7. Kapitel
Der Riese stapfte mit mächtigen Schritten durch die Straßen. Er achtete weder auf Lebewesen noch auf Gegenstände. Obwohl in einiger Entfernung zum Marktplatz, war er vom Nabel aufwärts zu sehen. Er war sicherlich dreißig Fuß groß und entsprechend breit.
Er besaß eine bemerkenswerte Kollektion von Erinnerungsstücken. Vor seiner Brust schaukelte ein Schiffsanker, Steine in der Form von Spiralen, ein Gürtel aus Schiffstauen. Seine Beine waren komplett mit Stoff umwickelt, sein Wams bestand aus Tierfellen. Die Arme waren frei und mit farbigen Ornamenten bemalt, die Handgelenke ebenfalls mit Stoff umwickelt. An den Ohren baumelten mit Draht verzierte Steine. Seine Haare waren schulterlang, der Bart reichte ihm bis auf die Brust.
Sein Gesicht wirkte starr, jedoch seine Augen suchten. Flink und lauernd streifte sein Blick von links nach rechts. Knirschend zerbrachen Pferdefuhrwerke unter seinen Füßen, zwei Ochsen flohen und etliche Dandorier konnten sich nur retten, indem sie sich in Torwegen oder Hauseingängen versteckten.
Zornig brüllend tastete der Riese um sich. Er riss Fensterkreuze aus Laibungen und zerbrach sie wie Zahnstocher. Missmutig trat er vor Mauern, die staubig zusammenbrachen oder schlug mit der Faust Löcher in Hauswände. Nur zweihundert Schritte vom Marktplatz entfernt hob er mehrere Strohdächer ab und zerbröselte sie zwischen seinen Fingern wie trockene Kekse.
Tief in der Stadt, viele Gassen entfernt, wehrten sich einige Bürger. Pfeile wurden auf den Riesen geschossen, der sie abwehrte wie ein Mensch es mit Wespen oder Bienen zu tun pflegt. Dabei grunzte er, was wie das Murren einer Herde Rinder klang.
Rondrick sah erschüttert, was er und seine Leute angestellt hatten. Magus Mortimor hatte sie gewarnt.
»Lasst die Finger von den Riesen«, hatte der alte Magus eindringlich beschworen. »Sie sind das Große Volk. Sie existieren seit Äonen und waren nie die Feinde der Menschen. Sie sind ruhig, edel und die besten Freunde der Natur. Schaut euch die Felsen im Gebirge an. Seht genau hin und ihr erkennt Gesichter, Körper. Auf diese Weise werdet ihr so manchen Riesen begegnen, welchen, die eingeschlafen sind, andere wieder, die im unendlichen Zweikampf für Jahrhunderte Verknotungen, Überhänge und natürliche Brücken bilden. Sie leben abseits von uns Menschen, es sei denn, wir bitten sie um Hilfe. Einen Riesen nimmt man nicht gefangen, will man in Ruhe weiterleben.«
»Mein Vater wollte stets einen Riesen fangen. Das war sein Traum. Den wollte ich ihm erfüllen.«
Rondricks Vater war es Zeit seines Lebens nicht gelungen, einen Riesen zu fangen und für militärische Zwecke einzusetzen. Das hatte den Alten gewurmt. Rondrick würde es besser machen. Er würde es seinem Vater - auch wenn dieser tot war - zeigen. Zeigen, zu was er, der sanfte Sohn in der Lage war.
»Unsinn«, hatte der Magus gesagt. »Er sprach davon, doch auf seine Weise war er vernünftig genug, um es zu lassen. Außerdem gelang noch keinem Menschen der Übergang zum Tal der Riesen. Sieh dir die Bergkette an. Die zu überschreiten kostet Kraft und Mut. Und warum das alles? Nein, mein König, dein Vater hatte seine Träume, doch er wusste, welchen davon man verantworten konnte.«
Rondrick hatte trotzig wie ein kleiner Junge auf die Jagd bestanden. Er staunte selbst darüber, einem Riesen außerhalb dessen Tals zu begegnen. Dabei verlor Magus Mortimer sein Leben. Dies war der Augenblick, in dem Rondrick schlussendlich entschied, die Königswürde aufzugeben: Er führte sich seiner Verantwortung nicht mehr gewachsen. Gute Menschen, Mortimor war einer seiner Lehrer gewesen, mussten wegen seiner unausgegorenen unreifen Ideen sterben. Er hatte gehandelt wie ein Kind.
Schon der Gedanke an den Tod seines Lehrmeisters trieb ihm Tränen in die Augen und sein Magen bäumte sich auf. Schweiß trat ihm auf die Stirn und seine Hände fingen an zu zittern. Er starb, weil ich einer fixen Idee nachrannte. Er starb, weil ich …
Nun war es für Jammern zu spät. Der Riesen, den der magischen Bann von Mortimor und die Stahlketten der Trolle gehalten hatte, hatte sich befreit. Und er suchte etwas, oder - jemanden!
Der Riese musste aufgehalten werden. Er zerstörte wertvolle Bauten, sowie die Strassen, Wege und Gassen von Dandoria.
»Riesentöter!«, schrie jemand aus der Menge.
Viele Köpfe wirbelten herum. Hunderte Augen starrte Rondrick an. Blicke, die eines forderten: Beschütze uns vor dem Riesen! Töte ihn, wenn es sein muss, doch halte den Giganten auf!
Magus Prox starrte den König an. »Bei allem Respekt, mein König, gegen den Riesen gibt es kein Mittel.«
»Unsinn«, fauchte Rondrick, der in Schweiß gebadet war. »Dein Lehrmeister wusste, wie man ihn bändigt.«
»Nicht gut genug, mein König! Mein Lehrmeister überlebte es nicht.«
Der junge Magus hatte selbstverständlich Recht!
Die Menge taumelte zurück. Sie drängte sich aneinander wie Kinder, die sich vor einem Gewitter fürchten und bildeten ganz automatisch eine Gasse. Rondrick sah, wie sie sich auftat. Zwischen ihm und dem Feind.
»Wir müssen weg!«, brüllte ein Soldat der Leibwache und versuchte erneut, Rondricks Rappen am Zügel wegzuziehen, doch es war zu spät. Die Menschenmenge drängte sich so dicht an die Pferde, dass nur Gewalt geholfen hätte, um sich zu befreien. Dabei wären Frauen und Kinder zuschaden gekommen und dazu war Rondrick nicht bereit.
»Lasst ab!«, schrie er und der Soldat beugte sich.
Jamus Lindur, der Barde, starrte zu Rondrick hoch.
Egg T’huton hatte größte Not, sein Pferd zu zügeln. Es scheute in einem fort und man hatte jederzeit den Eindruck, der Riesenzwerg stürze jeden Moment zu Boden. »Was tun wir, mein König?« keifte er mit heller Stimme, die im krassen Gegensatz zu seinem wuchtigen Körper stand.
