5. Kapitel
König Rondrick von Dandoria aus dem Hause der Mittländer, Sohn von Gregor, dem Redlichen, dem ehemaligen Erzkönig von Mythenland, ließ sich eine Schale mit Wasser bringen.
Er neigte den Kopf zurück und bot dem Barbier seine Wangen und den Hals dar. Er fragte sich, ob er dies riskieren konnte, schließlich arbeitete Mor´t mit einer scharfen Schneide. Andererseits hatte Mor’t schon seinem Vater den Bart rasiert und war stets ein Getreuer gewesen.
Rondrick schloss seine Augen und ließ die Ereignisse des gestrigen Abends Revue passieren. Er hatte Glück gehabt, auch wenn ihn bei diesem Gedanken ein schlechtes Gewissen beschlich. George Zyxkally, Vorsitzender der Schriftsetzergilde und Freidenker war an seiner statt gestorben. Durch den Fluch eines Dämons, dem es gelungen war, fast achtzig Personen in eine Starre zu versetzen. Die anschließende Jagd war ins Leere gelaufen, der Dämon war und blieb verschwunden.
Es begann also wieder!
Vierzig Jahre waren vergangen, seitdem Dämonen, die sich die Wächter nannten, in Mythenland wüteten, danach hatte das Grauen von einem Tag auf den anderen geendet. Was Rondrick am meisten erstaunte, war die Tatsache, dass der Dämon zielgerichtet den König gesucht hatte. Das konnte nur bedeuten, dass er in jemandes Auftrag handelte.
Mor’t kratzte und schabte, tupfte die gereizte Haut mit frischen Tüchern und summte dabei ein altes Lied. Wie üblich schwieg der alte Mann und versah seinen Dienst perfekt. Man sagte, er habe Erzkönig Gregor, Rondricks Vater, in dreißig Jahren nicht einmal geschnitten. Andere sagten, auch wenn man Gregor den Redlichen nannte, sei dies so besser gewesen.
Rondrick konnte sich nicht vorstellen, einen Barbier zu bestrafen, der ihn schnitt. Kleine Ritzer gehörten zum Rasieren wie Kerne in einen Apfel.
Lady Grisolde betrat das Schlafgemach.
Ihre schwarzen Haaren, die elfische Anmut und der schlanke Körper machten sie zum größten Geschenk, das Rondrick sich vorstellen konnte. Dennoch sagte ihm sein Instinkt, dass die flatterhafte Harmonie nicht von Dauer sein würde. Zwar war er ein friedvoller sanfter Mann, doch er war kein Narr. Ihm entgingen keineswegs die kritischen Blicke der schönen Frau, die ihn streiften, wenn er sich verhielt, wie sie es nicht guthieß. Die Kluft zwischen ihnen, die natürlich und selbstverständlich war – schließlich war Rondrick der König – schien sich stetig zu vergrößern, obwohl Rondrick fortwährend versuchte, das Gegenteil zu bewirken. Vielleicht, dachte er, würde Grisolde ihr wahres Gesicht entblößen, wäre diese Kluft überbrückt. Also beließ sie es, wie es war - zu ihrem eigenen Schutz.
Erstaunlich, dass er nun sogar seiner Frau gegenüber Misstrauen hegte ...
Er schüttelte sich und Mor’t grunzte. Der Alte zog im letzten Moment die Klinge zurück und wischte sie an einem Leder sauber. Rondrick, der keine Lust hatte, sich in tiefe Düsternis zu denken, rutschte aus dem Sitz und richtete sich auf. Er griff sich ein Tuch und wischte den Seifenschaum ab. Er tastete über seine Haut, die gleichmäßig glatt war. Er reckte sich und blinzelte freundlich, als sich Mor’t verabschiedete, die Seifenschale im Arm.
Ha, frisch rasiert, eine kühle duftende Herbstbrise, die durch das Fenster strömte, eine schöne Frau im Gemach, ein Bett, breit genug für alles, was einem einfiel und die Gewissheit, zu leben – so konnte der Tag beginnen!
Er öffnete seine Arme und wartete, dass Grisolde zu ihm kam. Sie machte zwei Schritte und drückte sich an ihn, sodass er ihre Wärme spürte. Ein herrlicher Körper, voller Eleganz und Kraft. Er nahm ihren Kopf und bog ihn etwas zurück, damit seine Lippen die ihren fanden. Soeben wollte er sie küssen, als er Tränen unter ihren geschlossenen Wimpern hervorquellen sah.
»Warum weinst du?«, fragte er.
Sie schluchzte. »Ich bin so froh, dass du lebst.«
Er küsste ihre Tränen weg und strich über ihr Haar. War er etwa doch ein Narr? Sah er nicht, wie sehr sie ihn liebte? Andererseits hatte sein Vater, der seine Weiber gewechselt hatte wie andere Männer ihre Schuhe, gesagt, Weibertränen seien das Eis der Sommerblumen. Dabei hatte er grimmig dreingeschaut und Rondrick, der sich mal wieder an eine andere Mutter gewöhnen musste, hatte blöde gegrinst, weil er nichts davon begriff.
Wie auch immer – Weibertränen waren wie Pfeile. Sie trafen einem ins Herz und störten den Rhythmus.
