegen Ronius‘ Beine. Die Waffe krachte gegen dessen Kniescheiben, die mit hartem Leder umwickelt waren. Dennoch taumelte Ronius und ein brennender Schmerz fuhr ihm durch die Glieder. Er knickte ein und fiel auf die Knie. Jorgol setzte sofort nach. Er hob die Keule, um damit Ronius‘ Rückgrad zu zerschmettern.

Die Steiner heulten auf.

Ronius warf sich zur Seite und landete auf dem Rücken, ächzte laut und schnappte nach Luft. Jorgols Schlag kam, sauste jedoch durch die Luft und traf nicht. Er war überhastet geführt, zu siegessicher. Der Schlag war so mächtig geführt, dass er den Riesen vornüber warf. Wie ein gefällter Baum stürzte Jorgol. Ronius rollte sich zur Seite. Jorgol krachte neben ihm in den Staub und der Boden bebte. Ronius versuchte, sich zu erheben, und seine Kniegelenke protestierten. Doch es gelang ihm.

Er würde es den Sumpfern zeigen.

Auch ein Steiner konnte töten!

Er führte den tödlichen Hieb und die Keule verhielt knapp über Jorgols Hinterkopf.

Ronius starrte auf die Keule.

Blickte um sich.

Sah die Augen seiner Leute.

Er brüllte verzweifelt, schrie, warf den Kopf in den Nacken und die Zuschauer tobten.

Warum war es so schwer, einem anderen Riesen das Leben zu nehmen? Was bedeutete es schon, wenn man dadurch fünfhundert Jahre Frieden erwirkte?

Jorgol regte sich nicht.

Wartete er auf sein Ende?

»Dreh dich um!«, fluchte Ronius schnaufend.

Jorgol blieb still liegen. Er atmete, aber er bewegte sich nicht.

»Ich will dir ins Gesicht sehen! Es ist unwürdig, mir deinen Hinterschädel darzubieten!«

Keine Regung.

Ungeduldig packte Ronius den Liegenden an der Schulter, verdichtete seine Kraft und warf den Riesen auf den Rücken. Jorgol starrte ihn an. Aus seinem Mund floss Blut, seine Augen flackerten. Aus seiner Brust ragte die Keule. Er war darauf gefallen, sie hatte sich verkantet und war tief in seinen Leib eingedrungen.

Der Kampf war entschieden.

Die Zuschauer schwiegen. Kein Laut. Nur schweres Atmen.

Nun begann für Jorgol der lange letzte Kampf. Es konnte Tage dauern, bis das Herz seine Arbeit beendete. Der Sumpfriese versuchte, etwas zu sagen. Sein Gesicht bebte, doch ihm war die Sprache abhanden gekommen.

Ronius lauschte, aber es hörte nur ein tiefes Brummen und Stöhnen. Er erhob sich und blickte sich um.

»Der Kampf ist vorbei. Der Sieger steht fest! Wir werden nun gehen und den Frieden feiern!«

Alle schwiegen, auch die Steiner.

»Ich weiß, worauf ihr wartet«, sagte Ronius. »Ihr wollt, dass ich ihn töte.«

Zustimmendes Murren.

»Das werde ich tun und diesmal wird es mir eine Ehre sein, die Leiden des tapferen Kriegers abzukürzen.«

Einige Steiner seufzten, die Sumpfer blickten hasserfüllt und klagend gleichermaßen.

»Wo ist eure Schlucht des letzten Gedanken?«, wollte Ronius wissen.

»Töte ihn hier und auf der Stelle« grunzte einer der Sumpfer, ein mächtiger Riese, dessen Körperschmuck aus gebleichten Schädeln bestand. »Drei oder vier Schläge auf seinen Schädel und er hat es hinter sich.«

Jorgol zuckte und keuchte.

»Ja, töte ihn hier und jetzt!« brüllte ein anderer Sumpfer. Die Steiner schwiegen. Ronius suchte das Gesicht von Gratos, dessen Augen. Der alte Riese nickte langsam. Du hast gesiegt, nun bringe es zu Ende!

»Wo ist eure Schlucht des letzten Gedanken?«, wiederholte Ronius seine Frage. Er zitterte am ganzen Körper. Zu seinen Füßen breitete sich eine Blutlache aus. Jorgol stöhnte und Tränen liefen über sein Gesicht. »Oder habt ihr keine?«

Ein Sumpfer, mit gebleichten Schädeln als Halsschmuck, trat vor. »Jedes Riesenvolk hat eine Schlucht«, sagte er, erstaunlich ruhig. Er blickte auf Jorgol hinunter und in seinem Gesicht zuckte es. Trauer? Abscheu?

»Dann lasst uns Jorgol dort hinbringen«, sagte Ronius.