Rondrick kam sich vor wie in einem Alptraum.
Es war eine verteufelte Situation. Er konnte zu keiner Seite flüchten. Vor ihm hatte sich eine Gasse geöffnet. Sein Volk erwartete eine Heldentat, denn sie nannten ihn den Riesentöter.
Lediglich Lindur und T’huton schienen zu ahnen, was in ihm vorging, denn ihre Blicke sprachen Bände. Seine Leibwache war von Bürgern eingekeilt, um sie von Hilfestellungen für den König abzuhalten. Man erwartete von ihm, Dandoria von dem Riesen zu befreien und das Unheil zu beenden.
Magus Prox starrte mit weit geöffneten Augen zum Riesen hoch, der sich erbarmungslos näherte. Der Mund des jungen Magiers stand offen, aus den Mundwinkeln tropfte Speichel. Er begann, die Lippen zu bewegen.
»Was flüstert Ihr?«, fragte Rondrick.
»Ich versuche, ihn zu lähmen.«
Rondrick knurrte, denn der Riese wirkte alles andere als gelähmt. Seine mächtigen Füße, die in hornigen Sandalen steckten, trieben Büsche in den Boden und zermalmten, was ihnen unter die Sohle kam. Die Götter wollten, dass es, soweit man feststellen konnte, bisher keine Toten gegeben hatte. Derweil hatten die Bogenschützen ihr nutzloses Tun eingestellt.
Männer und Frauen kreischten, Kinder quiekten, Rondrick wusste, dass er etwas unternehmen musste, wollte er einer Panik vorbeugen.
T’huton knurrte: »Es gibt nur einen Weg, mein König - nach vorne.«
Der König versuchte, den Blick des Riesen zu fixieren. Vermutlich war es am besten, die Kreatur fände ihn und erkenne ihn wieder, bevor er weiteren unnötigen Schaden anrichtete. Er würde für seine Untat bezahlen müssen, soviel war klar. Alles war besser, als unschuldige Bürger von Dandoria zu gefährden. Er trieb sein Pferd nach vorne, welches wieherte und keine Anzeichen machte, mehr als zehn Schritte zu laufen. Es versuchte zu steigen, doch Rondrick, der ein hervorragender Reiter war, bekam es in den Griff. Er tätschelte die Mähne und flüsterte beruhigende Worte. Er zog sein Schwert aus der Scheide. Es war gut austariert und fügte sich tadellos in seine Finger.
Ein schneller Blick zeigte ihm, dass Magus Prox nicht daran dachte, an die Seite seines Königs zu kommen. Lediglich Egg T‘huton folgte ihm, was Rondrick sehr erstaunte. Diesen Heldenmut hätte er dem Meister der Bibliothek niemals zugetraut. Egg schwang die Keule, welche er dem Gardisten entwendet hatte.
Der Riese hielt an.
Der Boden bebte.
Staub wirbelte auf, und legte sich grau auf die Marktstände. Die Kreatur war groß - unglaublich groß und der menschliche Verstand hatte Schwierigkeiten, die monströsen Proportionen zu definieren. Arme, so lang wie junge Bäume, Beine wie Deckenstützen. Der Kopf seltsam human, wenn auch grobschlächtig. Zwei große runde Augen, aus denen eine unergründliche Seele sprach, blickten Rondrick an. Augen die viel gesehen hatten, denn Riesen wurden hunderte Jahre alt.
Der Riese hatte Rondrick gefunden.
Das gigantische Maul öffnete sich und der junge König dachte, es werde ihn verschlingen. Er hielt das Schwert vor sich und ahnte im selben Moment, dass die Waffe dem Koloss nichts anhaben konnte.
»Der Zauber ist vorüber!«, donnerte die Stimme des Riesen über die Stadt. Die Menge schrie auf, als habe ein Drache Feuer über ihre Köpfe hinweg gehaucht. Sie zerstreute sich und suchte Schutz.
Der Riese öffnete erneut seinen Mund. Wie ein Fluch der Götter dröhnte eine Kakophonie hallender, ineinander verwobener Basslaute über die Stadt.
Rondrick traute seinen Ohren nicht.
Er wurde nicht bedroht – nein!
Der Riese lachte!
Auf dem flachen Gesicht bildeten sich Züge, die jedermann sofort als das erkannten, was es war: Belustigung!
Er will mich nicht töten!, dachte Rondrick erleichtert. Er lacht mich aus. War seine Gefangennahme für ihn nicht mehr als ein Spiel, das er aus lauter Langeweile ertrug?
»Was forderst du?«, brüllte Rondrick und legte den Kopf in den Nacken.
Der Riese ging in die Hocke. Sein Gesicht verdunkelte die Sonne. Ein massiger Fels, der auf einem Rumpf ruhte, so breit, dass er die Sonne verdeckte. Entgegen dem Schrecken, die seine schiere Größe vermittelte, suchte Rondrick vergeblich Anzeichen von Zorn oder Rachsucht. Er begriff, dass der Riese, wäre es anders gewesen, Dandoria in wenigen Minuten hätte zerstören können. Er hatte es nicht getan. Und das hatte Gründe.
»Warum?«, grollte der Riese »Warum sollte ich etwas fordern? Es war meine eigene Schuld, mich auf den Zauber deines Magus einzulassen. Ich gestehe, für eine Weile war es angenehm, dem Traumzauber zu folgen. Die Ruhe, die er mir schenkte, hatte etwas göttliches, ganz so, wie es Vater Nordstein erleben wird, der seit Äonen schläft. Wären nicht die Ketten gewesen, würde ich vermutlich noch immer ruhen und träumen und ihr Winzlinge hättet euren Spaß. Die Ketten waren ein Fehler. Was wir niemals akzeptieren werden, sind Ketten, Herr vom Kleinen Volk. Niemand setzt uns gefangen, es sei denn, ein Riese will es so. Also streifte ich sie ab und machte mich auf die Suche nach dir, der du den Trupp anführtest. Du musst ein tapferer Mann sein, wenn du es mit mir aufnimmst. Ich frage mich, warum du versucht hast, mich zu fangen?«
Rondrick bekam den Mund nicht zu. Aus den Augenwinkeln sah er, dass der Marktplatz wie leergefegt war. Nur der Magus, Egg T’huton und der rothaarige Barde, Jamus Lindur, waren da. Seine Garde hielt sich abseits. Feiglinge! Magus Prox murmelte Beschwörungen, die nichts bewirkten. Der Riese streckte seine Hand aus und schnippte den hageren Mann mit einer beiläufigen Bewegung aus dem Sattel. Der Magus rutschte von Pferd und landete auf seinem Hinterteil. Der Riese öffnete seinen Mund und Rondrick, der ahnte, was kommen würde, hielt sich die Ohren zu.
Der Riese lachte dröhnend.