»Nicht weinen«, flüsterte er. »Wir werden der Sache auf den Grund gehen. Der Dämon muss beauftragt worden sein, um mich zu töten. Wir werden den Drahtzieher finden und bestrafen.«
Sie machte sich los, wischte sich den Rest der Tränen aus dem Gesicht und blickte ihn an. Unvermutet stand Zorn in ihrem Gesicht, was Rondricks Herz erneut aus dem Gleichtakt brachte. »Wenn du den Übeltäter gefunden hast, will ich ihn töten!«, zischte sie.
»Eines nach dem anderen, meine Liebe. Zuerst lass uns den Morgen begrüßen.« Er nickte zum Bett und lächelte schief.
»Nicht jetzt«, sagte sie. »Zuerst musst du dich mit deinen Ministern besprechen. Ihr müsst Entscheidungen treffen.«
Ich bin der König. Und ich treffe Entscheidungen, wenn ich es will!
Hatte er nicht soeben über die Kluft zwischen ihnen nachgedacht? Und nun überschritt Grisolde diese und nahm sich Rechte heraus, die ... die ... alles war so verworren!
Er nickte. »Du hast Recht. Die Liebe muss warten.«
»Beeile dich, mein König. Heute ist ein wichtiger Tag. Nichts kann so bleiben, wie es war. Gestern Abend gab es ein Attentat auf den König von Dandoria. Bald werden es die Barden singen. Nun musst du deine Stärke beweisen. Zeige ihnen, zu was du fähig bist, damit sich die Texte verändern und ein hohes Lied singen.« Ihre Augen strahlten und ihr Gesicht wurde kantig. »Du bist ein wunderbarer Mann, ein starker Mann.« Ihre Fingerspitzen glitten über seine Brust. »Finde den Attentäter oder den, der ihn gedungen hat. Suche und lass mich ihn bestrafen. Mit jedem Schrei, den er von sich gibt, will ich dir meine Liebe beweisen.«
In Rondricks Kopf drehte sich alles.
Grisoldes Härte und die eisige Art, wie sie jedes Wort betonte, ließ ihn frösteln. Hatte sich sein Leben tatsächlich verändert? Hatten seine Minister recht, wenn sie ihn bedrängten, er möge sich das Nordland, die Inseln und den Rest von Mythenland untertan machen?
Was, wenn ein nächster Anschlag glückte?
Wer würde seinen Platz übernehmen?
Er hatte weder einen Sohn noch einen Bruder. Grisolde würde die Königin von Dandoria werden.
Bei den Göttern, es gab viel zu bedenken! Irgendwo musste der Übeltäter stecken. Nun war die Zeit des Friedens vorbei, ahnte er und es hätte nicht viel gefehlt, um auch ihm Tränen in die Augen zu treiben.
Grisolde lächelte. »Du musst deshalb nicht traurig sein. Es ist des Königs Los, sein Leben auf einem Seil zu verbringen. Nur wer sich durchsetzt, stirbt im Bett und im Kreise seiner Liebsten. Wer weiß – vielleicht schenken uns die Göttern doch einen Sohn? Du wirst wollen, dass er stolz ist auf dich, den man jetzt hinter vorgehaltener Hand Rondrick den Riesentöter nennt.«
»Ich habe nie einen Riesen getötet!«
»Du hast einen gefangen. Du weißt doch, wie sich Dinge verändern, die von Mund zu Ohr gehen.«
Rondrick der Riesentöter! Das klang gut. Das machte sich gut in den Annalen derer von Mythenland.
»Ich glaube ...«, murmelte er. »Es gibt eine Möglichkeit.« Er schob seinen Kopf zwischen die Schultern. »Ich verlasse die Burg und mische mich unters Volk. Ich verändere mein Aussehen und gebe mich als Händler aus. Ich kaufe ein Schiff und segele ins Südmeer, besuche die angrenzenden Länder und da, wo es mir gefällt, baue ich ein schönes Haus und verbringe meine Tage.«
Sie stapfte so hart mit dem Fuß auf, dass er zusammenschrak. »Du – du – du! Und wo bleibe ich dabei? Soll ich Ziegenhirtin werden?«
Er wedelte mit den Händen. »Nein – ich rede nicht von Ziegen. Wir haben genug Gold, um uns alles zu leisten, was dein Leben angenehm macht. Mit der Zeit wird man uns dort, wo wir glücklich sind, akzeptieren. Du kannst Bälle veranstalten und mit deinen Freundinnen ...«
Sie zischte wie eine Schlange und stieß ihre Hände in die Hüften. »Du hast eine Aufgabe. Du bist der König. Somit trägst du Verantwortung für dein Volk. Ob es dir passt oder nicht!«
Wie war er darauf gekommen, zwischen ihnen hätte sich eine Kluft aufgetan? Vermutlich war er nicht richtig wach gewesen, oder?
»Wer Verantwortung übertragen bekommt, muss diese ausfüllen.«
»Wer sagt das?«, maulte Rondrick.
»Es genügt, ein Mensch zu sein, um Verantwortung zu tragen. Ich werde dir die Verantwortung nicht abnehmen, nein, das werde ich nicht!« Sie blitzte ihn an. »Ich werde dir helfen, sie zu tragen!«
»Rondrick der Riesentöter ...«, murmelte er leise vor sich hin.