Dorthin trugen sie ihn.

Ronius sah den Sterbenden an. Lächelte er? Lag Dank in seinen Augen? Es war gut möglich. Ronius schob eigenhändig den mächtigen Körper über die Kante. Lautlos stürzte der Riese hinab und zerschmetterte auf den Steinen.

Einer aus dem Volk der Steiner legte ihm die Hand auf die Schulter. »Das war eine edle Tat, Ronius.«

Gratos trat zu ihm. »Das war eine weise Tat, Ronius.«

Erstaunt sah Ronius, dass einige Sumpfriesen weinten. Diese Gefühle hätte er ihnen niemals zugetraut. War es Trauer um den Kämpfer oder betrauerten sie den nun fünfhundert Jahre währenden Frieden?

Der Häuptling der Sumpfer, es war jener mit dem gruseligen Schmuck, bot den Steinern an, ein Fest zu feiern.

Sie tranken und aßen und eine stille Art von Kummer lag über dem nebeligen Gebiet. Es wurde nicht viel geredet. Zum einen hatte man kaum gemeinsame Themen, zum anderen schwang latentes Misstrauen über der Gegend. Niemand verbrüderte sich. Der Häuptling der Sumpfer sang ein grollendes Lied. Sie leerten die Weinkrüge, legten sich hin, wo sie saßen und schliefen ihren Rausch aus.

Am nächsten Morgen kam der Häuptling zu Ronius und musterte ihn eindringlich. »Nun haben wir Frieden. Frieden liegt nicht in unserer Art, doch wir werden den Kontrakt einhalten. Du bist ein furchtloser Steiner. Dein Volk sollte dich zum Häuptling wählen. Ich möchte dir etwas schenken.«

Er rollte eine Matte auf, die mit Runen beschriftet war. »Ein altes Rezept. Wir nutzen es, um einen Trank zu brauen. Wir nennen ihn den Zorn der Riesen. Trinke und kämpfe. Wenn wir uns in fünfhundert Jahren wieder begegnen, sollt ihr gleichwertige Gegner sein!« Er grollte, drehte sich um und trottete davon.

Ronius traute seinen Ohren nicht. Waren es die Nachwirkungen des schweren Weins, den sie gesoffen hatten? Er blickte der gebeugten Gestalt des Häuptlings hinterher, bückte sich und rollte die Matte zusammen. Nicht wenige Sumpfer beäugten ihn, einige zweifellos bewundernd.

Gratos kam zu ihm. »Wir werden fünfhundert Jahre Zeit haben, um über dieses Geschenk nachzudenken. Es wird Zeit, dass wir uns sammeln und den Heimweg antreten. Ich bin sehr stolz auf dich, mein Junge.«

Ronius begriff diesen Stolz nicht.

Er hatte gehandelt, wie man es von ihm erwartete. Trotzdem stellte sich kein Glücksgefühl ein. Er konnte den starren Blick des Verletzten nicht vergessen, die Tränen, welche Jorgol geweint hatte.

 

 

Ronius wurde zum Häuptling gewählt.

Im dritten Jahrhundert seines Lebens starb er an einer Krankheit.

Zeit seines glücklichen Lebens nannte man ihn Ron.

 

 

Rondrick erwachte.

Okor und Talus blickten auf ihn herab. Zwei Titanen. Zwei Götter.

Okor lächelte.

»War es gut, in meinem Kopf zu sein?«, fragte er.

Rondrick blinzelte. Er hatte Schwierigkeiten, sich zu Recht zu finden.

Talus sagte: »Okor ist ein Phantast. Er kann dich in seine Erinnerungen mitnehmen.«

Ronrick richtete sich auf. Egg und Jamus waren wach und sahen ihn neugierig an.

Egg murmelte: »Das war unglaublich. Einfach nur unglaublich.« Er starrte vor sich hin, als könne er nicht glauben, was geschehen war. »Vieles lief durcheinander. Ich sah, wie Rondrick gegen einen Sumpfriesen kämpfte. Er besiegte ihn. Danach entführten mich Nebel. Ich selbst war genauso ein Gigant wie ihr. Ich träumte, ich sei ein Titan der Naturgewalten. Ich gebot über Eis, Feuer, Wasser, Stein, Orkane oder Springfluten. Ich war weise und gerecht. Und doch legte man mich herein. Ich unterlag im Weisheitswettbewerb. Ich kämpfte gegen Odin. Ich würde ihn nur dann besiegen, wenn ich eine Frage beantwortete, deren Antwort nur er kannte. Das gelang nicht und ich erwachte.«

»Auch ich kämpfte«, sagte Jamus. »Ich nannte mich Thyrim und stahl Thors Hammer. Er rächte sich an mir und erschlug mich. Für einen Moment dachte ich, alles in Wirklichkeit zu erleben. Seht, meine Finger zittern.« Er streckte sie aus. »Dennoch starb ich nicht, sondern kam zurück zum Kampf gegen Jorgol. Es ist als hätte ich zwei Leben gleichzeitig geträumt.«

»Unglaubliche Traumgebilde. Als hätte ich es selbst erlebt«, sagte Egg.