Als der Donnerhall verklungen war, senkte der Riese seine Stimme und flüsterte, während er dem flüchtenden Magus hinterher blickte: »Fünf Tagesreisen südlich leben unsere Brüder, die Sumpfmänner. Wenn ihr euch mit denen angelegt hättet, wäret ihr jetzt alle tot. Sie spießen euch auf und rösten euch über einem Feuer. Wir hingegen leben in Frieden. Wir sind es nicht gewohnt, dass man diesen Frieden stört. Wer es versuchte, den verjagten wir oder wir stellten uns tot. Es lag nie in unserem Interesse, mit dem Kleinen Volk zu verkehren. Nun jedoch - so meinen unsere Weisen, sei es an der Zeit, miteinander zu sprechen. So soll es sein!«
»Das heißt, du wirst dem Volk von Dandoria nichts antun?«
»Auch wir sind ein Teil von Dandoria, kleiner Mann!«
»Ich meinte, den Leuten der Stadt?«
»Verzeiht, dass ich einige Häuser zerstörte, doch für eine kurze Zeit verspürte ich Wut. Ich wollte mich rächen, euch für eure Überschätzung bestrafen. Dann jedoch erinnerte ich mich der Worte des Großen Ymir. Und fand den Frieden zurück. Auch ihr Kleinen seid ein Teil der Großen Wesenheit, die ihr Natur nennt. Da alles ein großes Ganzes ist, gehört auch ihr dazu, wie Fels und Baum, wie Fluss und Aue. Obwohl wir euch nicht lieben, wollen wir euch zumindest billigen.«
Wie klug er spricht, dachte Rondrick und betrachtete voller Verwunderung das grobschlächtige Gesicht, in dem man - mit viel Phantasie - Güte und Weisheit lesen konnte.
Egg T’huton grunzte. »Er ist ein kluger Kerl! Man könnte meinen, er habe viele Bücher gelesen.«
Der Riese grinste, öffnete seine Zähne, und - als ahne er, was er den Ohren des Kleinen Volkes antue - unterdrückte er sein Gelächter. »Bücher?«, kicherte er, was sich wie ein Sturmwind anhörte. »Wer könnte sie geschrieben haben?«
»Lagorien, Systmar der Erfüllte, W‘ontbra von Facht und viele andere«, sagte Egg T’huton.
»Und andere? Die meisten von denen, mein kleiner Bärtiger, kannten wir gut. Sie kamen durch einen geheimen Zugang in unser Dorf und diskutierten mit uns über die Natur und über das Leben. Systmar war ein arroganter Mann, doch er konnte sehr gut disputieren. Lagorien war leider ein Dummkopf. Wir führten viele Gespräche am Feuer und erkundeten den Stand der Sterne. Wir bauten die Zähne von Stinehodge, wir errichteten in der Meerenge von Südland das Koloss von Rhendus, gemeinsam rodeten wir Felder und errichteten Dämme gegen Wind, Sturm und Wasser.«
Egg T‘huton strahlte. »Ein gebildeter Mann! Wer hätte das gedacht?«
Rondrick traute seinen Ohren nicht. Solange er denken konnte, war er im Glauben erzogen worden, Riesen seien grobe Klötze ohne Verstand und Gewalt bereit wie die Bestien von Unterwelt. Sein Weltbild zerbröckelte. Gleichzeitig verließ ihn die Furcht und er ließ sein Schwert sinken.
Über dem Dorfplatz lag eine gespenstische Ruhe.
Rondrick ahnte, dass sie von Hunderten, wenn nicht tausenden Augenpaaren beäugt wurden, misstrauisch beobachtet. Was hatte der Riesentöter vor? Was geschah auf dem Platz? Warum hatte das Monster den Barden und die beiden Reiter nicht zwischen seinen Fingern zermalmt? Warum flüsterte der Riese dermaßen, dass seine Worte nur als dumpfes Windgrollen zu ihnen wehte? Man konnte fast den Eindruck bekommen, es bestehe keine Gefahr.
»Was nun?«, fragte Rondrick.
»Ihr kommt mit zu uns«, sagte der Riese.
»Wie bitte?«
»Es gibt zwei Möglichkeiten, kleiner König. Ihr kommt freiwillig mit, oder ich nehme euch vom Pferd und trage euch unter dem Arm in meine Heimat.«
»Aber - aber was soll ich dort?«
»Das wirst du sehen.«
T’huton mischte sich ein. »Was wird mit meinem König geschehen?«
»Das wird er bald erfahren.«
Der Barde hob seine Faust. »Ich könnte dir einen Schlag verpassen.«
»Vorher drücke ich dich platt wie eine Wanze, Geschichtenbewahrer.«
»Geschichten? Woher weißt du das?«
»Ihr werdet es bald erfahren.«
Der Riese machte Anstalten, aufzustehen. Seine Muskeln zuckten. »Willst du, König Rondrick, dass man sich an dich mit Behagen und Wohlgefühl erinnert?«, flüsterte der Riese und schmunzelte.
»Meinst du mich?«
»Ja, König.«
»Sich an mich erinnert?«
»Möchtest du oder soll ich dich und deine Freunde wie ein Spielzeug wegtragen?«
Rondrick seufzte. Das ging über sein Begriffsvermögen. Er entschied sich für das, was eindeutig angenehmer klang. »Mit Wohlgefühl, was immer du meinst, Riese.«
»Dann richtet eure Waffen auf mich, macht ein paar Faxen und tut so, als wenn ihr mich unterwerft. Dann führt mich aus der Stadt.«
Der Barde lachte schallend. »Was für eine Geschichte! Das glaubt mir niemand!«
Der Zwergriese schlug die Hand vor den Mund und schüttelte den Kopf. Er riss seine Augen auf und knurrte erschüttert.
König Rondrick verstand die Welt nicht mehr.
Der Riese erhob sich und tat, als weine er. Der Barde sprang von einem Bein aufs andere und machte ungestüme Gesten. Egg T’huton schüttelte die Keule. Der Zwergriese galoppierte um den Riesen herum und fuchtelte mit den Armen. Rondrick löste sich aus seiner Starre und breitete die Arme aus, wobei in seiner Rechten das königliche Schwert glühte. »So sei mein!«, brüllte er, so laut er konnte und hoffte, man verstehe ihn gut. »Sei mein Gefangener und lasse dich zurückführen!«
»Verschwinde aus unserer Stadt!«, brüllte der Barde.
Der Riese knurrte und grollte, er senkte das Haupt und schlich wie ein betrübter Gefangener aus der Stadt, verfolgt von drei Männern, die aus Leibeskräften so taten, als seien sie Helden und sich fragten, womit sie dieses Geschenk verdient hatten.
General Moren Syndar, Inquister Balger und Schatzmeister Redus Dorr traten ein.