Grisolde nahm seine Hände. Sie blickte zu ihm auf. »Du bist ein guter Mann, viel zu gut für diese Welt. Dennoch gibt es Dinge, die auch du nicht verändern kannst. Also lerne, mit ihnen zu leben.«
»Und wenn ich mich anders entscheide?«
»Man wird dich einen Feigling nennen. Einen Mann, der sein Volk im Stich gelassen hat.«
»Dem Volk geht es gut. Wir haben Frieden.«
»Einen Frieden, in dem man versucht, den König zu töten?«
Diesem Argument konnte Rondrick nicht wiedersprechen. »Also gut. Ich werde eine Ratssitzung einberufen und schauen, was zu tun ist.«
Grisolde nickte. »Das ist nicht nötig.«
»Wie meinst du das?«
»Ich habe mich darum gekümmert. Der Rat wartet bereits nebenan in deiner Bibliothek.« Sie warf ihm den goldbestickten Morgenmantel über und öffnete die Tür.
Rondrick betrat die Bibliothek. Zehn Fuß hohe Regale führten um den Raum. Hier wurden Schriften und Bücher aufbewahrt, eine kleinere Ausgabe der Sammlung, die sich im Kellergeschoss der Burg befand. Der mit grauen Steinen geflieste Boden war mit wertvollen Teppichen ausgelegt, Kunstwerke der Fartak, die dem Raum Wärme verliehen. Mit Kristall geschützte Kerzen sorgten für Atmosphäre, offenes Feuer war in diesem Raum verboten. In der Mitte stand ein massiver Holztisch mit acht Stühlen. Der belehnte Stuhl am Kopf war der des Königs.
Rondrick nickte nach links und rechts und nahm Platz. Er winkte seinem Rat, sich zu setzen. Schweigend nahm man Platz.
Zuvor waren Morgenspeisen aufgetragen worden, warmes dampfendes Brot, Milch und Obst. Jeder der Anwesenden sollte sich nach Wunsch und Laune bedienen. Grisolde hatte an alles gedacht.
»Was werden wir unternehmen?«, fragte Rondrick geradeheraus und strich zwei Falten aus dem Morgenmantel. Er musterte die Personen und hakte sie einen nach dem anderen ab.
Links von ihm saß General Moren Syndar, ihm gegenüber Inquister Loouis Balger, ein fettleibiger Kerl.
Daneben, die Arme vor der Brust gekreuzt, Schatzmeister Redus Dorr, ein bärtiger Mann.
Dem gegenüber der Halbling S’on D’uur, der die Interessen seiner Rasse vertrat.
Weiter hinten beobachtete ein Elf die Tischrunde, Nordon Driúel, ihm gegenüber ein Troll, der wie üblich, erbärmlich stank, Gorr Hardis. Die restlichen zwei waren für Kultur und Bildung zuständig und schwiegen für gewöhnlich. Bibliotheksmeister Egg T’huton, der sowieso nur alle zwei Monate etwas sagte und der stets schweigsame Xol Dipper, ein menschgewordener Bücherwurm, hager, bleich, mit großen handgeschliffenen Augengläsern.
Die Acht sahen sich erstaunt an.
Moren Syndar brummte: »Mein König wollen also sofort zur Sache kommen?«
»Warum sonst sollten wir hier sitzen?«, schnappte Rondrick. Er war wütend. Zum einen begriff er, dass Grisolde mit ihren Worten recht hatte, zum anderen kam er sich jetzt tatsächlich wie ein Versager vor. Ferner bohrten ihn Schuldgefühle, schließlich hatte die Schriftsetzergilde ihren besten Mann verloren.
»Beginnen wir!« General Syndar, ein hagerer Mann mittleren Alters mit kurzen grauen Haaren und einem vernarbten Gesicht, legte theatralisch seine Handflächen auf den Tisch. »Wir müssen den Drahtzieher des Attentats finden. Ich empfehle, das Militär zu aktivieren.«
S’on D’uur, der Halbling verdrehte seine Augen. »Das ist mal wieder typisch für Syndar. Muskelspiel und Tod. Ich frage mich, wen Ihr umbringen wollt, mein Lieber?«
Nordon Driúel, der Elf, sagte mit freundlicher Stimme: »Der Attentäter versuchte, in meinen Verstand einzudringen. Es gelang ihm nicht. Dafür war es mir möglich, ihn zu lesen. Über seine Beweggründe fand ich nichts. Ich erfuhr, dass das Attentat geplant war und es sich nicht um einen gewöhnlichen Dämonenbann handelte. Dieser Dämon wurde für seine Tat ausgesucht, instruiert und alles war geplant.«
Inquister Balger schlug mit der Faust auf den Tisch. »Verzeiht, mein König, doch wenn das stimmt, haben wir es mit Murgon zu tun.«
Driúel nickte. Sein schmales schönes Gesicht leuchtete in einem Sonnenstrahl, der durch das Fenster fiel wie ein staubiger Finger. »Murgon der Dunkelelf.«
Rondrick legte den Kopf schief. »Gerüchte verlauten, er sei der Herr von Unterwelt.«
Driúel erklärte: »Keine Gerüchte, mein König. Das ist Gewissheit. Einst war er einer von uns. Er lebte im Elfental Solituúde, drei Tagesritte nördlich.«
»Das wissen wir. Kommt zur Sache, Elf!«, schnaubte der General.
Ronrick musterte den Hageren mit scharfem Blick.
Driúel fuhr unbeirrt fort: «Loralin Ranéwén ist seine Mutter, der Elfenlord von Ranéwén sein Vater. Murgons Name war Feiniel.«
»War?«, wollte Inquister Balger wissen, obwohl er die Antwort selbstverständlich kannte. Für ihn gab es keine Frage, die man nicht zweimal stellen konnte. Er wusste, dass Antworten durchaus verschieden sein konnten, denn dies war sein Beruf.