Rondrick hörte zu, während er den martialischen Riesen beobachtete. »Ich erinnere mich an dich …«, sagte Rondrick.

Okor legte den massigen Schädel schräg und lächelte.

»Du bist der Häuptling, der mir das Rezept für den Trank schenkte.«

»So ist es«, nickte Okor.

Talus sagte: »Er kam zu uns, weil deine Tat ihn veränderte.«

Okor sagte: »Dein Kampf brachte mir den Frieden. Ich sah das Mitgefühl in deinen Augen. Ich las dein Herz. Ich ahnte, dass es etwas im Leben geben muss, dass über Gewalt hinausgeht. Bei meinem Volk hätte ich das nie finden können, also bat ich um Asyl im Tal der Riesen. Es wurde mir gewährt. Nun habe ich Freunde. Keine Kameraden im Kampf, sondern Freunde, die mit dem Herzen sehen.«

»Warum redest du zu mir, als sei ich dieser Ronius?«

Okor sagte: »Du bist es. Ich selbst pflegte dich, bis der Tod dich viel zu früh vor deiner Zeit holte. Es war eine schreckliche Zeit. Nicht nur für mich, sondern für dein Volk. Du hast dich gequält. Niemand wusste, wie lange du alles das noch aushalten würdest. Dann bist du gestorben.« Okor machte eine Pause, dann fuhr er fort: »Das wollte ich nicht zulassen. Du warst der wertvollste Riese, den ich jemals kennenlernen dufte. Ich lauschte und blickte. Lange nach deinem Tod erwachte ich und hörte deine Phantasten.«

»Phantasten?«

»Du würdest sie Gedanken nennen, jedoch gibt es etwas, dass einen Gedanken zum Glitzern bringt, ihn weich und rund macht.«

»Unglaublich«, hauchte Jamus.

»Ich verstehe noch immer nicht«, sagte Rondrick, dem ein Licht aufging. Er versuchte es zu löschen, denn es bestürzte ihn.

Okor sagte: »Ich las deine Phantasten. Wir sandten Talus aus, damit du ihn fängst. Wir wollten dich testen, beobachten, ob ich im Irrtum war. Als Talus dir in deiner Stadt gegenüber stand, wussten wir, wer du bist. Auch deshalb schenkte er dir das Heldentum.«

»Wer, bei den Göttern, bin ich?«

»Du bist der Ron!«

Jamus kicherte. Egg schnäuzte sich.

»Das bedeutet?«, fragte Rondrick kühl, obwohl er innerlich brannte.

»Du bist der Wiedergeborene. In dir ist Ronius, der Felsriese. In dir ist alles, was in ihm war. Du bist zurückgekehrt zu uns. Endlich kannst du das Volk der Steinriesen führen. Es ist dein Recht und deine Pflicht, denn du gabst uns fünfhundert Jahre Frieden.«

Rondrick ächzte. Er wehrte sich gegen das Gehörte und schüttelte den Kopf. »Unsinn. Das ist doch Unsinn. Ich bin ein Riese?«

Egg hustete.

Okor schlug sich auf die Brust. »Zuinnerst bist du es. Und du wusstest es von jenem Moment an, als du in unser Tal kamst.«

»Nur weil ich mich bei euch wohlfühle? Nur deshalb, weil ich die Natur liebe?«

»Da ist noch viel mehr«, fügte Talus hinzu. »Bald wirst du es finden und begreifen.«

»Und wie nütze ich euch?« Rondrick dachte den Verstand zu verlieren. Das alles klang völlig irre.

»In zwei Tagen enden die fünfhundert Jahre«, sagte Okor. »Wir brauchen dich. Du wirst uns die Kraft geben, einen möglichen Kampf zu gewinnen.«

Rondrick schluckte.

»Ich? Ein menschlicher Winzling?«

Talus lachte donnernd und Jamus hielt sich die Ohren zu. »Was sagst du da? Ein Winzling? Nein, mein Freund. Du bist Ron, der Häuptling der Steinriesen!«

 

 

Symbylle legte ein Blumenmuster.

Sie lächelte sanft.

Im selben Moment verschloss sich der Eingang zum Tal der Riesen.

Zwei Reiter entkamen in letzter Sekunde, achtzehn wurden zerquetscht.

 

Im Schatten der Drachen
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