Balger nickte freundlich, Syndar und Dorr unterließen alle Ehrerbietungen. Sie würden nie vergessen, dass diese schöne Frau einem Handelsgeschlecht abstammte. Sie hatten Rondricks Wahl nie gut geheißen. Hinzu kam, dass Syndar mehr über Grisolde wusste, als gut war. Also begab sich die Königin auf die Stufe der drei Männer und tat so, als ignoriere sie die Unverschämtheiten. Diese Männer waren ihr nützlich, nichts anderes zählte.
Grisolde ließ Wein und Brot bringen, was zwei schwarzhäutige Sklaven sofort umsetzten.
»Kommen wir gleich zur Sache«, sagte Grisolde.
»Er will mich nach Unterwelt schicken«, knurrte der General.
»Mich auch«, schnappte Balger. Stöhnend setzte er sich und tupfte mit einem blütenweißen Tuch Schweiß von seiner Stirn. »Man könnte den Eindruck bekommen, Euer Gemahl, Lady Grisolde, weiß mehr, als uns gut tut. Will er uns loswerden?«
»Wir sollten die Intelligenz des Königs nicht überschätzen, meine Herren«, gab Grisolde mit kalter Stimme zurück.
Die Männer zuckten zusammen.
»Warum ging er auf Riesenjagd?«, fragte der Schatzmeister.
Grisolde zuckte die Achseln. »Er wollte es. Wir wissen, dass er sich mit vielen unsinnigen Ideen trägt. Ich konnte ihn nicht davon abhalten.«
Ich habe ihn bekräftigt, doch das soll niemand wissen! Ich hoffte, er würde es nicht überleben. Stattdessen starb der Obermagus – eine Schande!
»Man nennt ihn den Riesentöter!«, knurrte der General.
»Tatsächlich?«, tat Grisolde, als höre sie es das erste Mal.
»Und nun ...«, sagte Balger »... liebt ihn das Volk noch mehr, denn er verjagte den ausgebrochenen Riesen aus Dandoria.«
»Wart Ihr dabei?«
»Nein, Lady Grisolde. Jedoch man spricht darüber. Er muss sich sehr tapfer verhalten haben. Selbst seine Garde lief davon. Offensichtlich verfügt unser König über eine große Portion Mut.« Der Inquister strich sich über den mächtigen Bauch und grinste. »Wer hätte das gedacht?«
Der General zischte. »Die Gardisten, die ihn feige beim Riesen ließen, wurden vor einer Viertelstunde geköpft.«
Dorr räusperte sich.
Balger rieb seine Nase.
»Korgath stellt im Norden eine Armee zusammen«, fuhr Syndar unbeirrt fort. »Er will neuer Erzkönig werden. Vermutlich wird er den Winter abwarten und uns im Frühjahr angreifen. Er weiß, wie wichtig Dandoria als Zugang zum Meer ist.«
»Ist das sicher?«, fragte Grisolde.
»Unsere Spione lassen keinen Zweifel daran!«
Dorr, der Schatzmeister, schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, warum unser König diese Tatsache abtut?«
Grisolde legte die Fingerspitzen aneinander. »Er ist ein Träumer.«
»Die Frage ist ...«, Syndar legte seinen hageren Schädel schräg. »Die Frage ist, ob unser König eine Gefahr für uns alle darstellt? In den heutigen Zeiten darf Dandoria nicht von einem Träumer regiert werden. Wir alle würden uns unter Eurem Schutz wesentlich wohler fühlen, meine Lady.« Er grinste schräg.
Oder ihr schafft mich beiseite und übernehmt Dandoria, nicht wahr? dachte Grisolde. Man würde sie nie auf dem Thron akzeptieren, nicht, nachdem der General herausbekommen hatte, dass Grisolde in jungen Jahren in zwielichtigen Häusern gearbeitet hatte. Das war lange her und auf der anderen Seite des Meeres gewesen, doch der Zufall hatte Syndar diese Information zugespielt. Grisolde wusste genau, dass auch sie nur benutzt wurde. Es lag an ihr, dieses Spiel zu gewinnen. Dafür benötigte sie Scharfsinn und davon hatte sie genug. Wie sonst wäre es ihr sonst gelungen, einen Mann wie Rondrick zu ehelichen – über alle sozialen Schranken hinweg? Genau genommen war Rondricks Plan, sich jener zu entledigen, denen er nicht traute, klüger, als sie ihm zugetraut hätte.
»Warum sind wir hier?«, fragte der Inquister lauernd.
Auf diese Frage hatte Grisolde gewartet. Sie machte eine Kunstpause um die Spannung zu erhöhen. »Wie kommt es, dass unser König nicht zurückgekehrt ist?«
Der General grinste. »Man sagt, sein Bibliotheksmeister sei dabei gewesen ...«
»Egg T’huton?«, fuhr Dorr hoch. »Davon wusste ich nichts.«
»Ja, der Schweigsame«, gab der General zurück.
Dorr schüttelte den Kopf und zwirbelte seinen Bart. »Sachen gibt’s ...«
Syndar sagte: »Außerdem hat sich der tapferen Gruppe ein Barde angeschlossen. Wir alle kennen ihn. Er belustigt seit Jahren das Volk. Seinen Namen kenne ich nicht.« Er überlegte. »Vielleicht sind sie in eine Schänke eingekehrt und feiern ihren Sieg über den Riesen?«
Grisolde ließ die Worte abtropfen. »Oder sie sind letztendlich von dem Monster getötet worden.«
Dorr füllte sein Glas und leerte es mit einem Zug.
Grisolde lächelte. »Wäre das so abwegig?«
Syndar grinste. »Man weiß nie, was einem so alles widerfährt, nicht wahr?«
»So ist es, General«, sagte Grisolde.
Balger kaute auf einer Brotkruste herum und spülte mit Wein nach. Er wischte sich den Mund ab. »Solange wir uns nicht sicher sind ...«
»Ich will, dass Ihr, General Syndar, Ihr Schatzmeister Dorr und Ihr, Inquister Balger, Euch aufmacht, um den König zu suchen. Findet meinen Gemahl.« Sie machte eine lauernde Pause und fügte mit langsamen Worte hinzu: »Lebendig ... oder tot! Wir haben am Beispiel unseres Obermagus gesehen, wie schnell ein Mann im Kampf gegen einen Riesen ums Leben kommen kann.«
Syndar stellte das Weinglas aus dandorianischem Kristall ab, das es knallte. Er starrte Grisolde an, als habe er sie nie anders eingeschätzt und bleckte die Zähne.
Balger verschluckte sich an seinem Brot und spülte erneut nach. Er legte seine fleischigen Finger auf die Tischplatte und musterte seine Ringe.
Lediglich der Schatzmeister reagierte gelassen. »Ich kann Eure Sorge verstehen, Lady Grisolde ... meine Königin!« Er beugte sein Haupt. »Es wird uns ein Vergnügen sein, Euerm Befehl zu dienen. Dennoch bedenkt, dass es noch keinem Menschen gelang, die Höhen zum Tal der Riesen zu überschreiten.«
»Deshalb beeilt euch, ihn und den Riesen noch vor den Bergen zu stellen!«, fauchte Grisolde.