Driúel sagte: »Als Junge fand Feiniel ein Artefakt, welches von den Wächtern stammt. Man sagte, wer das Behältnis öffne, hole die Wächter zurück in ihre Festung nach Unterwelt und mit ihnen Dornotul den Schwarzen, der Unterwelt geschaffen habe. Man fürchtete Feiniel, obwohl er ein Halbwüchsiger war. Sogar sein eigenes Elternhaus stellte sich gegen ihn, abgesehen von seiner Schwester Gwenael. Auch heute, wenn die Rede darauf kommt, schämen wir uns dafür. Was geschah, ist der Elfen nicht würdig.« Er zuckte die Achseln. »Das sind Erinnerungen, die niemals mehr dasselbe Bild weben werden. Es ist nicht rückgängig zu machen. Klar ist, dass Feiniel litt, sehr litt. Als ihm alles zu viel wurde, als seine schmalen Schultern die zufällig aufgebürdete Verantwortung nicht mehr tragen konnten, rächte er sich an seinem Elternhaus und ging nach Unterwelt. Dort wurde er zu Murgon und verwandelte sich in einen Dunkelelf. Er herrscht mit schwarzer Magie über die Welt des Bösen. Seine Schwester Gwenael folgte ihm, aus Gründen, die uns bisher unbekannt sind.«
»Aus Geschwisterliebe?«, fragte König Rondrick.
»Das mag sein ...«, sagte der Elf. »Mein König, es gäbe vieles zu berichten, denn dies alles ist komplexer, als es scheinen mag, jedoch für diesen Moment irrelevant.«
»Ich danke Euch«, sagte Rondrick, der wusste, dass der Elf mit vielen Problemen zu kämpfen hatte. Man sagte, sein Volk im Elfental Solituúde verändere sich. Es gab Aufstände, viele starben. Elfen verhielten sich unelfisch, verloren ihre Identität und grausame Tiere zogen wildernd durch das Tal. Und er saß hier im Rat, ohne seinem Volk helfen zu können, ohne eine Ahnung, warum dies alles geschah. Man musste ihn mit Samthandschuhen anfassen. »Eure Ausführungen sind sehr wertvoll, Nordon Driúel.«
Der Elf nickte freundlich.
Rondrick sagte: »Wir kennen also den Auftraggeber. An ihn müssen wir uns halten.«
General Syndar zog seine Handflächen zurück und klatschte die rechte Faust in die linke Hand. »Das ist, bei allem Respekt, mein König, kein leichtes Unterfangen. Der Zugang zu Unterwelt ist geheim.«
»Unsinn!« Rondrick erinnerte sich nicht, jemals so grob verhandelt zu haben. »Wenn es diesem Feiniel, der sich jetzt Murgon nennt, gelang, bekommen wir das auch hin.«
»Zweifellos, mein König.« Der General senkte seinen Kopf. Nach einer kleinen Weile blickte er auf. Seine Miene wirkte sauertöpfisch und er betrachtete den König, als sehe er ihn zum ersten Mal. »Es gab tatsächlich Einige, die dort waren. Man nennt sie die Schwarzen Reisenden. Es handelt sich um Narren, die sich zum Helden berufen fühlen oder um den einen oder anderen Magus, der seine Kenntnisse erweitern will. Man sagt, einige Schwarze Reisende seien zurückgekehrt.«
»Na bitte, warum nicht gleich so – dann haben wir die Lösung für das Problem«, sagte Rondrick zufrieden.
»Leider nicht, mein König«, setzte der General hinzu.
Inquister Balger schnaufte und von seinem Dreifachkinn tropfte Schweiß. »Er will sagen, dass alle Rückkehrer binnen weniger Tage wahnsinnig wurden und starben. Ein offenes Geheimnis. Eines, über das man besser nicht redet.«
»Vor allen Dingen nicht im Königshaus, nicht wahr?«, sagte Rondrick und blickte herrisch.
Die Runde schwieg betreten.
Aus dem Nebenraum erklang eine helle Singstimme, die zu Grisolde gehörte.
Als Rondrick seine Augen für einen Moment schloss, sah er sie vor sich, in einem halb durchsichtigen Morgenkleid, die schwarzen Haare auf weißer Seide, der geschmeidige Körper ein Quell der Labsal, reserviert für ihn, den König!
Gorr Hardis, der Troll, kratzte sich den Bauch und schnüffelte an seinen Fingern. Er zog eine zufriedene Miene. »Ich sitze in diesem Rat, seitdem Gregor der Redliche herrschte. Als vor vierzig Jahren die Dämonenüberfälle begannen, versuchten wir genauso wie heute, ein Mittel dagegen zu finden. Es gelang uns nicht. Wir beteten, riefen die Götter an und verschanzten uns hinter Abwehrzauber, von denen Ihr, mein König, auch einige lerntet. Es dauerte länger als drei Jahre und hunderte Tote oder Besessene, bis die Überfälle endeten. Viele der Dämonisierten verschwanden über Nacht. Dornotul der Schwarze hatte seine Reihen wieder aufgefüllt.«
»Alte Geschichten ...«, murrte der General.
Der Troll steckte den Zeigefinger in sein Ohr und zog schmatzend einen Pfropf Schmalz heraus, den er genüsslich ableckte. Er schüttelte vielsagend den Kopf. »Mein König, niemand verfügte damals über unser jetziges Wissen. Von einem Zugang nach Unterwelt hätte man zu jener Zeit geträumt. Erzkönig Gregor hätte nicht gezögert. Es wäre zum Krieg gekommen. Seine Truppen wären nach Unterwelt marschiert.«
»Genauso, wie es heute sein sollte!«, polterte Syndar.