Syndar nickte. »Das könnte funktionieren.«
Balger zog die Augenbrauen hoch. »Ich brauche ein Streitross. Keines von diesen schmalen Dinger, die nach einer Stunde schnaufen, weil ich ihnen zu schwer bin.«
Grisolde erhob sich und reckte ihren Körper. Durch ihr halbdurchsichtiges Gewand waren ihre runden Brüste gut zu sehen. Sie nickte einem nach dem anderen zu. »Ich danke Euch, meine Freunde. Sucht und findet den König. Über den Dämonenangriff werden wir später reden, auch darüber, was zu tun ist. Wir gehen einen Schritt nach dem anderen.« Sie drehte sich um und verließ mit schwingenden Hüften den Thronsaal.
8. Kapitel
Dunkelelf Murgon, Lord von Unterwelt, bewunderte seine Dokks. Diese dämonischen Wesen liefen auf sechs Beinen, waren hüfthoch und so lang wie ein ausgewachsener Mann. Ihre Mäuler troffen und die roten Augen glühten gefährlich. Murgon war stolz darauf, dass es ihm und seinen Gehilfen gelungen war, den Bestien so etwas wie einfache Intelligenz einzupflanzen. Sie hatten die Fähigkeit, simple aufeinander folgende Befehle einzuhalten. Die setzte eine bescheidene Logik voraus. Wenn es ihm gelang, diese Fähigkeiten zu steigern, würden die Dokks an seiner Seite ein wichtiger Anteil seiner dunklen Armee sein.
Dafür war große Magie erforderlich gewesen.
Murgon war der mächtigste Elf, den es je gegeben hatte. Er war in der Lage, Dinge zu tun, zu der kein gewöhnlicher Elf in der Lage war.
Er fühlte sich stärker denn je. Die Drachen hatten dafür gesorgt, dass er mit neuen Kräften versorgt wurde. Selbstverständlich konnte er den Dämonenmann nicht vergessen. Als er versuchte, sich den Dämon zu unterwerfen, war etwas geschehen, was er noch nie erlebt hatte:
Der Dämon zapfte ihm magische Kräfte ab. Nur seine Schwester Gwenael war es zu verdanken gewesen, dass die Unterwerfung nicht in einem Desaster geendet hatte.
Nun war der Dämon geflüchtet. Mit ihm die Barb.
Der Dunkelelf feuerte die zwei Dokks an, die schnappend und voller atavistischer Energie die Höhlen durchsuchten. Er selbst schritt, wie immer mit einer schwarzen Robe bekleidet, hinter ihnen her. Gwenael hielt sich etwas abseits. Seitdem sie um Haaresbreite von drei Dokks getötet worden war, hasste sie die Bestien.
»Sucht und findet!«, rief Murgon. Er stützte sich auf seinen Stab. Seine weißen Haare wehten in einer Brise, die durch die Gänge fuhr. Sein dunkelbraunes hageres Gesicht glühte vor Zorn. Falls die Barb nicht auffindbar blieb, war ihm die letzte Gelegenheit genommen, das Artefakt der Wächter zu entschlüsseln. Alles war vergeblich gewesen. Er würde weiterhin über Unterwelt herrschen, alleine, einsam und ohne tieferen Sinn. Der Sinn lag in dem hölzernen Behältnis, welches er öffnen wollte. Er ahnte, dass dies seine Aufgabe, seine Bestimmung war. Warum sonst hätte ausgerechnet er als junger Elf, der sich damals Feiniel nannte, den Kasten finden sollen? Er war erwählt.
Sprach Dornotul der Schwarze durch das Schicksal? Dornotul, der ehemalige Herr über Unterwelt, dessen Rückkehr ins Haus stand? Dornotul, der die gigantische Festung erbaut hatte?
Murgon ahnte, dass Gwenael die Macht nicht mit den Wächtern teilen wollte. Sollte sie. Er, Murgon, würde sich in den Dienst der großen Schwarzen Dämonen stellen, an ihrer Seite Mythenland unterwerfen und letztendlich über die Götter herrschen.
Nun lief alles schief.
Die Drachen hatten versagt. Sie hatten das Drachenei von Sharkan, dem Schwarzen Vierköpfigen nicht gefunden. Sharkan, der ausersehen war, die Armee anzuführen. Der grausamste Drache, den es je gegeben hatte. Er würde in Kürze schlüpfen. Alles wies darauf hin. Das erste, was er sehen sollte, war Murgons Gesicht. Somit würde er ihm auf alle Ewigkeiten folgen.
Die roten Drachen hatten auf der Zwergeninsel gewütet und gesucht, danach auf der Insel der Barbs. Murgon wusste, dass sich das Ei auf einer der beiden Inseln befand und zitterte bei dem Gedanken, seinen Drachen nicht mehr vertauen zu können. Hatten sie es gefunden und hielten es vor ihm verborgen?
Unmöglich! Sharkans Aura wäre Murgon nicht verborgen geblieben!
Dennoch hatten die Drachen sich gegen ihn gestellt. Er würde sie schrecklich bestrafen müssen. Sie hatten dazu beigetragen, dass der Dämonenmann und die Barb flüchten konnten. Sie hatten Dogdan den Unseligen um Haaresbreite verbrannt.
Kein Ei!
Ein Artefakt, dessen Rätsel sich nicht lösen ließ!
Drachen, die sich gegen ihn stellten!
Eine Schwester, deren Beweggründe ihm unklar waren!
Und Dogdan war nicht aufzufinden.
Bei den schwarzen Göttern! Er war selbstmitleidig. Darin war er stets groß gewesen, eine Angewohnheit, von der er nicht lassen konnte, obwohl er sich ihrer bewusst war.
Ein Dokk heulte auf und sprang einen Widergänger an, ein schleimiges Wesen, das sich in Unterwelt nicht richtig auskannte. Es war aus dem Nichts erschienen und wurde zerfetzt, bevor es einen klaren Gedanken fassen konnte. Hin und wieder ließ Murgon den Dokks ihr Vergnügen. Nur wenn sie richtig aufgeheizt waren, konnte er sich auf ihren Instinkt verlassen. Ihr Gehirn brauchte Nahrung, um einfache Gedanken zu verarbeiten, die über den Instinkt hinaus gingen. Hinter ihm würgte Gwenael. Murgon blickte sich um und lachte:
»Seit wann bist du so sensibel, Schwesterherz?«
Die Elfe mit den schwarzen Haaren lächelte schief. Murgon trat zu ihr und verstellte ihr den Weg. »Schau dich um, Gwenael! Wohin du blickst, herrscht Düsternis. Grauenhafte Wesen, Monster und Dämonen. Was, bei den Göttern, suchst du hier? Ist es tatsächlich nur Bruderliebe oder hast du andere Pläne?«
Die war das erste Mal, dass er sie so offensichtlich darauf ansprach und Gwenael zuckte zusammen. Sie fasste sich und strich Murgon mit dem Handrücken sanft über die Wange. »Ich war dir immer verbunden und so wird es stets sein.«
»Du könntest zurück nach Solituúde. Noch bist du eine weiße Elfe. Noch bist du nicht der Dunkelheit verfallen. Deine Augen leuchten rot und deine Haut ist weiß. Kehre zurück und kümmere dich um Katraana. Um ihre Familie. Um alle diese widerlichen Janusköpfe.«
»Du siehst das richtig. Eben deshalb bin ich hier. Ich ertrage nicht, wie viel Ungerechtigkeit man dir zugefügt hat.«
»Das ist vorbei. Zeit ist ein gutes Heilmittel. Ich bin nicht mehr derjenige, der ich war, als Katraana alles änderte!«
Gwenael blickte über seine Schultern und äugte zu den Dokks, deren Schnauze im Schleim wühlten.
»Sie sind beschäftigt«, sagte Murgon. »Was liegt dir auf der Seele?«
Fuhr sie vor ihm zurück? Blitzte Angst in ihren Augen?
»Wenn es sein muss, sage ich es dir hier, Bruder! Vor kurzer Zeit unternahm ich eine Mentalwanderung. Ich wurde nach Solituúde gerufen. Das Elfental steht vor dem Untergang. Düstere Schwingungen herrschen. Die Natur verfault, Tiere sterben und Elfen verhalten sich zueinander wie betrunkene Orks.«
Murgon schüttelte den Kopf. »Na und?«
»Man glaubt, es sei deine Rache an Elfental.«
Er lachte. Seine dunkle Stimme klang rau und alt, obwohl er sehr jung war. »Damit habe ich nichts zu tun.«
»Ich weiß«, sagte Gwenael. »Ich sagte es Katraana.«
»Katraana?« Murgon kniff die Augen zusammen. Er hatte an sie gedacht und nun kam seine Schwester mit dieser Geschichte? »Was hat das alles mit Katraana zu tun?«
»Sie ist eine junge Frau geworden, Murgon. Sie gilt als die beste Kriegerin von Elfental. Außerdem ist sie eine begnadete Magierin.«
»Sehr gut.« Murgon räusperte sich. »Dann soll sie ihrem Volk helfen.«
»Das will sie tun, Murgon. Sie wird hierhin kommen, um dich zu töten.«
Der letzte Satz schwang zwischen den Felswänden wie ein unseliges Echo. Murgon traute seinen Ohren nicht. »Töten? Sie will mich töten?«
Gwenael biss sich auf die Unterlippe und nickte.
»Das geht nicht!«, rief Murgon.
»Ich sagte ihr, sie solle in Solituúde bleiben. Ich flehte sie an, den Plan nicht auszuführen.«
»Das geht nicht!«, wiederholt Murgon.
»Im selben Moment war die Mentalwanderung beendet.« Sie machte eine Pause und wies auf die Dämonenhunde. »... und ich hatte es mit diesen grauenhaften Wesen zu tun.«
»Deshalb warst du so schwach?«, kicherte Murgon. »Kein Wunder, dass ich dich vor den Dokks retten musste.« Er legte den Kopf an den Stab. Sein schönes Antlitz wirkte gutmütig, bis er sie mit schwarzen Augen anblitzte. »Warum sagst du mir das erst jetzt?«
Gwenael duckte sich. »Es gab so viel anderes zu tun.«
»Am liebsten würde ich dich ... würde ich dich ...«, krächzte er unvermittelt los. Die Dokks reagierten sofort und kamen angerannt. Breitbeinig, mit saftenden Lefzen, sicherten sie und starrten Gwenael an.
Ich könnte sie an Ort und Stelle töten!, dachte Murgon, der wusste, dass Gwenael seine Gedankenbarriere nicht durchbrechen konnte. Obwohl sie selbst eine starke Kriegerin ist, würde sie den Zähnen und der Schnelligkeit meiner Dokks nicht entkommen! Das wäre eine gute Gelegenheit, um zu schauen, wie sie sich in den letzten Tagen entwickelt haben.
Er entschied sich anders, atmete tief ein und aus und zwang sich zur Ruhe.
Er lachte. »Entschuldige den ... Gefühlsausbruch.«
Er würde es sich merken. Er hatte ein gutes Gedächtnis. Momentan benötigte er Gwenael. »So sei es, Schwesterherz. Umso wichtiger ist, dass wir den Übergang finden. Also erinnere dich! Wo hast du das Schiff gesehen?«
Sie starrte ihn an. Er las ihre Gedanken. Sie traute ihm nicht. Sein Stimmungsumschwung war zu schnell gegangen. Er spürte fast körperlich, dass sie sich gegen einen Angriff wappnete.
»Katraana«, murmelte er. »Warum glauben sie, was geschieht, sei meine Schuld?«
»Sie sagen, du bist ein Mörder.«
Er stutzte. »Na und? Bin ich der erste Elf, der getötet hat?«
»Kein Elf tötete je seinen Vater!«
Blitzschnell kam die Erinnerung. Sie sprang Murgon an wie ein wildes Tier und setzte die Gegenwart außer Kraft.
Gwenael trat zurück. Die Dokks senkten die Schädel und jaulten, als habe man sie gezüchtigt. Ein blaues Tuch legte sich über den Lord der Unterwelt. So sehr er versuchte, sich dagegen zu wehren, gab es kein Entrinnen. Er wusste, dass die Erinnerungen nur wenige Sekunden vorherrschten. Dies waren Sekunden, die er bei der Jagd nach dem Dämonenmann und der Barb verlor. Sekunden, die er hasste, denn sie waren wie ein Fluch und belästigten ihn stets, wenn er an das Geschehen zurückdachte.
Sein Vater!
Er, Murgon, ein Vatermörder!
Es war die Zeit, als Feiniel Aquarelle malte und Gedichte schrieb, ein heller Kopf mit Feinsinn. Er war der Sohn von Segurían von Ranéwén, dem Elfenlord über Tal Solituúde. Er lebte in einem weißen Palast mit goldbeschmückten Fenstern, weichen, architektonisch herzergreifenden Rundungen und rotglühenden Kletterrosen. Es war eine gute Zeit und Gwenael, seine große Schwester, kümmerte sich rührend um den hübschen Lordnachfolger.
Bis er das Artefakt fand und lernte, dass auch das sogenannte schöne Volk von Missgunst, Furcht und Diskriminierung zersetzt sein konnte. Obwohl Feiniel in seinem Elternhaus blieb, war er einsam und alleine. Seine Eltern wendeten sich gegen ihn, seine Freunde drehten sich weg. Feiniel war ein fleißiger Schüler, lernte schnell und schließlich kam der Tag, an dem er seinen Zorn nicht bändigen konnte. Er bestrafte seinen Vater, indem er ihn unterwarf und sich von ihm das Artefakt aushändigen ließ, welches der mächtige Mann ihm weggenommen hatte.