Rondricks Brauen zogen sich zusammen. Dieser General war ihm peinlich. Er war der Archetyp des Militärs, eine Karikatur.
Balger grinste. »Ich wiederhole: Hin, sterben oder überleben. Rückkehr, Wahnsinn und Tod. Ich frage mich, wer sich das antun will?«
Alle hielten den Atem an. Was der Inquister sich soeben erlaubt hatte, grenzte an Königsschändung.
Schatzmeister Redus Dorr kratzte seinen Bart und fragte: »Ich nehme doch an, dass wir alle bereit sind, für unseren König zu sterben, nicht wahr?« Seine lauernde Stimme war wie Säure.
Balger räusperte sich. »Das bedeutet, wir schicken Soldaten nach Unterwelt, töten Murgon und lassen unsere Männer, wo sie sind, denn in Mythenland erwartet sie nichts anderes als ewige Dunkelheit. Ein Himmelpfadskommando für die Hölle.«
Dorr zog eine Augenbraue hoch. »Hat jemand eine bessere Idee?«
Rondrick stützte seine Ellenbogen auf die Tischplatte. »Und wie wollen wir, wenn jeder stirbt, jemals erfahren, ob unsere Soldaten erfolgreich waren?«
Bibliotheksmeister Egg T’huton, ein Mann, der einem überdimensionierten Zwerg ähnelte, meldete sich zu Wort, was außergewöhnlich war und die Anwesenden überraschte. Er setzte sich aufrecht und sein stämmiger Körper dominierte die Runde, während sein glühendroter Bart auf der Tischplatte lag. Mit heller Stimme sagte er: »Ich denke, wir packen die Sache von der falschen Seite an.« Er nickte Rondrick zu. »Mein König, ich bitte Euch um Verzeihung, doch sollten wir uns nicht Gedanken darüber machen, warum man Euch töten wollte?«
Das Ausatmen der Anwesenden war unüberhörbar.
Rondrick grinste und ließ sich gegen die Rückenlehne fallen. »Ja, T’huton. Euer Einwand ist treffend. Ich danke Euch dafür.«
Der Zwergriese beugte den Kopf, strich den Bart von der Tischplatte und schickte sich an, die nächsten zwei Monate zu schweigen.
»Ihr habt unseren Bibliotheksmeister gehört«, sagte Rondrick. »Bevor wir Kriegspläne schmieden, sollten wir uns zuerst über den wichtigsten Punkt Gedanken machen: Warum, bei den Göttern, wollte man mich töten? Welcher Plan steckt dahinter? Der Dämon war gut informiert. Er wusste, wann und wo unser Festmahl stattfand. Er kannte die Sitzordnung, lediglich das Wurfspiel kannte er nicht, was unserem armen Zyxkally das Leben kostete.« Er drehte sich zu Dorr. »Lasst der Witwe dreißig Goldstücke zukommen und meine besten Grüße. Wir werden für den Gildenmeister eine Gedenktafel aufstellen.«
»Für ZYXKALLY?«, fuhr General Syndar hoch.
»Für Zyxkally. Er ist tot und kann uns nicht mehr schaden. Auf seine Art war er ein tapferer Mann. Dorr, Ihr habt es gehört?«
Rondrick reckte seine Brust. »Wenn ich die Situation richtig einschätze, haben wir mehrere Optionen. Nummer eins: Wir gehen durch den geheimen Übergang nach Unterwelt, töten Murgon und sterben! Oder wir erfahren, warum man mich töten wollte. Auch dafür müssen wir nach Unterwelt, allerdings mit jemandem, der sich mit Fragen auskennt.« Sein Kopf fuhr nach rechts. Inquister Balger starrte den König an, seine Lippen öffneten und schlossen sich wie die eines Karpfen, dann sprang er auf, als habe ihn ein Blitzschlag getroffen. Seine Fettmassen wabbelten, von seiner Stirn spritzte Schweiß. Der Stuhl rutschte lautstark nach hinten.
»Mein König ...«, stammelte er. »Ich vermute doch nicht, dass Ihr mich ... also ... mit meiner Gesundheit steht es nicht zum allerbesten ...«
»Setzt Euch, Balger! Erfreuen dürft Ihr Euch später«, befahl Rondrick. »Selbstverständlich meine ich Euch. Ihr seid mein Inquister. Niemand kennt sich mit der Befragung von dunklen Wesen besser aus als Ihr, oder?« Er machte eine kleine Pause. Sein Blick streifte suchend über die acht Köpfe hinweg.
Einige schlugen die Augen nieder.
»Als militärischer Berater wird Euch General Syndar begleiten. Ein Mann, auf den Ihr Euch verlassen könnt, mein lieber Balger.«
Der General schob sein Kinn vor. Seine Augen blitzten wie frischgeschmiedete Schwerter.
Rondrick suchte weiter. Sein Finger schnellte vor. »Gorr Hardis, der sich seit vierzig Jahren langweilt, wird ebenfalls dabei sein.«
Der Troll grunzte missmutig und eine stinkende Wolke wehte über den Tisch.
»Tja – und damit Euch allen, meine Freunde, nichts geschieht, werden wir in den nächsten Tagen alles daran setzen, den Riesen zu zähmen. Wenn dieser Euch begleitet, dürfte die Mission ein voller Erfolg werden. Ich nehme an, wir finden einen Magus, der uns den Eingang zeigt?«
Schweigen hatte sich über den Raum gesenkt wie eine schimmelige Decke. Sogar Nordon Driúel blickte wie vom Donner gerührt und sein Kehlkopf zuckte. Mit seiner eleganten Elfenstimme sagte er: »Wir werden einen Magus finden, mein König.«
»Das freut mich. Ihr, Egg T’huton, begleitet mich?« Rondrick erhob sich und blickte in die Runde.
Der Bibliotheksmeister schreckte hoch. »Begleiten?«
»Ich reite zum Riesen.«
»Selbstverständlich, mein König.« Er sprang auf und verbeugte sich.
»Holt Magus Prox hinzu. Lasst die Pferde richten. Informiert die Leibgarde.« Rondrick drehte eine Sanduhr um. »In dreißig Minuten reiten wir los.« Er erhob sich, nickte seinem Rat zu, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und stapfte mit festen Schritten aus dem Raum.
Hinter ihm schlug die Tür zu.
Er lehnte sich dagegen und atmete schwer. Schweiß brach ihm aus und ein Zittern befiel ihn. Nebenan fiel kein Wort.
Grisolde erwartete ihn mit offenen Armen.
Seufzend ließ er sich neben ihr auf dem Bett nieder, schloss die Augen und haderte mit sich und der Tatsache, König zu sein.
König Rondrick zügelte seinen Rappen und wartete auf Egg T’huton, der ein miserabler Reiter war. Die Leibgarde hielt sich auf Rondricks Wunsch im Hintergrund, die Finger an den Waffen. Nichts hasste Rondrick mehr, als von waffenstarrenden Männern und deren Pferde eingekeilt zu sein. Ein Ausritt diente dem Vergnügen und das ließ er sich nicht nehmen.
Er dachte an Lady Grisolde, die ihn gestreichelt und beruhigt hatte. Sie war eine starke Frau und wusste, was zu tun war. Rondricks Magen ballte sich zusammen. Noch nie war ihr Einfluss so deutlich gewesen wie heute morgen. Das gefiel ihm nicht.
Andererseits konnte er nicht erwarten, sie möge die Furt überqueren, die zwischen ihnen lag und sich aus den politischen Geschehnissen heraushalten. Weiber hatten grundsätzlich zu allem etwas zu sagen. Wenn sie dazu klug waren, konnte man das als Vorteil nutzen.
Ha, wie sein Rat reagiert hatte, als er den Befehl erteilte, sie mögen nach Unterwelt gehen. Das hatten sie nicht erwartet. So wurde Rondrick jene los, denen er nicht vertraute und das Beste war ... dieser Einfall war ihm selbst gekommen!
Egg T’huton kam neben ihn. Er wackelte auf seinem Sattel wie eine Strohpuppe, die man zu Übungszwecken benutzte, um die Schärfe des Schwertes zu prüfen.
Sie trabten den Weg von der Burg hinab Richtung Stadt. Es war ein wunderschöner Morgen. Der Spätsommer bäumte sich noch einmal auf und sandte seine schönsten Boten. Sie Sonne sorgte dafür, dass auch die letzten grauen Wolken verdampften. Wohin das Auge schaute, färbten sich Blätter gelb, rot und braun, alles strahlte wie frisch poliert.
»Ein wunderschöner Morgen, T’huton«, sagte der König.
Der Riesenzwerg, dem man eher Kampfdienste zugetraut hätte, als den Umgang mit Pergament, Papier und Schrift, antwortete mit seiner seltsam hellen Stimme: »Es ist mir eine große Ehre, Euch begleiten zu dürfen.«
Sie kamen in die Stadt. Dandoria war längst erwacht. Wesen aller Rassen wuselten durch die mit Kopfstein gepflasterten Straßen. Überall herrschte reges Treiben, bis man den König erkannte. Die Dandorianer bildeten eine Gasse und verbeugten sich. Rondrick wusste, was man von ihm erwartete. Er nickte huldvoll. Zwei Soldaten seiner Garde ritten an ihm vorbei, um den vorderen Bereich zu sichern. Rondrick knurrte unwillig. So wurde er stets an seine Position erinnert.
Wie sollte er je seine Stadt erkunden und genießen, wenn man ihn stets wie einen wertvollen Edelstein behandelte? Am liebsten hätte er der Garde einen Abzugsbefehl erteilt, ahnte jedoch den Ärger, den er sich dafür mit Grisolde einhandeln würde.
Erneut träumte er für eine Sekunde von einem Haus und einem Weinberg im Süden von Dandoria, von einem Leben im Verbund mit der Natur.
Sonnenstrahlen schoben sich über die Hausdächer und tauchten die weiß verputzten Wände in ein unwirklich helles Licht. Über Dandoria lag Frieden. Was gestern Abend geschehen war, kam Rondrick wie ein böser Traum vor.
Licht und Dunkelheit. Nichts war gegensätzlicher. Licht und Frieden. Dunkelheit und Dämonen.
Sie kamen zum Marktplatz, auf dem ein Springbrunnen mit der Figur eines frühen Gottes fröhliche Fontänen spritzte, Wasser, das mit großem Druck von den Bergen herab lief. Ein Barde hatte seine kleine Bühne aufgebaut, auf der er Geschichten erzählte, sang und musizierte. Daneben glotzte sein Maultier, das vor einen Karren gespannt war, vor sich hin. Eine Traube Neugieriger hatte sich um den Barden gebildet.