Von nun an fürchtete ihn seine Familie noch mehr.
Feiniels Haar färbte sich weiß, seine roten Augen wurden schwarz.
Je mächtiger er wurde, desto beliebter war er bei den Weiblichen. Sie umgarnten ihn und sonnten sich in seiner ergrauten Aura. Ihnen las er seine düsteren Gedichte vor. Bei ihnen holte er sich Zustimmung und etwas, dass er für Liebe hielt.
Es geschah, was kommen musste.
Sie hieß Suún und er schwängerte sie. Suún, die Unselige, wurde von ihrer Familie verstoßen. Es sei nicht zu akzeptieren, dass sie dem gefürchteten Feiniel ein Kind schenke. Feiniel sei mit Dämonen verbunden, man erinnere sich seiner mächtigen Zauberkraft.
Nein, er sei ein Feindenker. Er schreibe Gedichte. Er habe alle Prüfungen bestens absolviert. Er sei gut und lieb und zärtlich, verteidigte sie ihn.
Suúns Eltern ließen nicht mit sich reden und verstießen sie. Sie brachte eine Tochter zur Welt und nahm sich das Leben.
Feiniel wollte es ihr gleichtun.
Sein Kummer war größer als die Welt, in der er lebte.
Wäre das Kind nicht gewesen. Ein Kind, seine Tochter, die ihn benötigte. Voller Hass und Trauer kümmerte er sich um die Kleine. Niemand mischte sich ein. Man akzeptierte ihn als Vater.
Das Kind war ein hübsches Mädchen mit blonden Haaren. Wie alle Elfen wuchs sie schnell, maß bald drei Fuß und war mit sechs Jahren schlank und gelenkig. Ihr Verstand loderte, ihre Kraft war die eines wilden Tieres. Feiniel war stolz auf sie.
Er erinnerte sich, dass er die Kleine gerne an sich drückte. Er sang ihr das Lied von Vater Federleicht vor und nahm von ihrer Phantasie Besitz, indem er sie auf sanfte Gedankenreisen mitnahm, stets spannende Momente, die er bis heute nicht vergessen hatte.
»Katraana«, flüsterte er seiner Tochter ins Ohr. »Katraana – bald wirst du eine mächtige Elfe sein, die Tochter desjenigen, der das Artefakt der schwarzen Wächter öffnete. Du wirst an meiner Seite sein und mit mir herrschen ...«
Er sah nicht den Schatten des Mannes, der hinter der Hecke zu Licht und Sonne betete. Er war so in seine Liebe versunken, dass es eine Weile dauerte, bis ihm klar wurde, dass sein Vater den geflüsterten Monolog belauscht hatte.
Segurían von Ranéwén, der Lord von Elfental, baute sich vor ihm auf. Obwohl Feiniel bei seinem Vater tiefe Furcht spürte, sagte der Mann: »Du gibst mir das Kind, Feiniel! Ich werde niemals zulassen, dass du es in deine düstere Welt hinein ziehst.«
Der junge Elf verharrte. Er drückte dem Kind einen Kuss auf die Stirn und drückte das zitternde Mädchen an sich. Er wollte keinen Streit. Er wollte nur seine Ruhe. Er benötigte diesen Raum, um seine Gefühle in Ordnung zu bringen. Alles, was in ihm war, jede positive Emotion, schenkte er Katraana.
»Lass uns alleine, Vater«, sagte er mit ruhiger Stimme.
»Du hast die Mutter des Kindes umgebracht«, sagte der Elfenlord.
»Du weißt, dass das nicht stimmt. Ihre Familie verstieß sie. So, wie ihr mich verstoßen habt, nur, weil ich diesen unsäglichen Holzkasten fand. Mich wundert, dass du meine Tochter nicht getötet hast.«
»Sie kann nichts für ihre Eltern.«
»Zumindest in der Hinsicht scheinst du weiser, als die Familie von Suún.« Feiniel lachte krächzend. Seine Tochter starrte mit großen Augen zu den Männern. Sie fing an zu weinen.
»Du hättest wissen müssen, wie Suúns Eltern reagieren, als du dich mit ihr abgegeben hast. Es war unverantwortlich.«
»Lass uns alleine!«, sagte Feiniel erneut und seine Stimme nahm einen harten Klang an.
Sein Vater griff Katraanas Arm. Er versuchte, sie von Feiniel wegzuziehen. Der junge Elf ließ seine Tochter los, denn er wollte nicht, dass sie Schmerzen litt.
»So ist es gut«, sagte der Elfenlord und schickte sich an, mit ihr davon zu gehen.
»Nichts ist gut, Vater!«, schnappte Feiniel und sprang von der Marmorbank auf.
Segurían von Ranéwén drehte sich um. In seinen roten Augen glomm ein beunruhigendes Feuer.
Katraana jammerte und wollte sich von ihm losreißen. Ihr schmales Ärmchen winkte. Sie wollte zurück zu ihrem Vater.
»Lass sie los!«, durchschnitt Feiniels Stimme die Natur.
»Was, wenn nicht? Wirst du deine Macht an mir erproben? An deinem eigenen Vater?«
»Bist du das? Sollte ein Vater nicht zu seinem Sohn stehen? Sollte ein Vater seinen Sohn vor Unbill beschützen? Ja, das sollte er und nichts davon hast du getan. Denn du bist ein Feigling, großer Elfenlord. Ein dummer Holzkasten machte aus dir eine kriecherische und würdelose Kreatur. Deine Furcht vor den schwarzen Wächtern ist so groß, dass du deinen Sohn zerstört hast.«
Der Elfenlord runzelte seine Brauen. »Nein. Es sind nicht die Wächter, vor denen ich mich fürchte. Es ist dein Blut. Es ist dein schwarzes düsteres Blut. Als kleines Kind spürte ich, dass mit dir etwas nicht stimmte. Es gibt keine Zufälle, Feiniel. Deshalb wurdest du erwählt. Du weißt nicht, wie oft ich für deine Seele betete. Stets gab es nur eine Antwort: Dieser junge Elf wird Mythenland vernichten. Dieser junge Elf trägt das Böse in sich! Ich sah Bilder, in denen du durch Blut gewatet bist. Ich sah dich über Schlachtfelder schreiten, während ein vierköpfiger Drache hinter dir lauerte. Blut, wohin ich blickte. Tote, die du zu verantworten hast.«
»Kein Kind ist von Geburt an böse!«, schrie Feiniel. Tränen liefen über seine Wangen. »Jedes Kind ist reinen Herzens. Es benötigt Liebe, damit es wächst und gedeiht wie eine saftige Pflanze. Und was hast du mir gegeben? Meine Mutter ist eine Närrin, meine Schwester hat sich längst von dir abgewendet und ich – ich ...« Ihm fehlten die Worte.