Von seinem erhöhten Standpunkt erkannte Rondrick, dass der Barde eine Königsgeschichte erzählte.
Er zügelte den Rappen, der unwillig schnaubte, klopfte dem edlen Tier auf den Hals und hieß seine Garde warten. Die Dandorianer, die ihren König erkannten, drehten sich vom Barden weg und beugten die Köpfe. Rondrick gab ihnen ein Handzeichen. Man möge sich weiter den Erzählungen des Barden widmen. Zögerlich drehten sie ihm wieder den Rücken zu, nicht ohne über ihre Schultern verstohlene Blicke zu ihm und seinen Männern zu werfen.
Der Barde sang unbeirrt weiter, holte eine Flöte aus der Tasche und blies darauf eine düstere Weise.
Rondrick kniff die Augen zusammen, damit er die handgezeichneten Bilder auf der dünnen Holzplatte besser erkennen konnte. Er stutzte. Eine grauenerregende Gestalt, die Feuer warf. Ein Mann und eine Frau, die nebeneinander saßen. Der Mann fing an zu brennen. Der Barde berichtete, was am letzten Abend geschehen war. Er musste die wenigen Informationen blitzschnell verarbeitet und auf Holz gezeichnet haben.
Woher hatte er seine Kenntnisse?
»Kennt Ihr diesen Mann?«, fragte er Egg T’huton.
Der Bärtige nickte. »Sein Name ist Lindur. Man nennt ihn den flinksten Barden von Mythenland. Kaum ist etwas geschehen, bringt er den Leuten die Neuigkeiten. Immer mit schönen Melodien versehen und ansprechenden Zeichnungen. Er ist ein großer Künstler und zweifellos der beste Barde, den Dandoria je gesehen hat.«
»Ich wusste nicht, dass Ihr ein Freund von Gesängen seid?«, lächelte Rondrick.
Egg T’huton sagte: »Als Meister der Buchstaben muss man ein gewisses Quantum Feinsinn besitzen, mein König.«
»Ihr überrascht mich. Bisher hielt ich Euch für ein Ratsmitglied, welches sich hinter seinem Schweigen verbirgt. Heute hingegen überrascht Ihr mich ein ums andere Mal.«
»Nicht jeder ist so, wie er scheint, mein König ...«
Rondrick schluckte. Was meinte der Bärtige damit?
Soeben wollte er nachfragen, als der Barde zu einem Lied ansetzte, eine fein geformte Harmonie mit perfekten Reimen. Die Stimme des Mannes schwebte kraftvoll über dem Marktplatz. Frauen legten ihre Köpfe auf die Schulter ihrer Begleiter. Kinder hörten mit weit aufgerissenen Augen zu. Sogar die Vögel kamen zur Ruhe und lauschten in ihren Bäumen der Konkurrenz.
»Er ist tatsächlich sehr gut und aktuell. Wir wollen abwarten, was geschieht«, sagte Rondrick.
Als der Barde, dessen rote Haare im Sonnenlicht glühten, zum Ende kam und dem Volk deutlich wurde, dass sie um Haaresbreite ihren König verloren hätten, fuhren sie herum und ächzten.
Rondrick lächelte breit und breitete die Arme aus, als wolle er sagen: Mir ist nichts geschehen!
Egg T’huton sagte leise: »Um Lindur rankt sich ein Geheimnis, mein König. Das solltet Ihr wissen, falls es Euch nicht bekannt ist.«
»Ein Geheimnis?«
»Man sagt, er habe drei Jungdrachen besessen.«
»Drachen?«
»Ja, mein König. Ich weiß nicht, ob dies der Wahrheit entspricht. Später hieß es, die Drachen seien ihm gestohlen worden.«
»Von wem?«
Egg T’huton zuckte die Achseln. »Lindur redet nicht darüber.«
»Wie kommt ein so einfacher Mann an Drachen? Und gleich an drei?«
»Das ist das Geheimnis.«
Rondrick nickte. Im selben Moment trafen sich seiner und der Blick des Barden. Rondrick winkte den Mann zu sich und sprang vom Pferd. Sofort war ein Gardist bei ihm und deckte seine Vorderseite. Rondrick winkte ihn weg. Zögernd bewegte sich der Soldat etwas zur Seite. Der Barde trat zu ihm und neigte den Kopf. »Hoheit ...«, flüsterte er und hielt den Blick gesenkt. »Ich hoffe, mein Vortrag hat Euch nicht beleidigt.«
»Seht mich an, Barde«, befahl Rondrick. »Wie ist Euer Name?«
»Jamus Lindur, Hoheit.«
Der Mann hob den Kopf. Er wirkte nicht älter als fünfundzwanzig Sommer. Sein Gesicht war mit Sommersprossen übersät, was ihm etwas Freches und Draufgängerisches verlieh, ohne anmaßend zu wirken. Er war einfach gekleidet, ein typischer Vertreter seiner Zunft.
»Woher wisst Ihr, was gestern geschah?«
»Verzeiht, Hoheit, dass ich den offiziellen Verlautbarungen des Königshauses vorgriff. Ich bin mir meiner Schuld bewusst.«
»Beantwortet meine Frage.«
»Gegen Mitternacht kursierte das Gerücht, ein Dämon habe versucht, Euch zu töten. Alle Dandoria kennen das Spiel mit der Königskrone. Ich erfuhr, dass Zyxkally getötet worden sei. Ich ging zu seinem Weib, die auch schon informiert worden war. Sie trauert. Also musste die Information richtig sein. Ich bin es meinem Publikum schuldig, sehr aktuell zu sein. Diesmal, mein König, habe ich ...«
»Nichts habt Ihr. Ihr scheint ein fleißiger Mann zu sein. Die Zeichnungen sind wundervoll. Ihr habt sie gleich darauf gefertigt?«
»Vielen Dank! Ihr habt Recht, heute Nacht fand ich keinen Schlaf.« Erneut beugte der Barde den Kopf.
»Ich sagte, Ihr sollt mich anschauen«, knurrte Rondrick. »Ihr habt mir eindeutig genug Ehre erwiesen.« Er lächelte schief und der Barde lächelte zurück. Sie befanden sich auf Augenhöhe. Einen Herzschlag lang schwang zwischen ihnen so etwas wie Verständnis und Rondrick hatte das Gefühl, der Rothaarige habe ihm in dieser kleinen Zeitspanne mit seinen braunen Augen bis ins Herz geschaut. Er weiß, dass ich mich in meiner Königsrolle unwohl fühle! Er ist ein guter Beobachter! dachte Rondrick. Hier sprechen zwei freie Geister miteinander.
»Wo kann man Euch finden, wenn Ihr nicht arbeitet?«
»Ich lebe westlich von Dandoria in einer Kate.«
»Gemeinsam mit Drachen?«
Jamus Lindur zuckte zusammen. Seine Miene veränderte sich. Es war deutlich, dass der Barde versuchte, die Fassung zu behalten. »Nein, mein König ...« stammelte er. »Nein ...«
»Nicht mehr?«
»Seit langer Zeit nicht mehr. Sie wurden mir gestohlen. Ich fand Spuren von Reitern und einem Wagen. Die Kate stank nach Schwefel.«
»Wie kommt ein Mann wie Ihr an Jungdrachen?«
»Das ist eine lange Geschichte, mein König.«
»Dann will ich sie hören.«
Im selben Moment ertönten laute Schreie.
Rondricks Hand fuhr zum Schwert. Egg T’huton quiekte. Seine Hand wies Richtung Norden. »Mein König, mein König!« rief er.
Dämonen?
Ein erneutes Attentat?
In Rondrick überschlugen sich die Gedanken.
Er sprang auf sein Pferd. Die Garde drängte sich zwischen ihn und dem Barden, der, als der König erneut hinschaute, verschwunden war.
Ein dumpfes Pochen dröhnte durch Dandoria. Putz rieselte von Hauswänden. Die Gäule scheuten. Egg T’huton hielt sich nur mit größter Mühe auf seinem Sattel. Die Garde preschte heran und griff Rondricks Rappen am Zügel. Der Soldat riss das Pferd herum. »Wir müssen sofort zur Burg.«
»Was ist los?«, schrie Rondrick über den allgemeinen Aufruhr hinweg.
»Später, mein König. Zuerst müssen wir aus der Gefahrenzone!«
»Soldat, so einfach ist das nicht!«, schnaubte Rondrick. »Ich laufe nicht weg, nur weil ein Erdbeben kommt.«
Ein anderer Soldat hatte sich Egg T’hutons Pferd bemächtigt und zog es von Rondrick fort. Kinder heulten, Menschen und andere Rassen rannten durch die Strassen. Die Bühne des Barden brach zusammen. Das Poltern wurde eindringlicher.
Ein Erdbeben!
Dandoria wird von einem Erdbeben erfasst!
Das Chaos breitete sich mit unglaublicher Geschwindigkeit aus. Flüchtende Dandorier, die sich gegenseitig rempelten, schreiende Kinder, die ihre Mutter suchten, der Esel des Barden blökte herzerweichend, alle rannten durcheinander und Rondrick versuchte krampfhaft, sein Pferd zu beruhigen, während er aus dem Augenwinkel wahrnahm, dass Egg T’huton aus dem Sattel rutschte und auf den Rücken fiel.
Blitzschnell war der Meister der Bibliothek bei ihm, griff nach dem Zügel, stieß die Garden tapfer zur Seite. Alle schrieen durcheinander, Vögel sammelten sich in Schwärmen und machten sich davon. Inmitten des heillosen Durcheinanders riss Egg T’huton einem Gardisten die Zweitwaffe, eine nagelbespickte Keule aus der Hülle. Dem Gardist rutschte sein Schwert aus der Hand. Er riss sein Pferd herum. In seinen Augen stand blanke Panik. Plötzlich war der Barde da. Jamus Lindur sprang vor Rondricks Pferd, hob das Schwert auf und hielt es vor sich, um den König zu schützen. Rondrick hatte unversehens zwei Beschützer, mit denen er nicht gerechnet hatte.
Der Rappe stieg mit den Vorderbeinen hoch. Rondrick presste ihm seine Oberschenkel in die Seite und riss dem Rappen die Trense weit ins Maul, bis das Tier zitternd und dampfend stillstand.
Dann sah Rondrick, was geschehen war. Er und seine Garde waren die einzigen, die auf Pferden saßen. Also erblickten sie das Unheil eher, als die Flüchtenden.
Sein Herz krampfte sich zusammen.
Eiseskälte rann über seinen Rücken, während ihm gleichzeitig Schweiß aus allen Poren drang.
Ein gigantischer Schädel tauchte über den Dächern auf, das breite Gesicht war bärtig.
Der Riese war entkommen.
Er war auf dem Weg in die Stadt.