Der Elfenlord lächelte traurig. »Sieh dich an. Deine Hände zittern. Deine Augen glühen wie Kohlen. Deine Aura ist dunkelgrau. Das kann keine Voraussetzung sein, um ein Kind zu erziehen. Ich wartete sechs lange Jahre und schaute zu, was du mit deinem Spielzeug anstellst.«
»Spielzeug?« Feiniel stockte der Atem.
»Ja, Feiniel. Wirst du sie, wenn sie dir auf die Nerven geht, genauso einfrieren und zerschlagen, wie du es mit unserer Katze getan hast?«
»Du... du stellst das Wohl einer Katze über ...« Feiniel schluchzte. Er hasste sich dafür.
»Ich sehe, dass meine Träume recht hatten. Auch deine sogenannte Liebe zu Katraana brachte dich uns nicht näher.«
»Ich bin ihr nahe! Das genügt!«, schrie Feiniel verzweifelt, während Katraana erbärmlich schluchzte und an der Hand ihres Großvaters zusammen sackte. Sie gab auf. Sie war so klein. Ein Grashalm, dass im Sturm geknickt werden konnte. Zerstört für ihr restliches Leben.
»Habe Mitleid mit ihr«, sagte der Elfenlord. »Gebe sie frei, damit aus ihr eine gute Elfe wird. Dann verlasse uns. Verlasse das Tal. Niemals wirst du mein Nachfolger werden. Dein Schicksal hat etwas anderes für dich ersonnen.«
»Vater«, krächzte Feiniel. »Ich habe alles verloren. Meine Jugend, meine Freunde, meine Frau, meine Familie – und nun auch meine Tochter?«
»Du schwelgst in Selbstmitleid, dunkler Lord!« Die letzten beiden Worte spie der Mann aus und Feiniel fühlte sich, als sei er geschlagen worden.
»Dunkler Lord?«, fragte er, denn er glaubte, sich verhört zu haben.
Der Elfenlord drehte sich um und zog Katraana hinter sich her. Feiniel wusste, dass das Gespräch für seinen Vater beendet war.
Aufschreiend breitete er seine Arme aus.
Niemals würde er sich seine Tochter nehmen lassen!
NIEMALS!
Er konzentrierte schwarze Macht, über seinem Körper waberte die Atmosphäre, heißer Wind kam auf, Vögel fielen tot zu Boden und der Elfenlord blieb stehen. Er stieß das Kind von sich, welches schreiend hinfiel, wegkroch und hinter einer Hecke Schutz suchte.
»So wird es enden?«, flüsterte Segurían von Ranéwén.
»Lass mich mit meiner Tochter ...«
»NEIN!«, schrie der Elfenlord und Feuer sprang aus seinen Fingerspitzen. Fast hätte Feiniel gelacht. Elfen waren keine Magier. Dies war alles, was sein Vater ihm entgegen zu setzen hatte. Ein Kunststück, auf das er stolz war. Ein Witz! Der Witz eines Feiglings! Das unnütze Aufbäumen eines Mannes, der lieber aus Prinzip starb, als seinen eigenen Sohn anzuhören. Er hatte es nicht besser verdient!
Mit einer Andeutung seiner Kraft, indem er seine Fingerspitzen bewegte, als verjage er eine Fliege, schleuderte Feiniel dem Mann, der nun nicht mehr sein Vater war, eine Wand düsterer Aura entgegen. Eine Wand, so dicht wie Stahl. Sie donnerte lautlos gegen Segurían von Ranéwén, umfing den Mann und presste diesem innerhalb eines Blinzelns das Leben aus dem Körper.
Der Elfenlord sank vornüber auf die Knie, als wolle er sein letztes Gebet sprechen. Als er aufschlug, war er tot.
»Niemals ...«, murmelte Feiniel, dessen Augen brannten und dessen Wangen nass waren. »Katraana bleibt bei mir.«
Er flocht seine Magie zu einem einzigen Strang und verstaute ihn. Dann sprang er über die Leiche des Mannes hinweg und suchte seine Tochter.
Er fand sie nicht.
Fand sie niemals.
Sie war davongerannt.
Sie hatte sich versteckt und alle Magie der Welt brachte sie nicht zum Vorschein.
Es war vergeblich gewesen.
NUTZLOS!
Er hatte nicht mehr viel Zeit, sie zu suchen, denn er verließ das Elfental. Er ging nach Unterwelt und hatte das erste Mal das Gefühl, es sei genau richtig so. Er hörte die Rufe der Dämonen und folgte ihnen. Nein, genauer gesagt, folgten die Dämonen ihm. Sie nahmen ihn bei der Hand und holten ihn zu sich. Sie wussten nicht, was sie sich damit antaten.
Murgon kehrte in die Gegenwart zurück. Sollte sein Leben eine Ansammlung von Nutzlosigkeit sein?
Letzte Erinnerungsfunken schickten Bilder, in denen er sich erkannte. Wie er nach Unterwelt gelangt war. Wie er getrauert hatte. Wie er von Gwenael erfuhr, dass man Katraana einer tiefen Verinnerlichung unterzogen hatte, damit sie ihn vergaß.
Bis heute wusste die Elfe nicht, dass Feiniel ihr Vater war.
Dass Murgon, der Lord von Unterwelt, ihr Vater war.
Für sie war er ein böser Elf, ein Monster!
So hatte man sie erzogen.
Dahinter steckte Methode.
Und es entbehrte nicht einer gewissen Logik, dass man ausgerechnet sie auf ihn angesetzt hatte. Hoffte man, er würde gegen seine eigene Tochter nicht aufbegehren?
Ein grausamer Plan.
Katraana durfte niemals den Weg nach Unterwelt finden. Das musste mit allen Mitteln verhindert werden. Durch den Mahlstrom konnte nur gehen, wer von Dämonen geholt wurde. Hier bestand keine Gefahr. Also galt es, den geheimen Übergang zu finden. Nur dann konnte er versperrt werden.
Murgon konzentrierte sich erneut auf seine Schwester, die ihn atemlos anblickte und auf die Dokks. Er musste den Ort finden, wo das Schiff gestanden hatte. Er musste.
»Streng dich an, Gwenael. Wo war das Schiff? Wenn du es gesehen hast, wirst du es wiederfinden! Wo ist Dogdan? Wo befinden sich die Flüchtenden?«, murmelte er.
Sie lächelte. »Erneut die Erinnerung? Wiederum so quälend?«
Er stutzte. Ach – das meinte sie. »Ja«, seufzte er. »Katraana. Mein Vater.«
Ihr ausgestreckter Zeigefinger fuhr auf ihn zu. Er schreckte zurück, doch sie schüttelte sanft den Kopf. Mit ihrer Fingerspitze tupfte sie eine Träne weg.